Читать книгу Mehr recht als billig - Kriminalroman - Peter Werkstätter - Страница 10
ОглавлениеUnser Leben ist das Produkt unserer Gedanken
(Marcus Aurelius)
Silvesterabend. Die gemeinsamen Silvesterfeiern der Kirchhoffs mit zwei befreundeten Ehepaaren konnte man nach nunmehr 23 Jahren mit Fug und Recht in die Kategorie „gute Tradition“ einordnen. Sie trafen sich alternierend in der Nähe ihrer Wohnorte, und dem jeweils dort beheimateten Ehepaar oblag die mehr oder weniger dankbare Aufgabe der Vorbereitung und Auswahl der Location.
Die Freundschaft war aus einem Lehrgang heraus entstanden, der die drei ausgebildeten Ingenieure Peter, Manfred und Gunter vor nahezu zweieinhalb Jahrzehnten im fränkischen Nürnberg zusammenführte. Da die Eingliederung Frankens in das Königreich Bayern bereits im frühen 19. Jahrhundert begann, hatten die Freunde es diesmal „hochherrschaftlich geduldet“, dass der in Ansbach beheimatete Manfred als diesjähriger Organisator der gemeinsamen Feier, den Ort des Treffens nach Bayern verlegen durfte. Die Wahl war auf Regensburg in der Oberpfalz gefallen. Das war für Peter nebst Jenny und auch für den in Dresden wohnenden Gunter mit Ehefrau Anke problemlos machbar, zumal auch in diesem Jahr der Schnee noch auf sich warten ließ.
Manfred hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Nachdem sie in einem kleinen aber urigen Hotel in der Altstadt eingecheckt und sich ein wenig für die kommenden Stunden frisch gemacht hatten, gingen sie gemeinsam und gut gelaunt zu einer Anlegestelle, wo bereits ein hell erleuchtetes Salonschiff der Regensburger Kristallflotte auf seine Gäste wartete. Die Freunde waren sofort dabei gewesen, den diesjährigen Jahreswechsel im Stil einer Silvestergala auf der Donau zu erleben.
Ihnen wurde durch das Bordpersonal ein Tisch im zweiten Oberdeck, direkt an einem der begehrten Panoramafenster, zugewiesen. Der Platz war optimal, zumal auch Life-Musik, Tanzfläche und Getränkebar auf diesem Deck verortet waren. Nachdem sich die Freunde platziert hatten, wurde auch schon der Begrüßungscocktail gereicht. Es war ein optisch schwer definierbares, exotisches Getränk – aber es schmeckte wesentlich besser, als es aussah. Auch schien dessen Alkoholgehalt der seemännischen Umgebung angepasst worden zu sein, denn bereits nach wenigen Schlucken hatte die Stimmung Hochform erreicht. Gesprächsstoff gab es auch viel, man hatte sich schließlich vor sechs Monaten das letzte Mal gesehen.
Die langjährige Freundschaft der drei Paare wurde am 40. Geburtstag von Peter Kirchhoff während ihres gemeinsamen Zusatzstudiums begründet. Er hatte damals seine zwölf Kommilitonen, die allesamt gute Ingenieure waren, aber aus unterschiedlichsten Gründen betriebswirtschaftliche Kenntnislücken aufwiesen, in eine der zahlreichen Studentenkneipen eingeladen. Natürlich war auch seine Frau Jenny mit dabei, die ganz froh war, dass wenigstens die Lehrgangsleiterin die Gespräche ab und zu in verständliche Bahnen lenkte. Zu solchen Anlässen und ganz besonders zu fortgeschrittener Stunde entwickelt man in aller Regel ein gutes Gespür, zwischen welchen Personen „die Chemie besonders stimmt“. Damit war der Grundstein für den bis heute andauernden Freundeskreis gelegt. Während des insgesamt fünf Monate andauernden Lehrgangs, der sie in die „dunklen Tiefen“ von Rechnungswesen & Controlling, Projektmanagement, Investitionen, Finanzierung und vielen anderen für ihre späteren Tätigkeiten wichtigen Sachgebiete eintauchen ließ, lernten sich die drei Kommilitonen in Folge auch in Zusammenkünften mit ihren Partnerinnen näher kennen. Und da diese Frauen bis heute – was auch keineswegs selbstverständlich ist – noch immer mit Peter, Manfred und Gunter verheiratet sind, war überhaupt erst dieser nette Abend in eben dieser Besetzung möglich.
