Читать книгу Mehr recht als billig - Kriminalroman - Peter Werkstätter - Страница 13

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Das Schlimmste in allen ist die Unentschlossenheit

(Napoleon)

Dr. Jörg Leifeld hatte soeben das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr verlassen, als sein Mobiltelefon klingelte. Da ein Parken nahe des SMWA in der Dresdner Wilhelm–Buck–Straße nur selten möglich ist, musste er das Gespräch auf dem Weg zu seinem Fahrzeug führen.

Dennoch hellte sich seine Miene zusehends auf. Nach 5 Minuten beendete der Anwalt das Gespräch, ohne – mit Ausnahme eines „Dankeschön“ – irgendetwas gesagt zu haben.

Er hatte im Ministerium einen alten Bekannten besucht, der ihm als einzig möglicher Unterstützer bei seiner Suche nach einer „Falltür“ für seinen erpresserischen Freund Selketal in den Sinn gekommen war. Dr. Leifeld hatte den Referatsleiter vor vielen Jahren in einem Zivilrechtsprozess vertreten. Der Rechtsstreit war zugunsten seines Mandanten entschieden worden, was für die berufliche Karriere des damaligen Absolventen der Beamtenfachhochschule in Meißen von immenser Bedeutung war. Der Anwalt hatte diesen Sachverhalt selbstverständlich mit keiner Bemerkung erwähnt. Er war ausschließlich als Rechtsbeistand des Dresdner Chipherstellers angemeldet, den er zurzeit juristisch beriet.

Der Referatsleiter hatte nach der Begrüßung die damalige gute Arbeit des Anwaltes in diesem, immerhin 5 Monate andauernden Rechtsstreites kurz angesprochen. Er tat das aber nur, um nochmals seine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen. Immerhin hatte sich in dieser Zeit ein vertrauensvolles, fast freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden entwickelt. Der Ministerialrat, wie er sich nicht ohne Stolz nannte, leitete das Referat „Verwaltungsbehörde Europäischer Sozialfonds“.

Leifeld hatte sich lange überlegt, welche Strategie er wählen wollte. Letztlich entschied er sich für eine passive, weil unverfängliche Variante.

„Ich weiß gar nicht, ob ich bei ihnen überhaupt an der richtigen Stelle bin“, fand er einen nicht sonderlich originellen, aber durchaus glaubhaften Einstieg in das Gespräch. Er beschrieb in Folge sein Aufgabenfeld bei seinem Arbeitgeber, wobei er ausdrücklich betonte über keinerlei Kenntnisse in der Halbleiterproduktion zu verfügen. „Lediglich die juristische Beratung im Rahmen von Projekten, die außerhalb der normalen betrieblichen Abläufe bearbeitet werden, ist mein Aufgabenfeld. Da diesbezüglich künftig auch Themen in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Partnern meines Auftraggebers zu erwarten sind und ich noch wenig Erfahrung, vor allem bei der Verwendung von Fördermitteln habe, wäre für mich ein kompetenter Ansprechpartner Gold wert, der mir ab und zu eine kurze telefonische Auskunft geben könnte. Natürlich würde ich das nur in seltenen Fällen in Anspruch nehmen. Es gäbe mir aber eine gewisse Sicherheit, Fehler in diesem sensiblen Aufgabenfeld weitgehend zu vermeiden.“

Der beamtete Referatsleiter konnte dieses Ansinnen gut verstehen und schien sogar ein wenig geschmeichelt zu sein, dass sich der, als Staranwalt in Dresden bekannte, Dr. Leifeld an ihn wandte.

Er sagte auch sofort zu – natürlich nicht, ohne auf seine Schweigepflicht in manchen hausinternen Bereichen hinzuweisen.

Ein Teilziel hatte der Anwalt damit erreicht, aber das war nur Mittel zum Zweck. Die eigentliche „Kröte“ musste der Beamte im zweiten Schritt „schlucken“. Das Problem dabei war, ihm den Lurch so aufzubereiten, dass er bei dessen „Verzehr“ nichts merkte.

