Читать книгу Mehr recht als billig - Kriminalroman - Peter Werkstätter - Страница 5

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Erfolg hat nur, wer etwas tut, während er auf den Erfolg wartet

(Thomas Alva Edison)

Volker Selketal wartete einmal mehr auf Mandantschaft. Seine kleine Kanzlei war zwar gemütlich eingerichtet, ließ aber jegliche Art von professioneller Ausstrahlung anwaltlicher Sachkunde vermissen. Seine Bürohilfe war daran nicht ganz schuldlos. Gestickte Fensterbilder sind zwar typisch für das Vogtland, aber eben unpassend für eine Anwaltskanzlei. Die hoffnungslos veraltete Bürotechnik komplettierte das Gesamtbild eines Provinzbüros mit überschaubaren Referenzen.

Scheidungsprozesse, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verkehrsverstöße und Diebstahlsdelikte waren bisher fast ausschließlich die juristischen Betätigungsfelder von Selketal.

Wenn er damit gut verdient hätte, wäre er vielleicht sogar zufrieden mit seiner Arbeit gewesen. Das war aber nun wirklich nicht der Fall. Sein Honorar reichte kaum für ihn selbst – geschweige denn zum Verwöhnen seiner Freundin.

Er bedauerte das zwar, sah aber den wirklichen Grund für seine ständige Geldnot im kapriziösen Charakter und den übertrieben hohen Lebenserwartungen seiner Partnerin Bettina.

Volker Selketal musste etwas tun, um zumindest den gegenwärtigen Lebensstandard zu halten. Er war überzeugt davon, nur durch das Erbe von seiner Mutter – sie war vor 3 Jahren verstorben – in der Lage gewesen zu sein, das gemeinsame Leben mit Bettina bis heute zu finanzieren.

Der Anwalt ignorierte dabei vollständig, dass seine Freundin über ein eigenes, regelmäßiges Einkommen verfügte und ihn in keiner Weise belastete. Volker Selketal beruhigte mit dieser fiktiven Doppelbelastung lediglich sein Gewissen.

Ansonsten schätzte er die Lage real ein: In spätestens zwei Monaten würde er Insolvenz anmelden müssen – oder zumindest in einem ersten Schritt seiner Bürohilfe Mandy kündigen.

Das Bekanntwerden dieser wirtschaftlichen Schräglage, dürfte in seinem Umfeld, dem vogtländischen Lützengrün, zwangsläufig das berufliche Ende für ihn bedeuten. Auch ein persönliches Desaster stand ihm bevor, wie er glaubte. Er unterstellte Bettina konsequent, sie würde sich mit einer solchen Situation nicht abfinden können und ihn sicher verlassen wollen. Auch diese Einschätzung erklärte sich mit der Manie des Anwalts, niemals persönliche Verantwortung übernehmen zu müssen.

In diesem Moment klingelte das Telefon und Volker Selketal hoffte spontan auf den großen Auftrag, der alle seine Befürchtungen in weite Ferne verschieben würde. Dass sich mit diesem Anruf vieles in seinem Leben grundlegend verändern sollte, konnte er allerdings nicht im Ansatz erahnen.

Sie war schon ein Blickfang für jeden, nicht völlig desinteressierten – oder gänzlich anders orientierten, Mann. Bettina Doll wusste das natürlich und genoss ihre Ausstrahlung auf die Kunden des renommierten Herrenausstatters „Golden Grip“, den die junge Frau gerade verlassen hatte.

Sie hatte Feierabend und nachdem sie 5h fast ohne Unterbrechung Herrenmode an den Mann – oder auch häufig an die Frau – gebracht hatte, sehnte sie sich danach, jetzt selbst ein wenig verwöhnt oder zumindest freundlich bedient zu werden. Erst wollte sie Volker anrufen, aber er war sicher noch in seinem Büro. Da heute der erste wirklich spürbare Frühlingstag in diesem Jahr die Biergärten und Eisdielen mit Sonne verwöhnte, steuerte sie ihren Lieblingsitaliener an. Sie wollte sich gerade im Freibereich setzen, als ihr Blick auf das gegenüberliegende Reisebüro fiel. Durch einen kleinen Ausschnitt, der zum Großteil mit Sonderangeboten beklebten Scheibe der Reiseecke Böhm, sah sie ihre Freundin, die Inhaberin der Reiseagentur.

