Читать книгу Mehr recht als billig - Kriminalroman - Peter Werkstätter - Страница 8
ОглавлениеJe mehr Vergnügen du an deiner Arbeit hast, umso besser wird sie bezahlt
(Mark Twain)
Peter Kirchhoff stand in seiner Küche und bereitete eine kulinarische Köstlichkeit aus dem mediterranen Raum vor. Er liebte diese leichten Gerichte aus dem Mittelmeergebiet. Sie erinnerten ihn immer ein wenig an die zahlreichen schönen Urlaubsaufenthalte mit seiner Frau Jenny, mit Freunden und in der 90er Jahren noch mit ihrer Tochter Lena. Der Geruch von Basilikum, Rosmarin, Koriander, Salbei und Thymian reichte schon aus, um sich in die traumhafte Kulisse von samtgrünen Olivenhainen, blühenden Lavendelfeldern und schier endlosen Sonnenblumenmeeren hineinzuträumen. Warum van Gogh nach dem Malen zahlreicher Bilder mit Sonnenblumen in Südfrankreich dem Wahnsinn verfallen sein soll, blieb ihm ein Rätsel. Er glaubte eher an die ebenfalls nicht gesicherte Überlieferung, dass die ständigen Streitereien mit seiner Hassfreundschaft Paul Gauguin den Ausschlag für seine zunehmende geistige Verwirrung gegeben haben. Vielleicht hat der ihm ja auch den großen Teil seines linken Ohres abgeschnitten.
Gleich wohl, wie man es sehen will, diese Landschaft regt offenbar zum Träumen, zum Malen und auch zum Kochen und Genießen an.
Es war Sonntagnachmittag und sie erwarteten am Abend gute Freunde, mit denen sie ein oder zwei Flaschen Chianti genießen wollten und wie immer viel Spaß haben würden. Für das Zubereiten des Salates hatte sich Jenny angeboten und sie war gerade im Vorratsraum, um das passende Gemüse zusammenzustellen. Peter hatte sich als Hauptgericht ein, mit Kapern und getrockneten Tomaten gefülltes, Zanderfilet ausgewählt, was er, deftig gewürzt mit mediterranen Kräutern, zu griechischen, mit Oliven, Tomaten und Knoblauch in Olivenöl zubereiteten Bratkartoffeln, servieren wollte. Der Trick dabei war, dass die in Würfel geschnittenen Kartoffelstücke im rohen Zustand in Olivenöl ausgebraten wurden. Man musste zum richtigen Zeitpunkt die anderen Zutaten und Gewürze hinzufügen, um noch bissfeste, aromatische Bratkartoffeln zu zaubern. Bald würde die Küche nach den herrlichen Aromen dieser Köstlichkeiten duften.
Peters Frau Jenny betrat mit einer großen Schale, gefüllt mit den wichtigsten Bestandteilenden, die sie für das Zubereiten eines herzhaften „Caprese Salates“ benötigte, die geräumige Wohnküche. Sie küsste ihn auf die Wange und schüttelte amüsiert mit dem Kopf. „Es ist schon bemerkenswert, wie es dir immer wieder gelingt, mehr Aufwasch zu produzieren, als Paul Bocuse bei der Zubereitung seines legendären Fünf–Gänge-Menüs im Elysee Palast, anlässlich seiner Erhebung zum Ritter der Ehrenlegion, hinterließ. Und da assistierten ihm immerhin zwölf Spitzenköche…“
Peter Kirchhoff lachte nun auch und hoffte, dass seine Jenny auch heute wieder die „niederen“ Tätigkeiten des Aufräumens und Reinigens seines „Sternearbeitsplatzes“ übernehmen würde.
„Paul Bocuse hat aber auch Kochen gelernt und ich bin nur Ingenieur“, antwortete er schalkhaft und mit zur Schau gestellter Demut.