„Es ist ja offenbar auch für das Unternehmen Neuland, sich in Förderprojekte einzubringen. Zumindest habe ich in der begrenzten Zeit, die mir für betriebliche Recherchen zur Verfügung standen, leider noch nichts dergleichen in den Unterlagen des Chipherstellers gefunden. Es würde natürlich für meine Einarbeitung in solch komplexe Vorgänge sehr hilfreich sein, wenn schon ähnliche Projekte beantragt, bearbeitet und vor allem abgerechnet worden wären. Aber leider…“, resümierte Dr. Leifeld und trank den Rest seines Kaffees aus.

Der Ministerialrat nickte verständnisvoll und lehnte sich dann nachdenklich zurück. Dann beugte er sich noch einmal über die Vollmacht des Chipherstellers, die Leifeld zu seiner Legitimation vorgelegt hatte und las die vollständige Firmenbezeichnung darauf nochmals durch. „Ich kann mich natürlich täuschen, glaube aber, bereits förderrelevante Vorgänge für diese Firma unterzeichnet zu haben.“

Der Anwalt musste sich sehr disziplinieren, um nicht nähere Informationen zu erbitten. „Na, da finde ich vielleicht doch noch ein Beispielprojekt, was meine künftige Arbeit erleichtern hilft“, entgegnete Leifeld hörbar resigniert und bedankte sich sehr herzlich für die angebotene Unterstützung bei dem Ministerialrat. „Das ist sehr nett von ihnen und bei ihrer eng bemessenen Zeit werde ich sicher nur anrufen, wenn mir sonst niemand weiterhelfen kann.“

Der Inhalt des Telefonates auf der Straße bescherte Dr. Leifeld einen ersten, wenn auch noch vagen Hinweis auf eine möglicherweise unkorrekte Vorgehensweise von Volker bei der Beratungstätigkeit seines Dresdner Auftraggebers. Sein bekannter Referatsleiter hatte, wie er sagte „des Anwalts Sorge erkannt, Neuland in der Firma zu beschreiten und deshalb wenig Unterstützung zu erfahren.“

Er hatte umgehend, was bei der geordneten Aktenlage in seinem Haus nur zweier Mausklicks bedurfte, in seinem Computer die Unternehmensvorgänge gefunden. Es existierten bereits zwei vollständig bearbeitete und abgerechnete Projekte zu geförderten Weiterbildungsmaßnahmen aus Mitteln des ESF. Er habe sich auch die Verwendungsnachweise angesehen, die korrekt erarbeitet und demzufolge auch ohne Beanstandung oder Auflagen ihren Prüfnachweis erhalten hatten. „Sie können diese Vorgänge beruhigt exemplarisch bei ähnlichen Projekten verwenden“ fügte er ungefragt hinzu. Dieser ersten Spur würde der Anwalt gewissenhaft folgen.

Es war Ende Januar und der Winter war mit Ausnahme der Kammregionen in den sächsischen Mittelgebirgen noch nicht spürbar in Erscheinung getreten. Bettina und Volker hatten sich wieder klimatisiert und die Herausforderung von 20–25 Grad Temperaturunterschied zu ihren südostasiatischen Urlaubsregionen gemeistert. Sie waren auch froh, die klimatischen Veränderungen und die teilweise unangenehmen Wechsel zwischen warm und kalt im Flugzeug ohne Erkältungssymptome überstanden zu haben.

Volker hatte seine Arbeit zunächst in der Kanzlei aufgenommen, um die Post durchzusehen und eventuell auf Anfragen, Rechnungen oder Mahnungen zu reagieren. Mandy Bartel, seine Bürohilfe hatte zwar eine gewisse Vorsortierung vorgenommen, aber den Direktkontakt zu Mandanten, Behörden oder Unternehmen hatte Volker ihr untersagt – und das aus gutem Grund. Frühere derartige Versuche waren wenig hilfreich gewesen und die fanden noch in ländlicher Idylle statt. Nicht auszudenken, wenn Mandy verbal mit Verena Korthe kollidieren würde.