Rita schien gerade nicht in Beratung zu sein und so änderte Bettina Doll ihren Plan, einen Eisbecher zu bestellen. Zumindest korrigierte sie die zeitliche Abfolge, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Freundinnen ihren Schwarzwälder Becher von Lucio, dem Pächter des Eiscafes, ins Reisebüro bringen ließen.

Nach einer herzlichen Begrüßung setzten sich die beiden Frauen an einen der zwei Beratungstische der Agentur und befanden sich unmittelbar danach bereits in einem angeregten Gespräch zu nahezu allen Themen, die Familie, Freundeskreis und Weltpolitik so hergaben. Das konnten sie auch ungestört tun, da die Bürger des Vogtlandes an diesem herrlichen Tag offenbar Besseres vorhatten, als sich zu fernen Reisezielen beraten zu lassen.

Rita orderte, wie schon vermutet, zwischenzeitlich zwei Schwarzwälder Eisbecher. Der freundliche Lucio war sehr schnell bei den Freundinnen, nahm sich dann aber viel Zeit beim Servieren. Er fühlte sich sichtlich wohl in der Gegenwart von „Schneeweißchen und Rosenrot“, wie er Rita und Bettina in optischer Anlehnung an das von den Gebrüdern Grimm bekannt gemachte Märchen gern nannte und auch nennen durfte.

Als die jungen Damen wieder unter sich waren, ging das Gespräch unterbrechungsfrei weiter. Als Rita auf den 30. Geburtstag ihrer Freundin zu sprechen kam, trat die einzige kleine Pause ein.

„Daran mag ich noch nicht denken“, sagte Bettina – „obwohl du recht hast. Soviel Zeit bleibt bis zum 12. Januar nächsten Jahres nicht mehr.“

Volker hatte bisher keinen Satz dazu verloren. Vielleicht hat er auch eine Überraschung geplant.

Als ob Rita ihre Gedanken lesen könnte, kam sofort ihr Einwand. „Bei dem Phlegmatismus deines juristischen Provinzgenies darfst du nicht auf Wunder hoffen. Da musst du schon aktiv werden, sonst bekommst du bei einem rauschenden Fest im Iglu deines winterlichen Vorgartens schafwollene Socken geschenkt.“ Bettina hielt das für unfair, obwohl sie auch nicht an eine Überraschung glaubte. Sie mochte es aber nicht, wenn Rita in dieser Weise über Volker urteilte.

„Von den in der antiken Humoralpathologie bekannten vier Temperamenten ziehe ich den Phlegmatiker allemal den Cholerikern, Sanguinikern und Melancholikern vor“, konterte sie deshalb.

Rita lachte schallend los – wurde aber sofort wieder sachlich. Sie schlug Bettina eine Geburtstagsreise vor, die sie nie vergessen würde, wohin ihre Eltern niemals folgen könnten und die ihr im Januar endlich einmal das Gefühl vermitteln würde, nicht in der falschen Jahreszeit auf die Welt gekommen zu sein. Das Wunderreiseziel hieß Vietnam.

Bettina Doll kannte zwar die spontane Verrücktheit ihrer Freundin, aber jetzt überzog sie. „Woher bitte sollen wir die geschätzten 10 TEUR nehmen, die eine solche Reise an das andere Ende der Welt kostet? Volker würde hyperventilieren und ich traue mir einen solch langen Flug auch gar nicht zu.“

„Erstens ist Vietnam nicht ganz am anderen Ende der Welt, sondern in Südostasien, die Reise wäre dank meiner guten Kontakte in dieses zauberhafte Land wesentlich preiswerter als du annimmst, Volker könnte seinen Kindheitstraum, einmal auf einem Elefanten zu reiten, am Lak – See erfüllen und du solltest nichts ablehnen, was du nicht kennst. Einen Flug mit der thailändischen Fluggesellschaft Thai Air hat noch niemand in meinem Reisebüro beanstandet“, erwiderte die Reiseexpertin.

Man musste es Rita schon lassen, sie konnte argumentativ überzeugen. Bettina glaubte ihr aufs Wort, wenn sie jedem der es hören wollte – oder auch nicht hören wollte – sagte, dass nur 10 % ihrer Besucher die Reiseecke Böhm verlassen, ohne gebucht zu haben oder in Bälde buchen.

