Читать книгу 3 Tickets um die Welt - Petra Babinsky - Страница 11
ОглавлениеGeduld mit dem Rocky Mountaineer: Von Calgary nach Vancouver
1.–2. Oktober
4.30 Uhr. Weckruf. Waschen, Zähne putzen und Koffer schließen. Wir sind die Ersten in der Lobby. Die Spannung steigt. Es hat etwas Harry-Potter-mäßiges. Reise nach Hogwarts. Ob Hagrid kommt und uns zum Gleis 9 ¾ bringen wird? Tatsächlich – zugegeben nur halb so mächtig und nicht so bärtig – kommt der Portier und nimmt uns die Koffer ab. In der Zwischenzeit ist die Zahl der Personen in der Lobby auf ein Dutzend gestiegen. Wir werden angewiesen, das Hotel nach rechts zu verlassen und gehen zwei Minuten die Straße entlang. Die Eingangstür eines großen Gebäudes steht offen. Über einen Gang kommen wir zu zwei großen Tischen. Das sind die Schalter zum Einchecken. Auf dem linken Tisch steht ein großer Aufsteller „Silver Leaf“, auf dem rechten „Gold Leaf“. 80 Leute warten bereits. Wir stellen uns am linken Tisch an. Das Einchecken geht richtig flott. Wo aber ist nun der Zug? Weit und breit kein Gleis, keine Schienen, kein Geräusch. Plötzlich rüttelt es und der Raum vibriert leicht. Schleif- und Bremsgeräusche folgen. Langsam quietschend öffnet sich eine breite Tür, dahinter sehen wir einen schmalen Gang. Am Ende des Gangs ein Eisentor. Es wird aufgeschoben. Da sind sie ja, die Gleise. Ein dumpfes „Dadamm, dadamm“ – der Rocky Mountaineer fährt ein, wie jeden Sonntagmorgen, 6 Uhr. Die Pfeife des Schaffners tönt schrill: Bitte einsteigen!
Wir finden unsere Plätze. Verstauen das Handgepäck. Unsere Koffer werden in den Gepäckwagen verfrachtet und eine halbe Stunde später verlässt der Zug mit keuchendem „Damm-da-damm“ den Bahnhof. Es ist noch dunkel. Die Scheiben sind leicht beschlagen. Dreimal bleibt der Rocky Mountaineer stehen. In Cochrane, Canmore und Banff. Weitere Gäste gehen an Bord. Der Platz neben Horst bleibt frei. Wir haben eine ganze Reihe für uns.
Die Hostess für unser Abteil stellt sich vor. Sie heißt Holiday und ist die Verkörperung von Ferien. Glänzende braune Augen, ein breites Lächeln und langes blondes Haar. Bei aufgehender Sonne fährt unser Zug rechts am Castle Mountain vorbei, linker Hand sehen wir den Hector Glacier und erreichen dann Lake Louise Village. Vor Horst sitzt ein zugbegeisterter Herr. Er fährt die Strecke schon zum dritten Mal, weiß haargenau Bescheid und klärt uns vollständig auf. Die höchste Stelle heute machen wir am Kicking Horse Pass. 1627 Meter. Upper and Lower Spiral Tunnel gehören zu den Attraktionen. Zwei hochkomplizierte, lange Tunnel. Vor hundert Jahren wurde ihr Bau begonnen. Sie drehen jeweils eine Schleife innerhalb der Berge. So verringern sie das ehemals gefährliche Gefälle. Viele Züge sind früher entgleist und kamen nur stückchenweise in Field an. Jetzt hat diese Strecke nur noch ein Gefälle von etwas über zwei Prozent und wir sollten sicher in einem Stück ankommen. Erstaunlich ist die Länge der Güterzüge, die hier unterwegs sind. Heute haben Horst und Mona die Waggons gezählt. Hundertsiebenunddreißig! Und das in Field, bevor es in die Spiraltunnel geht. Wir sehen Höhlen am Mount Field. Sie wurden von den Goldsuchern in die Felsen geschlagen. Die Fahrt führt am Kicking Horse River entlang. Milchiges Eisblau. Die Farbe erinnert mich an die Gletschereisbonbons, die meine Schwester Ingrid und ich als Kinder gerne gelutscht haben. Die Blätter der Bäume kleiden die Wälder in Grün, Gelb, Rot, Bläulich und Violett. Die immer wieder durchdringenden Sonnenstrahlen intensivieren ihre Erscheinung. Die Zitterpappeln sind jetzt gelb, an den Spitzen noch grün. Im Winter und im Frühjahr sind ihre Blätter silberfarben. Ein Käfer treibt hier sein Unwesen und vernichtet die Pinien peu à peu, meinen die beiden Herrschaften in der Reihe vor mir.
Entlang des Columbia Rivers driften wir zwischen den Zeitzonen: In Alberta ist es schon 13 Uhr, in British Columbia erst 12 Uhr. Durch den Canada Tunnel braucht unser Zug zehn Minuten. Wieder Brücken, Flüsse und Berge. Holiday hat uns die Spielregel für „Wildlife“ erklärt. Immer wenn ein Fahrgast ein größeres Tier entdeckt, muss er aufstehen, „Wildlife“ rufen und in die entsprechende Richtung deuten. Ein Bär wurde schon gesehen und einen großen Hirsch hat Horst entdeckt.