„Jetzt bist du nur noch im Ruhestand, vergiss das nicht. In gleichem Maße, wie du nicht mehr von deinen Kollegen beanspruchst wirst, kann ich dich jetzt einspannen“, nahm Jenny seine Frotzelei an. „Die Schonzeit ist jetzt nach einem Jahr Eingewöhnungszeit an das Rentnerleben vorüber – das können dir sicher auch Nicola und Bernd bestätigen, die ja ein halbes Jahr Vorsprung haben.“
Der „Chefkoch“ schlug demonstrativ aus geheucheltem Entsetzen die Hände vor das Gesicht. „Das Wort Rentner finde ich ohnehin blöd“, erwiderte er, um vom Thema abzulenken.
„Neulich habe ich eine viel schönere Umschreibung dieses Gruselwortes gehört. Ein ehemaliger Geschäftspartner hat das wie folgt formuliert“, dozierte Peter lächelnd.
„Ich bin jetzt in einem Alter, wo zwei freie Tage in der Woche nicht mehr ausreichen, um mein angespartes Vermögen so weit abzubauen, dass sich meine Kinder und Enkel später nicht darum streiten müssen“, zitierte Peter seinen Bekannten.
„Finde ich gut, klingt sympathisch wohlhabend, nicht ganz so alt und suggeriert Agilität und Unternehmungslust. Nur unsere beiden Enkel dürfen das nicht hören, sonst nehmen sie ihren Opa noch mehr aus.“ Beide lachten und dann ging es ans Kochen.
Peter hatte nur noch sporadischen und eher zufälligen Kontakt zu seinen ehemaligen Kollegen. Was seinen Chef anging, bedauerte er das ein wenig, weil der sich ihm gegenüber immer fair verhalten hatte. Das Gegenteil traf auf Verena Korthe zu. Sie hatte es nie verkraftet, dass Peter Kirchhoff im Unternehmen Secury Tex eine gewisse, nicht verbal oder gar schriftlich dokumentierte, aber allgegenwärtig spürbare, Sonderstellung einnahm. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Zum einen verfügte er aufgrund seiner langen Betriebszugehörigkeit – auch schon im Vorgängerunternehmen – über eine große Erfahrung in allen Schlüsselbereichen. Des Weiteren war seine Ausbildung als Textiltechniker und das anschließende Studium zum Ingenieurökonomen eine hervorragende Grundlage für seine multivalente Einsetzbarkeit. Hinzu kam Peters stets aufgeschlossenes und freundliches Naturell, was die wenigen Neider in eine schlechte Position brachte.
In fünf Tagen, am 20.12.2019 – es war diesmal sehr weit an den unmittelbar bevorstehenden Heiligabend herangerückt – sollte die betriebliche Weihnachtsfeier in Aue stattfinden, zu der Peter Kirchhoff noch einmal eingeladen war. Er wollte teilnehmen und freute sich auch darauf.
Volker Selketal hatte den Hefter aus Peter Kirchhoffs Aktenschrank Seite für Seite gelesen und nahm ihn zum wiederholten Mal in die Hand. Einerseits hatte das Dokument Klarheit in einige, zunächst als fehlerhaft erschienene Sachverhalte gebracht, eröffnete aber auf der anderen Seite die brisante Chance, seinen anwaltlichen Marktwert in der Firma, respektive im gesamten Konzern, enorm zu steigern. Er wusste aber auch, wenn er diesen Weg ging, würde es kein Zurück geben. Das, was ihm bei Dr. Leifelds Mandantschaft gelungen war, stellte keinen Maßstab dar. Es war einmalig. In Aue dagegen könnte er sich einen Goldesel heranzüchten, der ihm über Jahre Wohlstand sichern würde, und er brauchte Geld, viel Geld.
In diesem Moment läutete das Telefon in seinem Büro. Es war Bettina und sie erinnerte ihn mit vorwurfsvollem Unterton daran, dass in einer Woche Heiligabend ist und sie die Feiertage planen müssten. Auch der 11. Januar, der Vortag ihres Geburtstages und Start der Traumreise nach Südostasien, sei greifbar nahe. „Ich habe bestimmt viel Verständnis für deine schwierige Situation in den letzten Monaten aufgebracht, habe dich zu deinen Weiterbildungslehrgängen in Norddeutschland ermuntert und war stets da, wenn du in letzter Zeit einen personengebundenen Fahrer brauchtest, aber jetzt bin auch ich ´mal an der Reihe. Oder freust du dich gar nicht auf Vietnam?! Wir müssen einfach Zeit zum Reden finden. Kommst du heute Abend zu mir?“, bat sie versöhnlich, jedoch mit Nachdruck.