Er stieß weder auf große Aufträge, noch auf spektakuläre Hiobsbotschaften. Auch Mandy hatte nichts Wesentliches zu berichten und das war Volker sehr recht. Er arbeitete seinen Stapel ab und verabschiedete sich gegen 11.00 Uhr von Mandy, um in sein Büro in Aue zu wechseln. Für die Hinfahrt nutzte Volker vereinbarungsgemäß ein Taxi und die Rückfahrt würde mit einem Firmenfahrzeug von Secury Tex organisiert werden.

Volker hatte in Aue noch eine Kleinigkeit gegessen und betrat 12.45 Uhr sein Büro. Er fuhr seinen Computer hoch und ging zunächst ins Sekretariat von Lutger Krings. Man hatte ihm dort ein Postfach eingerichtet, wo seine Eingangspost aufbewahrt wurde. Frau Simon, die Sekretärin des Betriebsleiters, begrüßte ihn freundlich und erkundigte sich nach seinem Vietnamurlaub. Nach einer kleinen Konversation zur Reise bat ihn die Sekretärin, kurz den „Kopf“ zu Herrn Krings „hineinzustecken“. Er hätte heute schon zweimal nach ihm gefragt.

Der Anwalt öffnete nach einem kurzen Anklopfen die Tür des Chefs und trat ein. Lutger kam erfreut auf Volker zu und bat ihn nach einem festen Händedruck Platz zu nehmen.

„Bevor du mir bitte einen kleinen Reisebericht abgibst, habe ich eine gute Nachricht. Die SAB hat unseren Verwendungsnachweis geprüft und bestätigt. Bis auf zwei formelle und eigentlich bedeutungslose Anmerkungen, wurde uns in allen Punkten eine ordnungsgemäße Verwendung der Fördermittel bescheinigt. Lediglich deine Vollmacht muss im Original nachgereicht werden und eine Bestätigung des hiesigen Finanzamtes, dass der zum Gesamtkonzern gehörende Betrieb Secury Tex in Sachsen veranlagt ist und demzufolge seine Steuern hier entrichtet.

Du glaubst gar nicht, was mir für ein Stein vom Herzen gefallen ist“, sagte der Betriebsleiter sichtlich erleichtert.

„Na, wenn das keine gute Nachricht ist! Da erträgt man das graue Schmuddelwetter, was uns hier empfangen hat, gleich viel besser“, erwiderte der Anwalt.

Krings beugte sich ein wenig nach vorn und ergänzte fast geheimnisvoll: „Ich habe auch bereits „grünes Licht“ bezüglich deines in Aussicht gestellten Sonderhonorares von der Konzernzentrale aus Boston erhalten. Währen eines ausführlichen Gespräches mit Lee Meiers, dem CEO des Konzerns, hat er mir mitgeteilt, dass er nächste Woche in Paris sei und die Gelegenheit gern nutzen würde, dich persönlich kennenzulernen. Er wird dir bei dem Treffen einen Verrechnungscheck in Höhe von 100.000.- EUR überreichen. Es wäre schön, wenn du fliegen könntest, denn Mr. Meiers verlässt nur selten Boston in Richtung Paris. Er verantwortet zusätzlich zu seinen Aufgaben als Chief Executive Officer des Gesamtkonzerns auch den gesamten amerikanischen und asiatischen Markt und ist etwa 200 Tage im Jahr in diesen Regionen unterwegs. Auch habe ich die Bitte, dass du dich bezüglich des Sonderhonorares erfreut – und überrascht – zeigst. Ein bisschen Wohltäter ist unser Big Boss ab und zu gern selbst.“ Lutger schmunzelte bei dieser Bemerkung und machte dabei eine erklärende Geste.

Volker sagte spontan zu und der Betriebsleiter bot an, die Reiseformalitäten über Frau Simon zu organisieren. „Sie macht das auch immer für mich und kennt sich bezüglich der günstigsten Flugverbindungen und empfehlenswertesten Hotels perfekt aus.