Das Wetter ist durchwachsen, mal bewölkt, teilweise sonnig, nahe der Berge wieder bewölkt. Kein Regen.
Zugegeben, Horst war beim Einsteigen in den Mountaineer enttäuscht über die Kategorie Silver Leaf. Wir hatten uns beim Buchen so etwas wie Businessklasse vorgestellt. Gold Leaf wäre dann First Class. Wir sitzen in der Silberblattklasse ähnlich wie in einem kleinen Flugzeug. Zweierreihe links, Mittelgang, Zweierreihe rechts. Die Tische sind am Vordersitz befestigt und zum Aufklappen. Die großen Fensterscheiben sind leider beschlagen und verschmiert. Mona meint, wir sollten da mal die Oma herschicken, die putzt die Fenster zum Durchsteigen. Nach und nach lassen wir uns auf das Zugabenteuer ein. Das Ganze ist recht gut organisiert. Das Frühstück hat uns geschmeckt, die Reiseinformationen sind gut. Zum Lunch gibt es auch in der Silberblattklasse Wein. Wir nehmen gern ein Gläschen Sauvignon Blanc mehr und halten im Anschluss ein Mittagsschläfchen.
Imposant erscheint vor uns die Stoney Creek Bridge. Es geht in den Tunnel am Mount Macdonald. Die Bergketten werden im Laufe des Tages niedriger, wir kommen ins flachere, grünere Land, Richtung Shuswap Lake. Der Zug bleibt immer wieder stehen und arrangiert sich mit den Gütertransportern. Die Strecke ist ja nicht nur für die Touristen. Gefühlte drei Stunden Verspätung haben sich schon angesammelt. Mona langweilt sich, nimmt es aber mit Humor und überlegt sich folgenden Witz:
„Heute hat uns eine Schnecke überholt!“ – „Wie das denn?“ – „Wir sind mit dem Rocky Mountaineer gefahren“. Und: „Der Zug steht die meiste Zeit, aber wenn jemand ,Wildlife‘ ruft, dann gibt er Gas“. Komischerweise ist das so, sobald jemand etwas erspäht, fährt der Zug schneller.
Auch in diesem Zug liegt das durchschnittliche Reisealter bei mindestens 60 Jahren. Nicht verwunderlich, dass die meisten Passagiere mit Davy Crockett aufgewachsen sind. Somit ist Mona mit ihrer Trapperfellmütze eine große Sympathieträgerin. Die Bordmannschaft geht mit den Fahrplanunregelmäßigkeiten gut um. Geschickt überbrückt Holiday die stundenlange Verspätung mit Späßchen und Anekdoten. Sie könnte im Zirkus geboren sein. Auf den Händen läuft sie durch den Mittelgang, das Tablett trägt sie dabei aber nicht auf den Fußsohlen. Schade, eigentlich. Respekt vor den Zugbegleitern. Für diese Strecke müssen sie ein ganzes Repertoire an Fähigkeiten mitbringen! Mona wird von Holiday mit einem Kuscheltier aufgemuntert. Ein schwarzer Bär mit einem Lachs im Maul. Die Verspätung dehnt sich aus. Die Bordküche ist wohl bereits darauf vorbereitet und kredenzt eine extra Brotzeit. Wir sind nun wieder beschäftigt – mit Essen und Trinken.
Irgendwie und irgendwann erreichen wir dann den Zielbahnhof. Kamloops. Im Gegensatz zum Canadian hat der Rocky Mountaineer keine Schlafkabinen. Zugbegleiter David händigt uns noch im Zug die Zimmerschlüssel aus. Ein Bus bringt uns ins Riverland Inn Hotel. Das Gepäck ist bereits auf dem Zimmer. Das ist richtig gut organisiert. Nach 16 Stunden Zugfahrt, 629 zurückgelegten Kilometern bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 35 Stundenkilometern und fünfmal von Schnecken überholt, vertreten wir uns etwas die Beine rund ums Hotel. Wie die müden Krieger kehren wir zurück. An der Wand in unserem Zimmer hängt ein Bild der Shuswap-Indianer. David hatte von den Indianern erzählt. Dass sie in Kamloops und Umgebung zu Hause waren. „Kamloops“ bedeutet in ihrer Sprache „Zusammenfluss des Wassers“. Damit gemeint sind der North und der South Thompson River. Genug von den Indianern für heute. Mona schläft bereits.