Als Bettina Doll das Reisebüro verließ, gehörte sie zu den 90 % der Agenturbesucher, die Rita überzeugt hatte. Sie war zwar nachdenklich aber auch zufrieden.

Ihre Freundin hatte eine Reiseroute empfohlen, die einen umfassenden Eindruck von der atemberaubenden Schönheit und der Liebenswürdigkeit Vietnams vermitteln würde. Dabei hatte sie ihren Freund und Kollegen Hung Phan, den Direktor des legendären Hotel Rex in Saigon, fest in die Reiseplanung integriert. Rita würde ihn zu gegebener Zeit bitten, alle Inlandsaktivitäten wie Hotelbuchung, Inlandsflüge und touristische Höhepunkte vor Ort zu organisieren und zu buchen. Hung sei in der Tourismusbranche bestens vernetzt. „Er würde den Gesamtpreis der Reise auf ein schmerzarmes Niveau senken können“, hatte Rita nicht ohne Stolz verkündet. Bettina war sich nur nicht sicher, ob sie beide über die gleiche „Schmerzgrenze“ verfügten.

***

Er nahm den Hörer erst nach dem vierten Klingeln ab – sofortiges Abheben deutete seiner Meinung nach auf eine schlechte Auftragslage hin – und meldete sich mit seinem Namen.

Überraschung, Argwohn und Verunsicherung waren die Begrifflichkeiten, die Volker Selketals Empfindungen wohl am besten beschrieben, als er den Namen am anderen Ende der Leitung hörte. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet der Seminargruppenprimus seiner Studienzeit, Sohn aus bestem Haus, intellektueller Überflieger und heutiger Staranwalt in Dresden, mit ihm – ohne Not – Kontakt aufnimmt. Und Not war nun wirklich etwas, was ein Erfolgsmensch wie Jörg Leifeld nicht kannte.

Dieser Mann hatte es geschafft, sich seit drei Jahren in der Liste der Top Anwälte für Strafrecht zu etablieren und lehnte hochdotierte Partnerschaftsangebote renommierter Anwaltskanzleien ab, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Starthilfe hatte er allerdings insofern erhalten, dass er die Jugendstilvilla seines Vaters geschenkt bekam. Dieser hatte die Räumlichkeiten als Zahnarztpraxis genutzt und in den noblen Kreisen seiner Patienten zu einer bestimmten Bekanntheit führte, was sich auf die Kanzlei übertragen hatte.

Ja, er war tatsächlich am Telefon: sein ehemaliger Kommilitone Dr. Jörg Leifeld.

Jörg hatte offenbar die Verwunderung in Volkers Stimme wahrgenommen, denn er ging ohne große Vorrede sofort in medias res.

„Hast du am kommenden Samstag Zeit und Lust, mit einem alten Freund eine Party zu besuchen und ein paar Kostproben deiner brillanten Kenntnisse als Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht zum Besten zu geben?“, fragte er in fast beiläufigem Ton.

Ja, es stimmte, Selketal hatte vor zwei Jahren, als wieder einmal keine Mandantschaft in Sicht war, Geld und Zeit investiert, um die gerade erst eingeführte Fachanwaltschaft auf diesem Spezialgebiet zu erwerben. Der entsprechende Lehrgang umfasste 150 Stunden und beinhaltete 3 Klausuren. Erst dann erhielt man die Zulassung bei der zuständigen Anwaltskammer und durfte die wohlklingende Berufsbezeichnung „Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht“ führen. Nutzen, in Form von Aufträgen, hatte es bisher nicht gebracht. Größere, global aufgestellte Unternehmen gab es in seinem Kanzleibereich nur in sehr überschaubarer Anzahl, und hätte er diese Berufsbezeichnung an die Scheibe seiner Kanzlei geschrieben, wären Scheidungswillige und Verkehrssünder auch noch ferngeblieben.

Jörg Leifeld deutete das Zögern von Volker Selketal richtig. Er unternahm deshalb sofort den Versuch einer glaubhaften Erklärung für sein Anliegen, wobei er sich weitgehend an die Wahrheit hielt.