Ja, sie hatte recht und er musste wohl zustimmen, zumal ihm Bettina schon seit dem Morgen hinterher telefoniert hatte.
„In Ordnung – und wenn es dir möglich ist, könntest du mich gegen 18.15 Uhr gleich mitnehmen, du bist doch bestimmt mit meinem Audi zur Arbeit gefahren.“ Bettina Doll stimmte zu und sie verabschiedeten sich.
Der gestrige Abend war sehr harmonisch und sachlich verlaufen. Zunächst hatten Bettina und Volker alle Termine an und zwischen den Feiertagen abgestimmt. Danach bereitete Bettina liebevoll ein leckeres Abendessen zu, während Volker sich erstmals, unter Zuhilfenahme eines Reiseführers, mit Vietnam beschäftigte.
Nach dem Essen setzten sie sich in eine Ecke des gemütlichen Sofas in Bettinas Wohnzimmer. Sie gingen die Reise nun gemeinsam in allen Einzelheiten durch und hofften, dass sie alles bedacht hatten, was es in einem tropischen Land wie Vietnam zu beachten galt.
Die zusätzlichen Impfungen, die für diese südostasiatische Region ärztlicherseits empfohlen wurden, hatten sie sich in den zurückliegenden Wochen bereits verabreichen lassen. Volker bestand noch darauf, Malarone Tabletten zu besorgen, um einer mögliche Malariaerkrankung vorzubeugen.
Die geplante Route fanden beide phantastisch, wenngleich sie sich unter manchen Höhepunkten der Reise nichts vorstellen konnten. Sie googelten diese Fragezeichen oder benutzen den Reiseführer zum Ausfüllen ihrer Wissenslücken.
Am Ende des Abends hatten sie zwei Flaschen Cotes du Rhone getrunken und freuten sich beide sehr auf diese 14 Tage. Volker hatte nur zehn Minuten zu seiner Wohnung zu laufen und verließ gegen 23.00 Uhr gut gelaunt Bettinas Wohnung.
Der Morgen des 21. Dezember dieses Jahres begann für die meisten Teilnehmer der gestrigen Weihnachtsfeier des Unternehmens Secury Tex etwas anders als sonst üblich. Zum einen hatte der Chef den Dienstbeginn für nahezu alle Mitarbeiter auf 09.00 Uhr verschoben und zweitens fand heute die sonst obligatorische Kurzberatung des Führungsteams nicht statt.
Da die Hochstimmung bei Volker Selketal auch zwei Tage nach dem versöhnlichen Abend mit Bettina noch anhielt und Lutger Krings ihm gestern Abend das „Du“ angeboten hatte, fasste er den Entschluss, den Betriebsleiter über den festgestellten, offenkundigen Bearbeitungsfehler in den Abrechnungsunterlagen zu informieren. Der Zeitpunkt schien ihm auch deshalb geeignet, weil zwischen Weihnachten und Neujahr sicher kein Handlungsbedarf gegenüber der Sächsischen Aufbaubank, als fördermittelausreichende Institution, bestand. Dort begann Weihnachten erfahrungsgemäß für das Gros der Mitarbeiter bereits übermorgen.
Volker öffnete 8.45 Uhr sein Büro bei Secury Tex. Das Verwaltungsgebäude schien noch im Tiefschlafmodus zu sein, aber den 5er BMW von Lutger Krings hatte er auf dem noch sehr übersichtlichen Parkplatz bereits bemerkt. Selketal ordnete zunächst die benötigten Unterlagen und griff fünf Minuten nach 09.00 Uhr zum Telefonhörer, um den Betriebsleiter anzurufen.
Lutger Krings war sofort selbst am Telefon, offenbar war seine Sekretärin nicht am Platz. Nach einem kurzen Austausch zum gestrigen Firmenweihnachtsfest, kam Volker zum Kern seines Anliegens.
„Wenn du Dir heute Vormittag nichts Unaufschiebbares vorgenommen hast, würde ich dich gerne über einen Sachverhalt informieren, der mir bei der Durchsicht des Verwendungsnachweises aufgefallen ist“, erklärte der Anwalt.
