Читать книгу Einführung in die Musikpädagogik - Peter W. Schatt - Страница 35
Bezugswissenschaften
ОглавлениеBereits eine solche Fragestellung, bei der es um das fundamentale Problem der Herkunft und Eigenart des Wissens, der Erkenntnis, der Erfahrung geht, die eine Wissenschaft konstituieren, berührt eine wissenschaftliche Disziplin, die für musikpädagogisches Denken in mehrfacher Hinsicht wegweisend ist: die Philosophie. Nicht nur öffnet sich mit der Frage nach dem disziplinären Selbstverständnis das philosophische Teilgebiet der Wissenschaftstheorie, sondern von philosophischem Denken ist auch jener Bereich der Musikpädagogik geprägt, der als ‚philosophy of musical education‘ bezeichnet wird. In dieser Formatierung fragt sie u.a. nicht nur nach ihrem Selbstverständnis, sondern entlehnt von der Philosophie auch Denkweisen, mit deren Hilfe Kultur schlechthin beschrieben sowie die Position, Haltung und Funktion des Menschen bei deren Genesis, Erhaltung und Entwicklung herausgestellt werden kann. Auf diesem Wege modifizierte sich die Selbsteinschätzung von Musikpädagogik zu der Idee, sie sei selbst eine „kritische Kulturwissenschaft“ (Vogt, 2006; 2014).
In der Bezugnahme auf Philosophie kommt ferner deren Teilgebiet der Ästhetik zur Geltung, wenn die Frage nach der Eigenart von Musik beantwortet werden soll. Bei deren Auslegung sowie auch bei der Sachanalyse, die in musikdidaktischer Hinsicht ausschlaggebend ist, werden unterschiedliche philosophische Positionen wie Hermeneutik, Phänomenologie und Konstruktivismus in Anschlag gebracht. Insgesamt sind Einsichten der Philosophie für musikpädagogisches Denken maßgeblich, weil mit ihnen dessen theoretische Grundlegung reflektiert wird.
Um die anderen Referenzwissenschaften – und später die Art und Weise der Verknüpfung mit ihnen – in den Blick gelangen zu lassen, wenden wir uns den Gegenständen zu, durch die Musikpädagogik mit ihnen verbunden ist.
1985 erschien mit dem Grundriß der Musikpädagogik von Sigrid AbelStruth gleichsam die Inkunabel moderner wissenschaftlicher Musikpädagogik. Das Werk ist zum einen ein groß angelegter Forschungsbericht, in dem die Ergebnisse musikpädagogisch motivierten Nachdenkens zusammengefasst sind; zum anderen entfaltet Abel-Struth in ihrer Zusammenfassung eine Systematik, die als Ergebnis ihres Nachdenkens über die Gegenstände musikpädagogischen Denkens erscheint: Musik-Lernen, Musik-Lehren und Musikunterricht.
Einsichten und Forschungsperspektiven zum Musik-Lernen werden unter drei Aspekten dargestellt: Bedingungen des Musik-Lernens, musikbezogene Lernvorgänge und Ergebnisse des Musik-Lernens.
Das Kapitel, das sich mit den Bedingungen des Musik-Lernens befasst, berührt mehrere Nachbarwissenschaften:
1.Unter „Bedingungen musikalischen Lernens aus Grundtendenzen menschlichen Umganges mit Musik“ wird auf Einsichten aus der MusikEthnologie (heute sprechen wir von Ethnomusikologie) sowie der MusikAnthropologie verwiesen. Im Kontext der Erkenntnisse dieser Wissenschaften erscheint die menschliche Existenz selbst – die Tatsache des Inder-Welt-Seins – schon als Grundlage dafür auszureichen, dass der Mensch sich mit Musik befasst. Diese bei jedem Menschen zu beobachtende – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – Grundtendenz korrespondiert offenbar dergestalt mit musikalischem Lernen, dass sie zu dessen Bedingungen gehört: Menschsein selbst erscheint als Bedingung dafür, dass der Mensch Musik lernen kann und lernen will. In der Tat wird dies von neueren Forschungen zum menschlichen Denken bestätigt (Konstruktivismus, Kognitionspsychologie), indem sie Gemeinsamkeiten von allen den Denkprozessen zugrunde liegenden Mechanismen aufzeigen. Die genannte Überzeugung der Anthropologie fungiert, wenn es um die Frage geht, warum der Mensch Musik lernen soll, als „anthroplogisches Paradigma“ im Rahmen der Begründungsmuster für Musikpädagogik überhaupt (vgl. S. 40 in diesem Band), während die Ethnomusikologie insbesondere als Referenzwissenschaft erscheint, wenn es um Fragen kulturübergreifenden Unterrichts geht.