Da unser CEO sicher mit dir zu Abend essen möchte, wird eine Übernachtung notwendig sein.“

Der Anwalt gab sich erfreut und sagte zu, noch heute mögliche Termine mitzuteilen, damit Mr. Meiers einen davon bestätigen könne. Dann ergingen sie sich bei einem Kaffee in einem Small Talk zum Thema Südostasien. Lutger zeigte starkes Interesse an diesem Thema, da er Vietnam aus eigenem Erleben noch nicht kannte. Er hatte auf zahlreichen Dienstreisen schon große Teile von dieser schönen Welt gesehen – aber dieses südostasiatische Land zählte nicht dazu. Lutger Krings plante aber im Stillen, diese traumhafte Region später einmal mit seiner Frau zu bereisen.

Nach einer weiteren Tasse Kaffee bedankte sich Volker für das Gespräch und ging in sein Büro.

Er öffnete einen Ordner, den er noch vor seinem Urlaub aus einem Aktenschrank in Kirchhoffs ehemaligem Dienstzimmer genommen hatte. Auch der dünnere Hefter, der zahlreiche wichtige Dokumente im Zusammenhang mit Förderprojekten enthielt, lag in Reichweite.

Bereits nach weniger als einer Stunde hatte er mehrere Dokumente aus den beiden Sachakten ausgeheftet und begann sie systematisch zu ordnen. Den daraus entstandenen Dokumentenstapel heftete Selketal in einen weiteren, noch leeren Ordner. Danach griff er zum Telefon und orderte einen Wagen, der ihn zurück nach Plauen bringen sollte. Kurz darauf verließ er sichtlich zufrieden sein Büro. Den neuen Ordner und den dünneren Hefter, den er ja bereits schon einmal mit in seiner Kanzlei hatte, verstaute er vorher noch in seinem Aktenkoffer.

Er saß im Fond des 5er BMW, der Volker Selketal von Secury Tex zur Verfügung gestellt wurde. Seine Gedanken arbeiteten auf Hochtouren und hatten dabei nur eine Zielrichtung: wie konnte er eine permanente und finanziell nutzbringende Abhängigkeit dieses bedeutenden Konzerns von seiner Arbeit bei Secury Tex Aue erreichen? Seine Einflussnahme auf Unkorrektheiten und die Vermeidung daraus resultierender Schäden, musste für die Geschäftsleitung klar als unverzichtbar erkannt werden. Dabei durfte er auf keinen Fall den Bogen überspannen und in großzügig geförderten Projekten des Unternehmens allzu häufig auf Unkorrektheiten stoßen. Er musste Lösungen bieten, Probleme sollte andere herausfinden.

Er hatte auch schon eine erste Idee. Wer wäre besser dazu geeignet, als ein junger, unerfahrener Mitarbeiter, der voller Ehrgeiz ist, sich gerade auf diesem Gebiet der Wirtschaftsförderung einzuarbeiten und in der Geschäftsleitung zu etablieren. Er würde gleich morgen Lutger Krings bitten, Kai Jäger für ein paar Tage zu seiner Unterstützung abzustellen. Der Grund dafür war schlüssig: nach seinem Urlaub und der Geschäftsreise nächste Woche nach Paris musste er sich erst einmal seinen originären anwaltlichen Pflichten widmen.

Er sah zufrieden aus dem Fenster, griff zum Mobiltelefon und teilte der Sekretärin von Lutger Krings mit, dass sie im Zeitraum von Montag bis Donnerstag nächster Woche seine Reise planen könne.