Krings war sofort hellhörig und bot Selketal an, in sein Büro zu kommen. „Dann musst du nicht alle Unterlagen mit zu mir bringen und wir sind bei dir sicher ungestörter.“
20 Minuten später saßen die beiden Herren zusammen und versuchten, sich ein umfassendes Bild von der Situation zu machen. „Wenn ich keinem Denkfehler unterliege, haben wir ein richtiges Problem. Mit dem nicht genehmigten Beginn der geförderten Maßnahme haben wir, wenn auch sicher versehentlich, einen Tatbestand geschaffen, der im schlimmsten Fall zu einer vollständigen Rückforderung der ausgereichten Fördermittel durch die SAB führen könnte“ stellte Lutger Krings sachlich fest. „Das wäre in Anbetracht der erheblichen Summe von fast einer Million EUR, die an unsere Firma ausgereicht wurde, ein schwerwiegender Vorfall, den ich im Konzernrahmen zu verantworten hätte. Die Freigabe für 1,8 Mio EUR für die Realisierung des betreffenden Forschungsprojektes hätte man mir sicher verwehrt, wenn nicht 50% von diesem Betrag an Fördermitteln in Aussicht gestellt und letztlich auch ausgezahlt worden wären. Siehst du das auch so?“, vergewisserte sich der Betriebsleiter.
Volker Selketal schaute Krings mit einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck an. „Eben das ist ja der Grund für diese Regelung zum Maßnahmebeginn: ein Antragsteller, der ohne Fördermittelbescheid bzw. ohne Genehmigung eines vorzeitigen Maßnahmebeginnes mit der Realisierung eines Projektes beginnt, lässt gegenüber der fördermittelausreichenden Behörde erkennen, dass er das Projekt auf jeden Fall und ungeachtet einer möglichen staatlichen Förderung realisieren will und kann. Das wiederum würde einen nicht gewollten Mitnahmeeffekt auslösen, den man durch diese Regelung zu unterbinden versucht.“ „Klingt logisch“, entgegnete der Betriebsleiter. „Siehst du eine Möglichkeit der Schadensbegrenzung für Secury Tex? Und vor allem, was ist jetzt zu tun?“
Volker lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte nachdenklich einen Zeigefinger auf seine geschlossenen Lippen. „Zunächst müssen wir gar nichts tun, Weihnachtszeit und Jahreswechsel lassen uns ein wenig Zeit zum Nachdenken. Anfang Januar würde ich – vorausgesetzt du lässt mir freie Hand – zwei Gespräche mit maßgeblichen Mitarbeitern im mittleren Management der Aufbaubank führen. Ich habe zu beiden ein sehr vertrauensvolles Verhältnis und bin mir sicher, dass sie mich fair und vor allem unter dem Siegel der Verschwiegenheit beraten werden. Vielleicht ergibt sich aus diesen Gesprächen ein Ansatz, das Problem zu lösen oder zumindest zu verkleinern. Bis dahin darfst du aber offiziell von diesem Sachverhalt noch keine Kenntnis haben. Meinen Vertrauenspersonen in der SAB wären sonst die Hände gebunden. Vollendete, bekannte Sachverhalte lassen keinerlei Ermessensspielraum mehr zu.
Ich benötige auch keine Vollmacht von dir, um für deinen Betrieb nach außen zu agieren. Diese, ansonsten notwendige Legitimation, ist durch unser Vertragsverhältnis abgedeckt.“
Mit einem solchen Vorschlag hatte Lutger nicht gerechnet und er entsprach auch mitnichten seiner geradlinigen und verantwortungsbewussten Arbeitsweise sowie seiner ehrlichen Grundeinstellung.