2.Die menschliche Fähigkeit, Musik zu lernen, ist unterschiedlich ausgeprägt. Die Unterschiede der Ausprägung werden mit dem Begriff Begabung erfasst. Die Erforschung dieses Phänomens ist Anliegen psychologischer Forschung, und in diesem Fall – da es um musikbezogene Begabung geht – der Musikpsychologie. Nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Bereitschaft des Menschen, Musik zu lernen, ist unterschiedlich entwickelt. Dieser Frage widmet sich die Musikpsychologie, indem sie die Motivation untersucht. Desgleichen erforscht sie, wer aus welchen Gründen welche dauerhaften musikalischen Vorlieben – sogenannte Präferenzen herausbildet. Eines der musikpädagogischen Probleme besteht darin – ebenso wie in Hinsicht aufBegabung –, unter welchen Umständen, in welcher Weise und in welchem Maße darauf zu reagieren ist. Ferner hat sich die Musikpsychologie durch empirische Forschung damit beschäftigt, inwiefern die Fähigkeit musikalischen Lernens vom Alter abhängt. Dazu gehört insbesondere die Frage, der sich auch die Entwicklungspsychologie zuwendet, welche musikalischen Inhalte in welchem Alter erschlossen werden können: Wann können Töne voneinander unterschieden werden, wann werden Zusammenklänge unterschieden und wiedererkannt und wann ist das Gedächtnis in der Lage, über längere Zeit musikalische Gestalten bzw. längere musikalische Gestalten zu erinnern, so dass größere Formverläufe überblickt werden können?
3.Mit der Überlegung nach dem Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Intelligenz als Bedingung für musikalisches Lernen gerät nach Abel-Struth die Musikpädagogik außer mit der Psychologie auch mit der Soziologie in Kontakt. Ihr ist die Musikpädagogik indessen weit darüber hinaus in einem fundamentalen Sinne verpflichtet insofern, als es ihr um Eigenarten menschlichen Miteinanders – freilich im Zusammenhang mit Musikgeht. Dabei werden nicht nur Kommunikations- und Interaktionstheorie bemüht, sondern auch jene – neuere – Richtung, die sich weniger interpretativ auf die Wechselwirkungen zwischen sozialen und individuellen Momenten des Menschen richtet als vielmehr beobachtend und deutend dessen Praktiken in Anbindung an die materiale Welt in den Blick nimmt. Im Rahmen solcher Interessen der Praxeologie wurde seit einiger Zeit die Soziologie anstelle der Psychologie zur leitenden Referenzwissenschaft musikpädagogischen Forschens. Grundsätzlich liegt es nahe, dass empirische Forschung in der Musikpädagogik auf das Methodenrepertoire der empirischen Sozialforschung rekurriert, da in beiden Bereichen u.a. nach der sozialen Interaktion sowie deren Bedingungen und Auswirkungen gefragt wird. Durch die unausweichliche Frage, welche Rolle dabei die Perspektive der forschenden Person spielt, ergeben sich weitere Berührungspunkte mit der Ethnologie.
4.In einem weiteren Kapitel wird im Grundriß nach „Lernbedingungen im musikalischen Material“ gefragt (Abel-Struth, 1985, S. 184). Von hier aus ergeben sich Beziehungen zumindest zur Musiktheorie, der ja auferlegt ist, musikalisches Material zu bestimmen und zu ordnen. In dem Maße, wie die Beschreibung dieser Ordnungen – z.B. als Form, Struktur oder Gattung – Anliegen der Musikwissenschaft ist, hat das musikpädagogische Denken sich zumindest der Ergebnisse dieser Disziplinen zu vergewissern, um ein eigenes Forschungsanliegen, vor allem aber auch um eigene Ideen für Musikunterricht konzipieren, formulieren und strukturieren zukönnen. Dies gilt insbesondere, wenn es darum gehen soll, Musik nicht nur zu rezipieren, sondern vor allem selbst zu produzieren.
Was hier am Beispiel der „Bedingungen des Musik-Lernens“ nach Abel-Struth herausgestellt wurde, gilt auch für alle anderen Bereiche musikpädagogischen Nachdenkens. Teilweise sind es dieselben Disziplinen, auf die in anderen Feldern musikpädagogischer Reflexion zurückgegriffen wird, teilweise aber auch ganz andere. Zunächst sollen weitere Disziplinen, deren Methoden in musikpädagogischem Interesse anzuwenden sind, auf deren Ergebnisse musikpädagogisches Denken zurückgreifen kann oder die unter dem Einfluss musikpädagogischer Fragestellungen zu modifizieren sind, im Zusammenhang mit Abel-Struths Kapitel über musikbezogene Lernvorgänge benannt werden.