Jenny und Peter Kirchhoff hatten ein schönes Wochenende verlebt. Ihre Tochter Lena, Schwiegersohn Robert und die beiden Buben Leon und Lukas waren wieder einmal über das Wochenende bei ihnen zu Besuch und hatten für turbulente Stunden gesorgt. Leider war das Wetter sehr schlecht und sie konnten nicht wie sonst üblich einen großen Teil der Zeit mit Aktivitäten im Freien ausfüllen. Die beiden Jungs wollten am Sonntag gern die Neuverfilmung von Hugh Loftings berühmten Kinderbuches „Die Fantastische Reise des Dr. Dolittle“ sehen und so fuhren sie alle sechs ins nahegelegene Zwickau, in den Filmpalast Astoria. Jenny hatte dabei fast so viel Vergnügen wie ihre Enkel – aber weniger wegen des Films, als vielmehr wegen Peter, der sich sichtlich und hörbar amüsierte. Vielleicht sollte sie ihm zum Geburtstag eine Dauerkarte für Filme mit der Altersempfehlung „ab 6 Jahre“ schenken, aber ohne seine zwei Lieblinge wäre das sicher nur die halbe Freude.

Heute, am Montag war nun wieder Ruhe bei Kirchhoffs eingezogen und Peter zweifelte, ob es eine so gute Idee war, den heutigen Abend mit Freunden zu verplanen. Einen Tag Ruhe hätte ihnen sicher gutgetan, denn Schlaf hatten sie nicht so reichlich am Wochenende. Die beiden 9 und 11jährigen Buben hatten sich an Ideenreichtum, Argumente gegen das Schlafengehen zu finden, gegenseitig mit erstaunlichem Erfolg überboten.

Das Treffen hatten sie bereits bei ihrer letzten Zusammenkunft wenige Tage vor Weihnachten geplant und da sie alternierend bei sich oder bei Nicola und Bernd „tagten“, wie sie gern scherzten, wollten sie den Turnus ungern durcheinanderbringen. Hinzu kam, dass die Wohnungen beider Paare nur einen Kilometer voneinander entfernt waren und sie – selbst bei einem Müdigkeitsanfall, nach zwei oder drei Flaschen Wein – fußläufig in 15 Minuten zu Hause wären.

Pünktlich 18.00 Uhr betätigte Nicola den Öffner der elektrischen Schließanlage an der Haustür.

Sie begrüßten sich herzlich und Peter registrierte erfreut, dass es nach Lammbraten roch. Das Gemisch aus Rosmarin, Thymian, Bohnenkraut und Knoblauch in Verbindung mit dem Bratenduft ließen seine Geschmacksknospen förmlich explodieren.

Die beiden Freunde nahmen zunächst in einer gemütlichen Couchecke Platz, hatten aber den bereits eingedeckten Tisch im benachbarten Esszimmer schon im Blick – zumindest Peter.

Bernd und Peter gönnten sich erst einmal ein „Feierabendbier“, obwohl der Begriff für beide keine aktuelle Bedeutung mehr hatte. Es klang aber schön, irgendwie verdient. Jenny bot sich inzwischen in der Küche bei Nicola an, bei der Essensvorbereitung behilflich zu sein. Dabei sprangen sie praktisch „ohne Leerzeichen“ von einem Thema zum anderen. Es bedurfte keiner Anlaufphase.

Die beiden ehemaligen Kollegen hatten sich zuletzt am 20.12. 2019 auf der Weihnachtsfeier bei Secury Tex gesehen. Leider waren sie an unterschiedlichen Tischen platziert gewesen und hatten erst zu fortgeschrittener Stunde, als sich die Sitzordnung lockerte, Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Da sie dabei praktisch nie unter vier Augen waren, blieben die Themen auf sehr allgemeinem Niveau.

„Ich wollte dich übrigens auf der Weihnachtsfeier noch etwas fragen, habe es aber dann vergessen und vielleicht ist es ja auch völlig ohne Bedeutung“, sagte Bernd nach einem tiefen Schluck aus seiner Biertulpe.