Andererseits barg dieser Weg zumindest die Chance in sich, Schaden von seiner Firma abzuwenden, der bei Nichtergreifung dieses Strohhalmes, zwingend eintreten würde. Er wog Vor–und Nachteile seiner zu treffenden Entscheidung gegeneinander ab, zögerte aber zunächst mit einer Antwort. Er kannte Volker Selketal erst seit wenigen Tagen und es war vielleicht ein Fehler gewesen, ihm, gegen seine sonst übliche Zurückhaltung, das doch sehr persönliche „Du“ schon nach so kurzer Zeit angeboten zu haben. Vielleicht fühlte sich Volker durch diesen Vertrautheitsbonus sogar dazu verpflichtet, ihm, seinem neuen Duzfreund, diese Gefälligkeit anzubieten. War es auch wirklich nur eine Gefälligkeit oder begab er sich mit der Zustimmung zu einer solchen, zumindest unorthodoxen Verfahrensweise, schon in die Grauzone subventionserheblicher Handlungen?
„Ich danke dir Volker, dass du mich und vor allen Dingen die Firma vor Schaden behüten möchtest. Ich denke aber, wenn wir in aller Ruhe die Feiertage verstreichen lassen und uns erst dann kümmern, würde das im Falle eines Misserfolges deiner Bemühungen auf wenig Verständnis bei der SAB treffen. Wenn du morgen noch einen Termin bei den beiden Personen deines Vertrauens bekommen würdest und Erfolgsaussichten für diesen Vorschlag bestünden, wäre ich damit einverstanden, dass wir diese Chance einer Schadensabwendung nutzen. Im anderen Fall schicke ich am 23. Dezember, also noch fristgemäß, den Verwendungsnachweis mit einem entsprechenden Vermerk zu diesem Sachverhalt an die zuständige Behörde ab“, legte der Chef fest.
Lutger Krings hatte seine Entscheidung getroffen und beendete symbolisch das Gespräch, indem er von seinem Stuhl aufstand.
Er reichte Volker die Hand und bedankte sich nochmals. „Bitte rufe mich morgen Abend an, gleichwohl, wie deine Bemühungen ausgegangen sind“, ergänzte er in versöhnlicher Tonart.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, lehnte sich Selketal entspannt und sichtlich zufrieden zurück, wusste er doch bereits, wie das morgige Telefonat mit Lutger Krings laufen würde. Der entscheidende erste Schritt war getan.
Jetzt galt es, sein Wissen und seine Fähigkeiten ausschließlich auf das Gelingen dieses Projektes zu fokussieren. Nun konnte und musste er auch die Weihnachtstage neu planen – Bettina würde es akzeptieren müssen. Krings Bedenken entpuppten sich in seinem Gehirn nun sogar als vorteilhaft für ihn. Ein selbstzufriedenes Lächeln zog über sein Gesicht. Das Gute daran war: Die terminliche Abfolge der jetzt erforderlichen Handlungen war nicht von ihm festgelegt worden. Der von Krings vorgezogene Startschuss spielte ihm in die Karten. Er würde für die Firma großzügig die Feiertage opfern und Bettina konnte ihm wegen Lutger Krings Anweisung in dieser Notlage keinen Vorwurf machen. So fügte sich Teil für Teil zu einem genialen Plan.
***
Volker Selketal griff am Abend des 22. Dezember genau 19.30 Uhr zum Telefon. Um diese Zeit war Lutger Krings bestimmt zu Hause.
Bereits nach dem zweiten Klingelton drückte der Betriebsleiter von Secury Tex die Annahmetaste seines Mobiltelefons. Seine Stimme war gewohnt ruhig, Selketal glaubte aber, eine gewisse Anspannung herauszuhören. „Konntest du etwas erreichen?“, fragte Lutger sofort nach einer kurzen Begrüßung.
„Gehe bitte davon aus, dass die beiden Mitarbeiter der SAB alles versuchen werden, Schaden von Secury Tex abzuwenden. Es ist ihr Job, möglichst große Anteile, der von der Europäischen Union dem Freistaat Sachsen bewilligten Fördergelder, an die Wirtschaft auszureichen. Insofern besteht kein Interesse daran, bereits ausgezahlte Fördermittel zurückzufordern.
Selbstverständlich sind die Mitarbeiter der Sächsischen Aufbaubank zur strikten Einhaltung der Zuwendungsvoraussetzungen verpflichtet und unterliegen selbst der kritischen Beobachtung durch staatliche Kontrollbehörden. Soweit zur Vorrede.“
Lutger Krings ließ die kurze Pause wortlos verstreichen. Deshalb fuhr der Anwalt fort.