„Ein großer, in Dresden ansässiger Konzern, Globalplayer und Weltmarktführer im Elektronikbereich, sucht eine renommierte Anwaltskanzlei für Strafrecht, die aber auch Kompetenzen im internationalen Handels–und Wirtschaftsrecht vorzuweisen hat. Unsere Kanzleien könnten pro forma eine Kooperation eingehen, wobei sich dein Part auf den Bereich Wirtschaft und auf `bei Bedarf` beschränken sollte. Natürlich würden wir ein angemessenes Honorar zahlen“, ergänzte er gönnerhaft.

Was hätte Volker Selketal in seiner Situation anderes tun können, als der Bitte von Jörg Leifeld zu entsprechen.

Dieser reagierte auf die Zusage erleichtert und nachdem sie Ort und Zeit vereinbart hatten, um die gemeinsame Fahrt in das als Partylocation ausgewählte Landhaus in der Dresdner Heide zu starten, verabschiedeten sie sich.

Volker Selketal hatte schon reichlich 120 km Autofahrt hinter sich, als sich die beiden schmiedeeisernen Flügel des reichlich dimensionierten Tores der Jugendstilvilla im noblen Stadtteil Blasewitz für ihn öffneten. Der linkselbisch von Dresden gelegene Villenvorort entstand bereits in der Gründerzeit und derartige Anwesen sorgten zweifellos für den Erhalt des Charmes dieser Periode.

Volkers 9 Jahre alter Jetta passte so gar nicht in den gepflegten Innenhof der Anwaltsvilla. Besonders krass war der Gegensatz zu dem neben seiner Gästestellfläche abgeparkten, basaltschwarzen Porsche Panamera, der offenbar seinem ehemaligen Kommilitonen gehörte. Das war deshalb anzunehmen, weil sich gegenwärtig kein anderes Fahrzeug im Innenhof des Anwesens befand.

Dr. Leifeld stand bereits in der geöffneten Massivholztür seiner Villa, die typisch für den Jugendstil mit einer edlen Zarge umschlossen war. Nach einer kurzen Begrüßung ging er voraus in sein Büro.

Fast wäre Selketal ein überraschtes „wow!“ herausgerutscht, als er die Arbeitsräume des erfolgreichen Anwaltes betrat.

Ein riesiger, in einem polarisierenden Design gestalteter Schreibtisch, dominierte den mittleren Bereich des Büros. Seine weiß abgesetzten und ansonsten in eleganter, schwarzglänzender Klavierlackoptik gehaltenen Rundungen erinnerten in Verbindung mit einer ovalen Arbeitsfläche stark an die Handschrift Luigi Colanis. Da die gesamte Büroausstattung sehr wertig und exklusiv wirkte, war diese Annahme durchaus glaubhaft.

Sie hatten noch genügend Zeit. Die Veranstaltung begann erst in 90 Minuten und es dauerte höchstens eine Viertelstunde bis in die nördliche Dresdner Heide – selbst bei starkem Verkehr am Blauen Wunder. Die Brücke stellte zwar ein Nadelöhr zwischen den beiden Elbufern da, war aber dennoch ein Segen für die Anwohner.

Leifeld nutzte die Zeit, Volker auf Sinn und Nutzen der Party und auf seine Taktik einzunorden. Er wollte seinem Kommilitonen die „Bälle präzise zuspielen“, so dass dieser nur noch logisch und fachlich fundiert reagieren musste. Volker Selketal war in diesem Schauspiel die Rolle eines sehr guten Freundes zugedacht, der, aufgrund seiner Kompetenzen im internationalen Wirtschaftsrecht, in naher Zukunft als Sozius in einer gemeinsamen Anwaltssozietät mit Dr. Leifeld zusammenarbeiten wolle.

20 Minuten vor 19.00 Uhr stiegen sie in Leifelds Panamera und erreichten kurz darauf den reservierten Vorplatz des „Historischen Fischhauses“ in der Dresdner Heide. Trotz des Gardemaßes seines Porsche parkte Dr. Leifeld routiniert und exakt ein.