Die Silvesternacht verlief erwartungsgemäß sehr harmonisch. Es wurde viel gelacht, außergewöhnlich viel getanzt, wobei sich besonders Peter und Jenny als talentbehaftet entpuppten und auch dem ausgezeichneten Wein wurde reichlich die gebührende Beachtung geschenkt. Sicher empfanden alle die zurückliegenden Stunden auch deshalb als so angenehm, weil sich jeder an sein gegebenes Versprechen gehalten hatte, dienstliche Fragen oder gar Probleme als „no-go“ während der Gespräche auszuklammern. Pünktlich 01.00 Uhr legte das Schiff wieder an.
In der Lobby des Hotels angekommen, überzeugten sich die drei Männer gegenseitig davon, dass noch ein gemeinsamer „Absacker“ unbedingt erforderlich sei, um das neue Jahr gebührend zu begrüßen. Die „Mädels“, wie sie an solchen Abenden gern und liebevoll genannt wurden, winkten lachend ab und begaben sich auf ihre Zimmer. Es war auch bereits 02.15 Uhr und der Tag war lang gewesen.
Bei einem guten Grappa fachsimpelten die Freunde dann doch noch ein wenig.
Gunter hatte vor zirka zwei Jahren eine außerordentlich gut dotierte Tätigkeit als Controller bei einem weltweit agierenden Halbleiterproduzenten in Dresden angetreten. „Eigentlich eine interessante und auch sehr eigenverantwortliche Arbeit, die ich zu erledigen habe. Leider kommt aber seit einiger Zeit die typisch amerikanische Unternehmenskultur, die offenbar der Eigentümer einfordert, spürbar zur Wirkung. So überprüft beispielsweise eine renommierte Dresdner Anwaltskanzlei sporadisch, aber sehr anmaßend verschiedene, in der Regel projektbasierte Vorgänge in der Firma. Dabei gehen die Amerikaner leider häufig davon aus, dass der deutsche Controller ähnlich tickt, wie der gleichlautende, aber ursprünglich als staatlicher Controller für die Verwendung von Staatsausgaben geschaffene, amerikanische Beamte. Das war aber Ende des 18. Jahrhunderts, was die irgendwann realisieren sollten. Die amerikanische Bezeichnung, die mit den Aufgaben des Controllings in Deutschland vergleichbar ist, lautet heute Management Accounting – aber wem sage ich das“, berichtete Gunter spürbar verärgert.
„Damit könnte ich leben“, warf Manfred lachend ein, „ist doch gut, wenn andere deine gut bezahlte Arbeit machen!“
„Das ist nicht der Punkt“, fuhr Gunter unbeirrt fort. „Was mich dabei wirklich ärgert, ist der Sachstand, dass ich, obwohl es mein Aufgabengebiet betriff nicht über den Zweck und die Resultate dieser Recherchen informiert werde. Man behandelt mich in diesen Phasen tatsächlich wie einen externen staatlichen Kontrolleur, der möglichst wenig internes Hintergrundwissen haben sollte. Dabei habe ich das Gefühl, das speziell ein Fachanwalt für Wirtschaftsrecht aus dieser Kanzlei besonders aktiv ist.“
Peter Kirchhoff hatte aufmerksam zugehört und konnte Gunters Verärgerung durchaus verstehen. Dies besonders deshalb, weil er bei seiner kürzlich stattgefundenen Firmenweihnachtsfeier bei Secury Tex von ähnlichen Tendenzen in seinem alten Betrieb erfahren hatte. Hinzu kam, dass der betreffende Plauener Anwalt nicht unbedingt sympathisch auf Peter wirkte. Dieser Volker Selketal, wie er sich ihm vorgestellt hatte, behandelte ihn während der wenigen verbalen Kontakte an diesem Abend eigenartig, er wirkte anmaßend. Irgendetwas tief in Peter Kirchhoffs Inneren machte ihn wachsam. Er konnte es aber nicht einordnen oder begründen.