„Ich denke aber, wir haben eine tragfähige Lösung gefunden, die allen Beteiligten gerecht werden könnte. Abgesehen von einem erheblichen Aufwand, der aber im Wesentlichen durch meine Kanzlei zu leisten wäre, könnten Rückforderungen und Imageschäden für unser Unternehmen weitgehend vermieden werden.
Ich habe gestern den Hersteller des Technischen Spezialgewebes kontaktiert, an den laut Verwendungsnachweis der Auftrag zur Lieferung des Versuchsmaterials ausgelöst wurde. Der geschäftsführende Gesellschafter dieses mittelständigen Textilbetriebes, den ich auf einer Messe in Shanghai aufgetrieben und ans Telefon bekommen habe, war zum Glück bestens im Bilde und erinnerte sich sofort an den Vorgang. Er schien trotz der Störung regelrecht froh zu sein, einem potentiellen Großauftraggeber, wie deinem Unternehmen, helfen zu können. Es stellte sich im Gespräch heraus, dass aufgrund einer Havarie in seinem Veredlungsbereich die beauftragte Ware nicht zum vereinbarten Zeitpunkt lieferfähig war. Er musste deshalb den Lieferauftrag zu seinem großen Bedauern stornieren. Das geschah zunächst mündlich und 14 Tage später per E-Mail.
Damit sind wir aber noch nicht aller Probleme ledig, denn selbst wenn ich in den Unterlagen deines verrenteten Kollegen den Nachweis dafür finde, muss noch schlüssig dargelegt werden, dass keine Ersatzlieferung eines anderen Herstellers beauftragt wurde.“
Krings unterbrach jetzt zum ersten Mal den Anwalt.
„Der Abrechnungsfehler ist demzufolge Peter Kirchhoff unterlaufen. Das ist mir bei seiner stets korrekten Arbeitsweise zwar völlig unerklärlich, aber es muss wohl so gewesen sein. In dem Fall ist er sicher auch bereit, dich bei den anstehenden Aktivitäten intensiv zu unterstützen“, bot er an.
„Genau das wäre der falsche Weg“, entgegnete Selketal sofort und ein wenig zu forsch. „In der Tatsache, dass der maßgebende Leiter dieses Projektes plötzlich, ohne die erforderliche Übergabemöglichkeit an einen Nachfolger, aus dem Unternehmen ausgeschieden ist, liegt unsere Chance. Er sollte über den Vorgang nicht einmal informiert werden, da wir so die uneingeschränkte Möglichkeit haben, den Verwendungsnachweis komplett neu zu erstellen, ohne Gefahr zu laufen, dass sich Herr Kirchhoff zu rechtfertigen versucht. Eine falsche bzw. förderschädliche Darstellung dieses Vorganges könnte nicht mehr korrigierbare Auswirkungen haben. Auch die Begründung, warum letztlich kein Ersatzlieferant gesucht wurde, muss wohlüberlegt und korrekt formuliert werden. Zu diesem Zeitpunkt muss bereits erkannt gewesen sein, dass dies förderschädlich ist.
Wenn das schlüssig vermittelt werden kann, ist uns im schlimmsten Fall eine diesbezüglich versäumte Mitteilung an die bearbeitende Behörde vorzuwerfen“, erklärte der Anwalt.
Lutger Krings war nachdenklich geworden und hatte offenbar große Zweifel an den Erfolgsaussichten dieses Vorgehens. „Wäre es nicht doch besser, Peter Kirchhoff mit ins Boot zu holen, er hat große Erfahrung mit der Erstellung von Verwendungsnachweisen. Ich halte es auch für ausgeschlossen, dass er versuchen würde, sich zu rechtfertigen“, unternahm der Betriebsleiter einen weiteren Versuch, Kirchhoff einzubinden.
„Bereits die Frage, warum er nicht mit der Einreichung des Förderantrages um Bewilligung eines Vorfristigen Maßnahmebeginnes gebeten hat, könnte ernsthafte Schwierigkeiten nach sich ziehen. Wenn er sie wahrheitsgemäß beantwortet, würde er wahrscheinlich sagen, dass er im Auslösen eines Lieferauftrages noch keinen Maßnahmebeginn gesehen hat. Das wäre genau die falsche Antwort.