„Ich saß ja, wie du sicher bemerkt hast, direkt neben dem Jungspund, dessen Füße vielleicht in 10 Jahren soweit gewachsen sind, dass sie halbwegs deine Fußabdrücke ausfüllen. Der hat nach dem dritten Glühwein eine Bemerkung gemacht, die ich nicht verstanden und deshalb auch nicht kommentiert habe. Ich glaube aber herausgehört zu haben, dass er sehr froh ist, diesen RA Selketal, der ja auch auf der Feier war, beratend an seiner Seite zu wissen. Er würde Ordnung in die Vorgänge bringen, die er, Kai Jäger, ja künftig zu verantworten hätte. Nun kenne ich seine Aufgabenbereiche nicht im Detail und weiß demzufolge auch nicht, was er außer Teilen deiner Verantwortungsebene noch übernommen hat und damit gemeint haben könnte. Schön klang das in meinen Ohren aber nicht.“

Peter Kirchhoff hatte sehr aufmerksam zugehört. „Das überrascht mich insofern besonders, weil Lutger, mit dem ich mich am meisten unterhalten habe, keinerlei Bemerkungen in diese Richtung gemacht hat. Vielleicht betrifft es ja wirklich Vorgänge, die in anderen Bereichen lagen. Andererseits kann ich mir nur schwer vorstellen, dass der junge Mann noch viele andere Dinge auf seinen ohnehin übervollen Tisch bekommen hat.“

Peter dachte kurz nach und fragte dann, ob Bernd etwas dagegen hätte, wenn er Lutger Krings bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen würde. Bernd verneinte das und ergänzte, dass er selbst gern wüsste, wie das zu verstehen sei.

Wenig später saßen sie alle zu Tisch und der Lammbraten schmeckte genauso vorzüglich, wie es die Aromen der Zutaten und die Gewürzkombinationen den kulinarisch geübten Sinnesorganen der anwesenden Feinschmecker bereits angekündigt hatten. Das eben zwischen den Männern besprochene Thema wurde an diesem Abend nicht wieder aufgegriffen. Peter war aber wild entschlossen, schnell eine Erklärung dafür zu finden.

Gegen Mitternacht machten sich Jenny und Peter auf den Heimweg. Sie hatten wie immer viel gelacht und von Müdigkeit konnte trotz der drei Flaschen Barolo, die sie getrunken hatten, keine Rede sein. Barolo einfach nur als Rotwein zu bezeichnen wäre auch eine Sünde. Wer bei diesem, aus der norditalienischen Region Piemont stammenden Spitzenwein müde wird, hat den Genuss nicht verdient und sollte lieber spanischen Sangria aus Eimern trinken.

Peter Kirchhoff hatte ausgezeichnet geschlafen. Beim Frühstück, was er stets an Wochentagen mit den Morgennachrichten im ARD einnahm, musste er erneut an das Gespräch vom gestrigen Abend mit seinem Freund denken. Irgendetwas machte ihn hellhörig und sein Gefühl hatte ihm selten einen Streich gespielt. Warum hatte Lutger kein Wort zur Tätigkeit des Anwalts verloren und was wollte Kai Jäger mit der Bemerkung bezwecken? War es wirklich nur Geschwätz nach drei Gläsern Glühwein oder wollte er eine echte Sorge einfach jemandem mitteilen?

Peter hatte nicht vor, sich den Tag mit Grübeleien verderben zu lassen. Das war einfach nicht sein Ding. Seine Ungeduld würde ihn wie so oft in seinem Leben zum Handeln zwingen – und das schnell.

Er nahm sich vor, noch heute das Gespräch mit Lutger suchen. Es war schließlich Dienstag, der 04. Februar 2020 und es gab in der Weltgeschichte eine Häufung von Ereignissen, die am 4. Tag des Monats Februar – wenn auch in verschiedenen Jahrhunderten – Sturmfluten und Erdbeben ausgelöst hatten. Er hoffte, so schlimm würde es nicht werden…

Nur galt es noch einen Anlass zu finden, der nicht vordergründig auf die Bemerkung von Kai Jäger am Tag der Weihnachtsfeier abstellte.