Es wurden noch zwei oder drei andere Themen „abgearbeitet“ und dann verebbte auch bei den drei Freunden mit zunehmender Geschwindigkeit der Wunsch, die Gespräche fortzuführen. Die natürliche Müdigkeit nach einem langen und mit schönen Erlebnissen gefüllten Tag potenzierte das Schlafbedürfnis durch die Komponente Alkohol um ein Vielfaches. Sie fassten sich beim Aufstehen noch einmal in studentischer Manier an den Schultern, was für einen unbedarften Beobachter auch wie „Unterstützung beim Erheben älterer angetrunkener Männer“ wirken konnte – und verabschiedeten sich herzlich voneinander.
Neujahrsmorgen. Die drei befreundeten Herren waren nur schwer von ihren Frauen aus den Betten zu bekommen, aber letztlich siegte der Wille, nicht das vereinbarte gemeinsame Frühstück um 10.30 Uhr im Hotelrestaurant zu boykottieren. Jenny war wie immer nach langen Nächten schon wieder putzmunter. Bei Peter Kirchhoff verursachten ihre gymnastischen Übungen, die sie wie an jeden Morgen vor dem geöffneten Fenster zelebrierte, bereits beim Zusehen seelische und körperliche Schmerzen. Wie konnte sie nur ihren Kopf so schnell bewegen…
Als er frisch rasiert das Bad verließ, sah die Welt schon viel freundlicher aus.
„Habt ihr gestern noch lange gezecht? Ich habe nichts mehr von deinem Auftauchen mitbekommen“ beantwortete sich Jenny ihre Frage praktisch selbst.
„Nach einem Grappa und einer mehr oder besser weniger konsequenten Einhaltung einer verbalen Geschäftsabstinenz, die wir uns eigentlich selbst auferlegt hatten, wurden wir auch recht schnell müde. Und ja, du hast schon tief und fest geschlafen.“
„Gibt es bei Manfred oder Gunter Neuigkeiten? Anke machte im Fahrstuhl nach oben so eine Bemerkung. Gunter hätte sich in seinem neuen Job zwar gut eingearbeitet, aber er wäre in letzter Zeit manchmal unzufrieden und das läge keineswegs am Gehalt.“
„Ja, offenbar schlägt die amerikanische Unternehmensphilosophie zuweilen, aus Gunters Sicht, zu stark im geschäftlichen Alltag seiner Dresdner Firma durch. Ich kann das gut verstehen und wenn ich ähnliche Tendenzen in meinem Betrieb in Aue erlebt hätte, wäre mir der Abschied leichter gefallen.“
Jenny trat an seine Seite und küsste ihn auf seine Wange. „Ich bin fest davon überzeugt, dass du mit deiner erzgebirgisch korrekten aber auch sturen Arbeitsweise jede amerikanische Heuschrecke in die Flucht gejagt hättest“
Peter lachte zustimmend und beide verließen mit mäßigem Appetit ihr Zimmer. Er ahnte wohl kaum, dass er für Jennys Behauptung bald den Beweis antreten musste.
Dr. Jörg Leifeld saß bereits am 02. Januar des neuen Jahres wieder in seinem Büro und war froh, dass die fetten Tage vorüber waren. Bis auf einen telefonischen Kontakt mit seiner geschiedenen Frau, sie hatten in den fünf Jahren ihres Getrenntseins diese Höflichkeitsgeste beibehalten, waren jegliche familiäre Aktivitäten Fehlanzeige. Kinder waren ihnen in ihrer Ehe nicht vergönnt gewesen oder besser, wie seine Frau gesagt hätte, zum Glück erspart geblieben. Vielleicht war diese Einstellung zu Inhalt, Sinn und Erfüllung einer Ehe auch der Hauptgrund für ihre Trennung nach immerhin neun Ehejahren. Wenn er ehrlich gegenüber sich selbst geurteilt hätte, wäre ein Kinderwunsch auch nicht seine erste Wahl gewesen. Diese Entscheidung seiner Frau zuzuschieben war aber allemal die bequemere Variante.