Der Abend verlief vollständig nach den Plänen des Staranwalts und er war entsprechend gut gelaunt. Dr. Leifeld überredete seinen „besten Freund“ noch zu einem letzten Drink, obwohl es bereits 23.30 Uhr war und beide schon reichlich dem Alkohol zugesprochen hatten. Ihr heimliches Verschwinden würde nicht auffallen, da der Festsaal einen separaten Eingang hatte, der auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes ins Freie führte und somit keine Sicht auf kommende – oder abfahrende Fahrzeuge zuließ. Außerdem befanden sich die Toiletten in Richtung Ausgang, so dass ein zufälliger Beobachter eher einen Besuch dieser Räumlichkeiten vermuten würde, als einen heimlichen Abgang. Beide verließen sie den in der ersten Etage des Traditionsrestaurants gelegenen, famos restaurierten Jugendstilsaal und steuerten den Parkplatz an. Sie erreichten unbemerkt ihr Ziel.

Jörg Leifeld lenkte den Wagen auf die unbefahrene Fischhausstraße. Sie führte das erste Stück durch den Albertpark, der um diese Zeit natürlich menschenleer war. Er beschleunigte den Porsche kaum hörbar in kürzester Zeit auf 80 km/h und suchte per Sprachsteuerung nach einem, zu seiner Hochstimmung passenden, Musiktitel.

Der plötzliche, dumpfe und dennoch laute Aufprall im vorderen Bereich der Fahrerseite ließ beide erstarren. Der Wagen kam sofort zum Stehen.

Die noch im Panamera ausgesprochene Vermutung von Leifeld, ein Wildschwein sei ihm ins Fahrzeug gelaufen, stellte sich in fürchterlicher Weise als Irrtum heraus. Nur wenige Meter vom Wagen entfernt lag ein menschlicher Körper in unnatürlich aussehender Stellung reglos am Boden.

Daneben lag ein Fahrrad, was offenbar dieser Person zuzuordnen war. Die beiden Anwälte beugten sich fast gleichzeitig zu der verunfallten Person hinunter. Es handelte sich um eine Frau, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tot war. So äußerte sich zumindest Leifeld, nachdem er die Halsschlagader vergeblich nach einem Impuls abgetastet hatte.

„Wir müssen sofort Hilfe rufen“, sagte Volker Selketal mit belegter Stimme. Während er die Nummer des Notrufes in sein Mobiltelefon tippte, stellte sich Dr. Leifeld gedanklich auf das jetzt notwendige Gespräch ein. Obwohl er sich auf den Inhalt – ähnlich wie bei seinen Plädoyers – akribisch vorbereitet hatte, galt es jetzt vor allem, das richtige Timbre in seine Stimme zu legen. Er musste überzeugen, ohne erkennbaren Druck auszuüben. Eine kleine und dennoch spürbare Dosis an Hilflosigkeit sollte das Herz des Zuhörers berühren. Und nicht zuletzt bestand die Kunst darin, seinem Gesprächspartner eine solche Chance zu bieten, dass er seine vergleichsweise kleine Bitte nicht abschlagen konnte. Druck, Täuschung und Skrupellosigkeit waren unschlagbare Erfolgsgaranten. Man musste sie nur perfekt beherrschen und anwenden.

Er drehte sich zur Seite, damit Volker Selketal das Lächeln nicht bemerkte, was über sein Gesicht glitt.

Der Albertpark war an der Unfallstelle seit 30 Minuten durch die Scheinwerfer der Spurensicherung von grellem Licht durchflutet. Verstärkt wurde der bizarre, fast surreale Eindruck dieses Parkbereiches durch die pulsierenden Sondersignale von Rettungswagen und Polizei, die alle Gesichter der anwesenden Personen in flackernde, mystische Masken verwandelten.

Während die Spurensicherung ihre Arbeit erledigte, saß Volker Selketal in einem Kleinbus der Polizei und wurde umfänglich zum Hergang des Unfalls befragt. Natürlich war auch sein Alkoholpegel ermittelt worden. Er betrug 0,9 Promille. Die Antworten Selketals auf die routinierten Fragen des ermittelnden Polizeikommissars waren sehr leise und schienen emotionslos, obwohl er sich vermutlich in einem Stresszustand befand, der ihn praktisch paralysierte.

Nach ca. einer Stunde verließ Selketal das Polizeifahrzeug und sah gerade noch einen schwarzen Kombi den Unfallort verlassen. Dessen Heckscheibe war blindverglast und mit einer hellsilberfarbenen Gardine versehen. Die Radfahrerin war tot.

