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‚Sachverhalte‘ ben Ergebnisse von Bedeutungs-Zuweisung

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Aus heutiger, bedeutungstheoretischer Sicht ist dabei zu Bedenken zu geben, dass hier sprachlich Unterschiedliches in eins gesetzt wurde: Nicht der musikwissenschaftlichen Forschung und der Musikdidaktik geht es um etwas, sondern den Menschen, die Forschung unter bestimmten Aspekten betreiben. Erst die Reflexion dieser Aspekte ermöglicht es, die Ergebnisse zu Forschungsdisziplinen zusammenzufassen. Zu unterscheiden ist aber zwischen Handlungen und Absichten von Menschen und inhaltlich konturierten und zu Wissenschaften zusammenfassbaren Ergebnissen. Dasselbe gilt für Musik. Musik kann nicht „ihr Recht beanspruchen“; wohl aber können Menschen, die mit Musik umgehen, unter gewissen Bedingungen ein Recht auf Beachtung, Respekt und Akzeptanz erwarten. Ähnlich verhält es sich mit der Rede vom „musikalischen Sachverhalt“. Nicht die Sache verhält sich; vielmehr wird einem Phänomen, einer Wahrnehmung, eine Eigenschaft zugeschrieben, die erst aus dem menschlichen Akt der Deutung und Interpretation hervorgegangen ist (vgl. dazu Schatt, 2008a).

In die Nähe der Position Kaisers und Noltes zum Verhältnis zwischen Musikpädagogik und Musikdidaktik kommen Ausführungen von Sigrid AbelStruth. Bereits 1975 schrieb sie:

„In der Gegenwart ist umgangssprachlich Musikpädagogik als Oberbegriff üblich (auch die ganze Praxis einbeziehend); im fachsprachlichen Gebrauch wird Musikpädagogik i. w. S. als Oberbegriffvon Musikdidaktik und Musikpädagogik i. e. S. verwendet. Die Musikdidaktik oder Fachdidaktik Musik lehrt das Musik-Lehren und -Lernen unter dem Aspekt von Unterricht; ihre Forschungsbereiche sind mit Schwerpunkt Unterricht und Curriculum. […] [Daneben gibt es] ein Lehr- und Forschungsgebiet Musikpädagogik. Dieses erforscht und sichert die Grundlagen, die der Musikdidaktik begründbare und kontrollierbare Entscheidungen möglich machen und entwickelt eine historisch weiter reichende Theorie des Musik-Lernens, […] die – in Korrespondenz mit musikpädagogischer Grundlagenforschung – die Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Musik-Lernens klärt und ordnet […]“ (Abel-Struth, 1975, S. 18f.).

Ergebnisse des letztgenannten Nachdenkens schlagen sich im Gebrauch einschlägiger Begriffe z.B. in den Bezeichnungen musikpädagogischer Prinzipien oder musikpädagogischer Konzeptionen nieder. Eine wichtige Aufgabe der Musikpädagogik – und nicht der Musikdidaktik (Lehmann-Wermser, 2016, S. 9) ist es, Differenzen diesen Sprachgebrauchs nachzugehen und ihre Ursachen aufzudecken, um für Andere Klarheit zu schaffen.

Werner Jank hat Musikdidaktik treffend als „Handlungswissenschaft“ bezeichnet (Jank, 2005, S. 11). Analyse von Unterricht gehört insoweit zu ihren Aufgaben, als diese sich auf konkrete unterrichtliche Handlungen bezieht. Insoweit sich die Analyse allerdings auf tiefer- bzw. weitergehende Fragestellungen wie z.B. unterrichtsbezogene Einstellungen, Befindlichkeiten, Haltungen, Ergebnisse oder Relevanz richtet, ist sie Sache empirischer Forschung und damit der Musikpädagogik.

Vergegenwärtigen wir uns die Tragweite dieser Bestimmung an einem Beispiel. Musiklehrer A hat die Komposition Ondine von Maurice Ravel kennengelernt. Er hat sich über die Entstehungsgeschichte und den Kontext informiert: Er weiß, dass das Stück zu einer größeren Gruppe von Werken gehört, die Gaspard de la nuit heißt, kennt das Märchen von Undine. Er ist sich über die Form des Stückes und dessen ‚Geformtheit‘ im Klaren und kann die Art und Weise beschreiben, wie Letztere sich auf einige Gegebenheiten des Märcheninhalts und der Märchenintention bezieht: Er kann die Weise, wie Ravel auf die Rezeptionsfähigkeit durch Nutzung des Verwischungseffekts und auf die Rezeptionsgewohnheiten durch Gebrauch ungewöhnlicher Tonkonstellationen rekurriert, als Ergebnis der Absicht beschreiben, einerseits Bewegung im Wasser, in dem alles im Wortsinne ‚verschwimmt‘, zu vergegenwärtigen, andererseits eine träumerische Haltung zu ermöglichen, die dem Märchenhaften des Inhalts gerecht wird. Er findet, dass die Darstellung dieser Zusammenhänge in seiner 12. Klasse durchaus am Platze ist, da dort Werke des 20. Jahrhunderts behandelt werden. Und vielleicht hat er sogar das Stück geübt und sich in die Lage versetzt, es seiner Klasse angemessen – d.h. fehlerfrei, ausdrucksvoll und stilgerecht – vorzuspielen.