Seine Eltern waren früh verstorben und da er ein Einzelkind war, hatte er auch keine verwandtschaftliche Verpflichtungen. Er sah das als Segen an, rauschende Familienfeste, wie sie seine Eltern früher in eben dieser prachtvollen Villa, in der er jetzt residierte, abhielten, waren ihm schon immer zuwider. Jörg Leifeld hatte stets das Gefühl, dass den geladenen Gästen in peinlicher und dekadenter Weise ein angeblich ruhmreicher Glanz über der sogenannten besseren Gesellschaft Dresdens als Verdienst der stomatologischen Genialität seines Vaters vorgegaukelt wurde.
Das Alleinsein bereitete dem Staranwalt keinerlei Probleme, wohl aber die Tatsache, dass er noch immer keine Lösung für die Causa „Erpressung Selketal“ hatte. Da Leifeld kaum Kontakt zu seinem Studienfreund hatte, war es nahezu unmöglich, kompromittierende oder anderweitig belastende Informationen über ihn zu erhalten. Mit Lappalien würde er auch nichts erreichen, er müsste schon eine „Granate zünden“ und die sollte dann auch ein Volltreffer sein.
Besonders ärgerte er sich über seinen eigenen dilettantischen Fehler, Volker Selketal die Kaltblütigkeit eines Mitschnittes ihres Gesprächs in dieser Ausnahmesituation des Verkehrsunfalles nicht zugetraut zu haben. Den zweiten Fehler hatte er begangen, als er ihm, wenige Tage nach der verhängnisvollen Nacht, 10000 EUR überwiesen hatte. Volker benötigte das Geld dringend, um zwei Weiterbildungslehrgänge vorzufinanzieren, die er in der Zeit bis zur Urteilsverkündung belegen wollte. Er begründete das damit, dass er zurzeit nicht in der Lage sei, allein in seiner Provinzkanzlei zu sitzen und in seiner Verfassung auch kaum Einnahmen erzielen würde. Leifeld hatte das Geld überwiesen und damit ein Eingeständnis seiner Schuld geliefert – so würde es zumindest jedes Gericht sehen.
Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, er musste „eine Leiche in Selketals Keller“ finden. Und genau das würde ihm nicht von seinem Büro aus gelingen. Beginnen sollte er damit, das berufliche Umfeld und die Arbeitsweise seines ungeliebten Freundes zu beleuchten. Am leichtesten würde er diese Aufgabe bei seinem Dresdner Vertragspartner, dem Chiphersteller, realisieren können. Es gab im Moment keine Folgeaufträge für Volker in diesem Unternehmen und er hatte keinen Ansatz, das zu ändern. Schon morgen wollte er sich dieser Herausforderung stellen.
Wie hatte Herr Hagedorn, der Deutschlandchef des Halbleiterherstellers doch mit gesenkter Stimme in aller Vertraulichkeit zu ihm gesagt: „Es ist Herrn Selketal mit hohem persönlichem Risiko und großem Fingerspitzengefühl gelungen, einen Fehler bei der Abrechnung eines von der Europäischen Union geförderten Projektes auszubügeln. Das Verfahren war aber sehr aufwändig und überhaupt nur möglich, weil ihr Freund, wie sie ja sicher wissen, beste Verbindungen in die zuständigen Ministerien der Landeshauptstadt und nach Brüssel hat. Für seine Empfehlung bin ich ihnen sehr dankbar.“
Nein, er kannte diese „besten Verbindungen“ nicht – noch nicht. Vielleicht war das ein erster Ansatz.