Dr. Leifeld verließ gegen 02.45 Uhr am Morgen die Feier im „Historischen Fischhaus“. Seine, von den Gastgebern georderte Taxe, wartete bereits auf ihn. Er nannte dem Fahrer die Adresse seiner Kanzlei, deren obere Etagen ja gleichzeitig seinen Wohnbereich bildeten.

Als sie den Unfallort passierten, war in der mondlosen dunklen Nacht nahezu nichts mehr von dem Unfall zu erkennen. Lediglich Lagemarkierungen auf dem Fahrweg konnte man im Scheinwerferlicht erkennen.

Zu Hause angekommen ging er in die Diele seines Wohnbereiches. Er schenkte sich ein Glas mit Single Malt Whiskys fast randvoll und setzte sich damit vor den Kamin, der natürlich um diese Zeit längst erloschen war.

Die letzten Stunden musste er noch einmal in Gedanken ablaufen lassen. Das war schon deshalb notwendig, um relativ sicher zu sein, keine Fehler begangen zu haben.

Volker hatte seiner Bitte entsprochen, den Unfall komplett auf seine Kappe zu nehmen. Er vermittelte in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit seinem Kollegen glaubhaft, dass Volker lediglich mit einer Bewährungsstrafe zu rechnen hätte. Bei ihm wäre das anders gelaufen. Er hatte überzeugend behauptet, vor weniger als einem Jahr zu einer Bewährungsstrafe wegen Herbeiführens eines Verkehrsunfalles unter Alkoholeinfluss und anschließenden unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt worden zu sein.

Die heutige Alkoholfahrt mit Todesfolge hätte sicher eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung nach sich gezogen. Auf die Folgen für sein anwaltliches Renommee und den eventuellen Entzug seiner Zulassung durch die Anwaltskammer hatte er Volker Selketal gar nicht hinweisen müssen – das wusste der selbst.

Ausschlaggebend für Selketals Einwilligung, die Schuld für den Unfall auf sich zu nehmen, war aber mit Sicherheit der enorme finanzielle Druck, der auf ihm lastete. Am Ende schienen bei Volker die in Aussicht gestellten, großzügigen Honorare durch die künftige Zusammenarbeit mit seiner Dresdner Kanzlei schwerer zu wiegen, als die Strafe, die ihn zweifellos erwartete.

Nach der Unterredung mit Volker Selketal war er unbemerkt von bekannten Personen durch den separaten Saalzugang wieder im Fischhaus eingetroffen. Auf dem kurzen Weg vom Unfallort zur Veranstaltungsstätte war ihm niemand begegnet.

Bevor er den Jugendstilsaal betrat, machte er sich auf der Toilette noch ein wenig frisch. Dann ging der Anwalt mit ordentlich gekämmten Haaren und den typisch vom Körper abgespreizten und leicht schüttelnden Händen, um den Trocknungsprozess nach dem Toilettengang zu beschleunigen, in den Festsaal.

In Folge suchte er regelrecht nach Mitgliedern von Geschäftsführung und Vorstand der von ihm umworbenen Firma. Es gelang ihm tatsächlich, den Vorstandsvorsitzenden und den kaufmännischen Prokuristen des Dresdner Chipherstellers an die Bar zu locken. Die erhoffte Frage, wo denn sein Freund und Kollege sei, beantwortete er prompt und schaffte sich damit für alle Fälle ein Alibi. „Er muss morgen zeitig ins Vogtland zurück und ist deshalb mit meinem Wagen voraus zu mir gefahren. Herr Selketal wird wohl bereits schlafen.“

Wie als Bestätigung der vorangegangenen Sätze schloss er eine Bitte an: „Ist es vielleicht möglich, dass ihre nette Mitarbeiterin am Empfang zu später Stunde ein Taxi für mich bestellt?“

Dem Wunsch wurde natürlich entsprochen und während eines gelösten Smalltalks an der Bar hatte Leifeld noch andere Gesprächspartner kennengelernt. Er war sich jetzt sicher, bei Notwendigkeit seine durchgängige Anwesenheit in den Räumen des „Historischen Fischhauses“ nachweisen zu können.

Nein, er hatte keinen Fehler begangen.

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