Peter Kirchhoff hatte Lutger Krings Sekretärin noch vor der Mittagspause im Unternehmen angerufen. „Bei einer abschließenden Überprüfung der Auszahlungshöhe meiner Betrieblichen Altersversorgung hat die ERGO Versicherung offenbar einen Fehler bei der Festlegung der anrechenbaren Einzahlungsbeträge festgestellt. Eine Korrektur bedarf zwar meiner Unterstützung, würde aber eine Nachzahlung von etwa 600 EUR an mich zur Folge haben.

Ja, es geschehen noch „Zeichen und Wunder“ – wenn auch nicht in der gewaltigen Größenordnung, wie sie in biblischer Zeit erwartet wurden. Dazu müsste ich aber Lohnnachweise aus den frühen 90er Jahren als Kopie nachreichen, die ich nicht mehr habe. Können sie mir da helfen?“

Frau Simon bejahte diese Anfrage sofort und freute sich offensichtlich erstmals über die extrem langen Aufbewahrungszeiträume, die Unternehmen gegenüber den zuständigen Kontrollbehörden garantieren mussten.

Peter Kirchhoff fragte, ob er in einer Stunde zu ihr kommen dürfte und ergänzte eher beiläufig, Lutger bei dieser Gelegenheit kurz die Hand schütteln zu wollen. „Ja, der Chef ist heute im Haus und freut sich bestimmt, mit ihnen einen Kaffee zu trinken, den ich gerne zubereite!“, sagte Frau Simon zu Kirchhoffs voller Zufriedenheit.

Die Zeit war schnell vergangen und Peter saß bereits im Dienstzimmer des Betriebsleiters, als dessen Sekretärin den Kaffee brachte. Die beiden Männer kannten und schätzten sich seit Jahrzehnten und hatten schon bald private Themen im Focus. Nach einem ausführlichen Austausch ihrer Feiertagshöhepunkte kam Lutger aber auch auf betriebliche Themen zu sprechen. Er informierte Peter Kirchhoff mit Bedauern darüber, dass sie die Lücke, die er mit seinem Ausscheiden aus der Firma hinterlassen hatte, noch nicht schließen konnten. „Kai Jäger bemüht sich zwar, sich in die wichtigsten Vorgänge einzuarbeiten, aber es fehlt eben an Erfahrung und manchmal auch an der Fähigkeit, sich ausreichend zu motivieren …“, ergänzte Lutger Krings etwas zögerlich.

„Ich habe ihm zu seiner eigenen Sicherheit einen juristischen Berater zur Seite gestellt, um negative Wirkungen eventueller Fehler zu vermeiden. Diesen Anwalt hast du ja auf unserer Weihnachtsfeier kennengelernt oder zumindest gesehen. Er hat sich gut eingearbeitet und ist heute Morgen schon zu einem Antrittsbesuch zu unserem großen Chef nach Paris geflogen. Der hat sein Domizil in Boston für eine Woche gegen eine Suite im Luxushotel Le Bristol der Stadt der Liebe eingetauscht, was sich als eine gute Gelegenheit für das Kennenlernen der beiden Herren anbot.“

Peter Kirchhoff fragte danach, ob das ein Zeichen längerer juristischer Beratung bei Secury Tex Aue sei oder ob es im Konzern auch Beratungsbedarf gäbe. Es sei ja bestimmt nicht üblich, dass externe Mitarbeiter in befristeten Beschäftigungsverhältnissen zur Audienz beim großen Chef eingeladen würden.

Das Gespräch war für Lutger plötzlich in eine Richtung abgedriftet, die er eigentlich vermeiden wollte. „Ja“, sagte er wahrheitsgemäß, „es ist an eine längerfristige Zusammenarbeit mit dieser Kanzlei gedacht, da Herr Selketal als Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht für die zunehmend globale Ausrichtung unseres Produktionsstandortes künftig sehr wertvoll sein kann.“

Peter Kirchhoff merkte natürlich, dass sich sein Exchef und Freund Lutger mit diesem Thema schwer tat, aber er glaubte ein Recht auf „reinen Wein" zu haben, den er sich nun mal nicht selbst „einschenken“ konnte.