Die Begründung muss anders lauten: Das zu frühe Auslösen einer Bestellung war ein Fehler, den wir sofort erkannt haben und umgehend korrigiert hätten, wenn nicht die Stornierung des Auftrages durch die Lieferfirma erfolgt wäre. Wir haben deshalb auch keine Ersatzlieferung ausgelöst.
Eine solche Erklärung, ergänzt durch die Erbringung von Nachweisen für diesen Sachverhalt, würde von der SAB akzeptiert. Das haben mir beide Mitarbeiter dieser Bank bestätigt. Ein nochmaliger Aufschub des Abgabetermines für den Verwendungsnachweis konnte mir bei allem guten Willen nicht gewährt werden. Der 31. Dezember steht und das bedeutet, dass ich meine privaten Pläne zwischen Weihnachten und Neujahr vergessen kann – vorausgesetzt, du stimmst dieser Verfahrensweise zu und ich habe auch während der Feiertage uneingeschränkten Zugriff auf alle relevanten Dokumente“, beendete Selketal sein Statement.
Lutger Krings stimmte, trotz noch nicht restlos ausgeräumter Bedenken, letztlich zu.
Sie wünschten sich einen schönen Feierabend und Volker Selketal versprach, sich gleich am nächsten Morgen an die Arbeit zu machen.
Die nächsten Tage hatte er keinen Kontakt mit seiner Partnerin Bettina. Diese brachte dafür kaum Verständnis auf, zumal sie ganz anders geplant hatten. Einzig die Vorfreude auf die baldige Vietnamreise stimmte sie ein wenig versöhnlich. In ihrem Gästezimmer hatte sie bereits begonnen, erste Kleidungstücke und andere Urlaubsutensilien zurechtzulegen. Auch zwei Koffer standen schon bereit.
Beim Betrachten der schon gewaltigen Stapel war sie froh, dass sie wenigstens keine Bekleidung für kalte Tage benötigte. Dennoch, es musste alles in die zwei Koffer passen, denn sie wollten auf zusätzliches Handgepäck verzichten.
Volker hatte ihr von den Problemen bei Secury Tex berichtet. Einerseits brachte sie durchaus Verständnis für sein Engagement auf, denn er wollte möglichst schnell in der hiesigen Industrie Fuß fassen. Auf der anderen Seite hatte sie sich auf die gemeinsamen Tage mit Volker gefreut. Da er darum gebeten hatte, selbst auf Anrufe zu verzichten, ging Bettina davon aus, dass ihr Freund bis über beide Ohren in der Arbeit steckte. Er hatte auch angedeutet, eventuell für zwei bis drei Tage dienstlich unterwegs zu sein. Auf ihre Frage, warum er auf Reisen nicht wenigstens mit ihr telefonieren könnte, hatte er sehr ungehalten reagiert und etwas von ständigen Beratungen gesagt, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Hoffentlich würde ihm dieser Aufwand auch gut honoriert.
Bettina Doll hatte schon zwei Mahnungen aus seinem Kanzleibriefkasten mitgebracht, den sie gelegentlich für Volker leerte. Er hatte sie darum gebeten, da seine Bürohilfe zwischen Weihnachten und Neujahr Urlaub hatte. Zum einen handelte es sich um eine Ratenzahlung für das Büromobiliar und die andere Mahnung betraf eine nicht überwiesene Leasingrate für den neuen Wagen. Er würde die Zahlung mit Sicherheit umgehend nachholen. Geldprobleme konnte er im Moment nun wirklich nicht haben. Offenbar war Volker restlos am Limit seiner Belastbarkeit.
Als es an ihrer Haustür klingelte, schaute sie verwundert auf ihre Armbanduhr. Es war bereits 21.30 Uhr und einen Tag vor Sylvester. Sie erwartete keinen Besuch, insofern war ihre Verwunderung umso größer, als es nochmals läutete. Sie bediente die Sprechanlage und stellte nun erfreut fest, dass es Volker war. Als er sich seiner regennassen Kleidung entledigt hatte, deren Zustand auch das ungeduldige zweite Klingen erklärte, nahm er Bettina in den Arm und überreichte ihr einen wunderschönen Blumenstrauß.