Musiklehrer A hat weder musikpädagogisch noch musikdidaktisch gedacht. Er hat zwar über einen Sachverhalt nachgedacht, der didaktisch genannt werden könnte, nämlich, dass es 1. der Sinn der Komposition sei, auf etwas außer ihr Liegendes zu verweisen und 2. eine bestimmte Rezeptionshaltung nahezulegen. Dieser Aspekt wird aber nicht aus didaktischer Sicht thematisch, sondern als Implikation der Musik. Musiklehrer A hat musikwissenschaftlich unter Heranziehung musiktheoretisch und musikpsychologisch erfasster Sachverhalte gedacht.

Musiklehrer B hat dasselbe Werk gehört. Er fragt sich, ob und in welcher Weise er es in seinem Unterricht in der 12. Klasse, in dem das Thema „Musik und Rationalität“ verhandelt wird, einbringen soll. Da an dem Stück deutlich wird, wie ein Komponist in musikalisch sehr genau durchkalkulierter Weise einen irrationalen Stoff zum Tragen kommen lässt, bejaht er die Frage. Er fragt weiter, welche der Phänomene der Komposition deutlich gemacht werden müssen, um dies zur Geltung zu bringen. Muss man das Stück hören? Muss man die Noten einsehen? Was ist an den Noten zu erarbeiten, in welches Verhältnis ist dies zum Höreindruck zu setzen? Auch die ersten beiden Fragen bejaht er, da die Schüler*innen erkennen sollen, dass und durch welche Maßnahmen der Höreindruck ein ganz anderer ist als das Notenbild: Während sich dort Unklarheit und Verschwommenheit einstellen, wird hier eine strenge Formung mit Repetitionsfiguren deutlich – Figuren freilich, die in ihrer Rhythmik nicht mit der tradierten Quadratmetrik konform sind. Musiklehrer B stellt also dasselbe fest wie Musiklehrer A. Sein Denken ist aber didaktisch zu nennen, weil es von vornherein auf die Inhalte und Wege und darüber hinaus auf die Weisen der Erkenntnis, der Einsicht, des Lernens Anderer – seiner Schüler*innen – gerichtet ist. Dies gilt auch, wenn die Antworten auf zentrale didaktische Fragen stillschweigend unterstellt werden – z.B. die Frage, ob es richtig und wichtig ist, gerade dieses Stück auszuwählen und ob und in welcher Hinsicht das an diesem Stück zu Gewinnende zur Förderung der Schüler*innen beiträgt. Ferner hätte musikdidaktisches Fragen sich darauf richten können, was denn gefördert wird: die Fähigkeit im Notenlesen, die Fähigkeit zur musikalischen Analyse, musikologisches Wissen, die Fähigkeit zur Selbsterfahrung, zur kontemplativen Versenkung in einen musikalischen Verlauf usw.

Das Denken des Lehrers B kann im umgangssprachlichen Sinne musikpädagogisch genannt werden, da es auf Unterricht im Fach Musik gerichtet ist. Es ist auch musikpädagogisch im fachsprachlichen Sinne, da es die Frage nach Inhalten und Weisen von Lehren und Lernen im unterrichtlichen Zusammenhang mit Blick auf musikalische Phänomene aufgreift. Es ist aber nicht musikpädagogisch im engeren Sinne. Vielmehr sind stillschweigend Komponenten bzw. Aspekte des Unterrichts, über die hätte nachgedacht werden können, vorausgesetzt worden, z.B.: Welche Vorgänge müssen vollzogen werden, damit Schüler*innen zu den genannten Einsichten kommen? Welche Alternativen sind denkbar und möglicherweise sinnvoll? Welche Funktion hat die bisherige Erfahrung der Schüler*innen mit Musik bei der Entstehung des „Höreindrucks“? In welchem Verhältnis steht das Verständnis der Kompositionstechnik und des „Programms“ zu der gefühlsmäßigen Berührtheit der Schüler*in-nen?

Zusammenfassend können wir feststellen:

Einführung in die Musikpädagogik

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