„Ich verstehe, dass du mir kein Internum mehr anvertrauen darfst, aber du sollst wissen, dass ich nach wie vor für dich als Ansprechpartner bei betrieblichen Problemen zur Verfügung stehe.“ Damit wollte es Peter zunächst bewenden lassen, aber Lutger war jetzt sensibilisiert.

„Ich kenne dich lange genug, um zu merken, dass es da ein Problem gibt. Bitte Peter, sag mir, was los ist.“

Peter Kirchhoff wählte nun die ihm liebste Variante und berichtete detailtreu von dem Gespräch seines Freundes Bernd mit Kai Jäger. Lutger Krings hörte nachdenklich zu. Dann informierte er Peter über den gesamten Vorgang der Verwendungsnachweisprüfung durch die SAB. Dieser wirkte betroffen, bat aber seinen früheren Chef, mit ihm einen Blick in seinen alten Aktenbestand werfen zu dürfen.

Lutger stimmte zu und beide verließen sein Dienstzimmer. Im Sekretariat ließ sich der Betriebsleiter alle benötigten Zweitschlüssel von Zimmer und Aktenschränken von seiner Sekretärin aus dem Panzerschrank geben, denn RA Selketal hatte die Originalschlüssel sicher in seiner Kanzlei verschlossen, bevor er nach Paris gereist war.

Das kleine, ursprünglich als Lagerraum genutzte Zimmer beinhaltete außer vier Aktenschränken nur noch zwei übereinandergestellte Bürostühle, die in einer Ecke standen. Peter Kirchhoff hatte jeden einzelnen Ordner oder Hefter, einschließlich einer losen Blattsammlung von Amtsblättern und Förderrichtlinien, persönlich gesichtet und in den Schränken verstaut.

Peter hatte nach wenigen Minuten erkannt, dass Unterlagen vertauscht worden waren und offenbar auch wichtige Dokumente fehlten. Das nachzuweisen war ihm allerdings unmöglich. Die einzige Person, die lt. Aussage von Lutger seit seinem Ausscheiden Zugang zu dem Zimmer und den Schränken hatte, war ein im Unternehmen mittlerweile angesehener Rechtsanwalt einer renommierten Kanzlei, Herr Selketal. Die Gefahr, nichts zu bewirken, aber unter Umständen von einer Klagewelle überzogen zu werden, war ihm zu groß. Außerdem erschloss sich für Peter keinerlei Sinn, warum der Firmenanwalt Unterlagen entwendet haben sollte. Vielleicht befasste er sich gerade mit einem Vorgang, dem die nicht auffindbaren Dokumente anteilig zugeordnet werden konnten und er bewahrte sie kurzzeitig in seiner Kanzlei auf.

Es gab einfach zu viele Möglichkeiten und vielleicht auch logische Erklärungen für den Verbleib der Papiere. Gänzlich auszuschließen war auch nicht, dass sich Peter einfach irrte und die betreffenden Unterlagen von ihm an falscher Stelle abgelegt worden waren.

All diese Unsicherheiten und auch der nicht auszuschließende juristische Ärger, den eine Fehleinschätzung seinerseits nach sich ziehen konnte, ließen Peter den Entschluss fassen, vorerst Lutger nichts von seinen Vermutungen und Befürchtungen zu erzählen.

„Auf dem ersten Blick kann ich weder Versäumnisse von meiner Seite feststellen, noch sind mir andere Ungereimtheiten aufgefallen. Um genaueres zu den von dir geschilderten Problemen sagen zu können, müsste ich den kompletten Vorgang prüfen. Aber: es ist vielleicht gar keine gute Idee, den offenbar ohne Schaden für Secury Tex abgeschlossenen Vorgang neu aufzugreifen. Ein geprüfter Verwendungsnachweis wird in aller Regel nicht nochmals bearbeitet.“

Lutger schien erleichtert und pflichtete Peter bei. „Sicher hast du recht. Danke.“

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