Für Volker völlig untypisch, sprudelte eine ungebremste, überschwängliche Freude förmlich aus ihm heraus. Bettina war sich sicher, dass sie in all den Jahren ihres Zusammenseins noch nie ein so hohes Maß an Mitteilungsbedürfnis bei ihm verspürt hatte. Stimmungsschwankungen war Volker in den zurückliegenden Monaten zwar häufig ausgesetzt gewesen, aber in dieser extremen Form war es ein Novum. Es gab beispielsweise ein euphorisches „Hoch“ nach dem Erhalt eines Sonderhonorars in einem Dresdner Unternehmen oder im Gegensatz dazu eine fast depressive Phase der Hoffnungslosigkeit, als er trotz der neuen, zentralgelegenen Kanzlei nicht zeitnah mit lukrativen Fällen oder gut dotierten Beratungsaufträgen überschüttet wurde.
Bevor sich Volker setzte, öffnete er seinen Aktenkoffer und brachte eine Flasche „Chateauneuf-du–Pape“ zum Vorschein. Sie hatten zusammen vor mehreren Jahren einen sehr schönen Urlaub in dem gleichnamigen Ort des südlichen Rhonetals verbracht. Bettina fand es sehr schön, dass er sich ebenso gern daran erinnerte. Ihr Zorn der letzten Tage schien sich schnell aufzulösen.
Als Volker dann endlich auf der Couch saß, hatte er den dienstlichen Teil seines Berichtes schon fast beendet. Er kam gerade erst aus seinem Büro bei Secury Tex Aue und hatte mit Lutger Krings, wie er wörtlich sagte, „die Kuh nun endlich vom Eis gezogen“.
Beide waren den neuen Verwendungsnachweis mit all seinen Anlagen durchgegangen und glaubten danach fest daran, dass sie weitgehend schadensfrei aus diesem hausgemachten Schlamassel herauskommen würden. Bei Lutger Krings, der, wie er auch zugab, nicht alle akademisch juristischen Finessen und Formulierungen verstanden hatte, waren die letzten Zweifel gewichen, als Volker von seinem Treffen am Vormittag mit seinen Bekannten aus der SAB berichtete. Beide hatten ihm gegenüber in voller Übereistimmung geäußert, dass der Verwendungsnachweis in vorliegender Form nach heutigem Stand keinen Ansatzpunkt für eine Rückzahlungsforderung seitens ihrer Behörde erkennen ließe. Danach hatte Volker das Anschreiben zum Verwendungsnachweis Lutger Krings zur Unterschrift vorgelegt. Auf Lutgers berechtigte Nachfrage, warum er das Anschreiben nicht selbst unterzeichnen wolle, hatte Volker Selketal ebenfalls eine schlüssige Antwort parat:
„Obwohl ich über eine uneingeschränkte Unterschriftsvollmacht für alle, durch meine Kanzlei getätigten Handlungen im Rahmen meines Vertragsinhaltes verfüge, halte ich es für transparenter gegenüber der Behörde, wenn der Betriebsleiter des hiesigen Unternehmens sein Einverständnis bekundet. Meine Vollmacht wurde aufgrund der Komplexität und des Umfangs meines Engagements bei Secury Tex vom CEO, also dem Big Boss des Konzernes unterzeichnet, und Lee Meiers kennt kein Mensch in der Sächsischen Aufbaubank in Dresden.“
Damit war nun auch klar, dass sich sein Aufwand der letzten Tage gelohnt hatte. Krings hatte ihm ein fürstliches Honorar in Aussicht gestellt, was er aber erst noch mit der Konzernspitze in Paris abstimmen musste und nur im Erfolgsfall gezahlt würde. Die Summe erklärte die Euphorie von Volker. Krings hatte ihm 100000 EUR in Aussicht gestellt und er war sich absolut sicher, dass er erfolgreich sein würde.
Wie auch anders: Selketal selbst hatte die Erfolgsampel auf „grün“ gestellt…