7.20 Uhr. Wir steigen in den Bus direkt vor dem Hotel. Auf dem Weg zum Bahnhof sehen wir Industriegebäude, es sieht alles etwas unaufgeräumt aus. Pünktlich um 8 Uhr schiebt sich der Mountaineer langsam aus Kamloops hinaus. Inzwischen ist unser Zug um einige Waggons länger geworden. Der Mountaineer Train aus Jasper kam gestern und wurde angekoppelt. Weitere 516 Gäste inklusive Besatzung. Mona sitzt heute auf der rechten Seite des Wagens, neben Horst. Wir fahren am Kamloops Lake vorbei. Fünfzig Kilometer Ufer mit Sonne und Wolken. Noch 460 Kilometer bis Vancouver. Die Länge der entgegenkommenden Güterzüge fasziniert uns. Schier endlos und doppelt hoch mit Containern bestückt. An meiner Fensterseite zieht Hügelland vorbei. Wüstenähnliche Vegetation, trockene Wälder und braunes Grasland. Mona freut sich über Dickhornschafe, die genüsslich vor sich hin grasen und sich vom Rattern des langen Zuges überhaupt nicht stören lassen. Gegen 9 Uhr wird Frühstück serviert. Jetzt wird es auch auf der rechten Seite wieder interessanter. Wir sehen den kleinen Ort Savona. Dort mündet der Thompson River in den Kamloops Lake. Wieder eine Ansammlung von Häusern. Alles sieht sehr abgeschieden und verlassen aus. Wir erreichen mit etwas Verspätung den Rainbow Canyon. Leider sieht er heute nicht so umwerfend regenbogenfarben schillernd aus wie auf den Bildern im Reiseführer. Die Sonne scheint nicht. David erzählt vom Bau der Bahnstrecke durch die engen Täler der Rockys vor 130 Jahren. Ziel des ersten Premierministers war es, den Osten und den Westen von Kanada zu verbinden – und das in zehn Jahren. Die Siedler und Goldschürfer in British Columbia sollten nicht auf die Idee kommen, sich den USA anzuschließen. 1858 wurden die ersten Goldfunde dokumentiert. Die damalige Hudson Bay Company errichtete entlang des Fraser Rivers Haltepunkte, um die Pelze von Bären und Bibern zu exportieren. Unser Zug steht schon wieder. Grund dafür ist ein ewig langer Güterzug, doppelgeschossig mit Containern beladen. Er darf die Brücke am Cisco Crossing nicht überqueren, er soll gesichert oder entladen werden. Eine Stunde lang tut sich gar nichts. Wir sehen am anderen Ende des vor uns liegenden schmalen Tunnels diesen Güterzug. Wer wohl Vorfahrt haben wird?
Inzwischen ist es 14.30 Uhr und es gibt zur Abwechslung wieder mal was zu essen. Lachs mit Kartoffelstampf. Die Zugbegleiter sparen nicht am Wein. Ah, da vorne tut sich doch was, der Güterzug bewegt sich rückwärts. Juhu! Und schon ruckelt unser Zug vorwärts. Der Güterzug steht auf dem Ausweichgleis. Mona zählt die Waggons. In Höhe von Nummer 90 bleibt unser Zug wieder stehen. Nach einer weiteren Stunde des Stillstands sind auch die Zugbegleiter leicht entnervt. Entgegen der Wettervorhersage gibt es Windböen und die Sicherheitspolizei erlaubt im Moment nicht, die Brücke zu passieren. Plötzlich bekommen wir doch grünes Licht. Wir dürfen fahren. Horst vermutet, unser Zug ist zu lang für das Ausweichgleis, deshalb muss der Gütertransport nachgeben. Unser Zug fährt über die Brücke am Cisco Crossing hinweg. Ein eigenartiges Gefühl, so extrem hoch über dem Canyon. Mona ruft plötzlich laut „Wildlife“ und deutet auf einen riesigen Elch. Und das ist wirklich einer. Denn so manches „Wildlife“, das ein Passagier entdeckt, erweist sich lediglich als Baumstamm. Der Zug fährt nun ruhig dahin. Nach einer weiteren Stunde taucht der Höhepunkt dieser Zugreise vor unseren Augen auf: Hells Gate. Tor zur Hölle. Simon Fraser erforschte das Tal und entdeckte 1808 den engen Canyon mit seinen gefährlichen Stromschnellen und meterhohen Sandablagerungen. Gesagt soll er haben: „... a place where no human should venture, for surely these are the gates of hell.“ Pro Minute fließt mehr Wasser durch diese enge Stelle des Fraser River als bei den Niagarafällen. Mona sieht dieses Naturschauspiel nicht mehr. Sie hat sich auf den beiden Sitzen rechts zusammengekauert und macht ein Nickerchen. Horst sitzt jetzt neben mir und wir reflektieren die Zugreise. Heute würden wir den Aufpreis für Kategorie „Gold Leaf“ doch bezahlen. Die Reisenden sitzen in einem zweistöckigen Waggon, im unteren Stock wird das Essen serviert, der obere Teil ist komplett verglast. Und die Reisezeit würden wir in den Frühling legen.
Die Dämmerung bricht an. Bevor der Nebel alles ummantelt, ein letzter Blick auf Hope. Eine kleine unspektakuläre Stadt, die 1850 von unglücklichen Goldsuchern gegründet und später im Zuge der Rambo-Filme noch mal populär wurde. Es fängt an zu regnen. Mona wacht auf und wir haben noch ein Viertel der Strecke vor uns. Die Skyline von Vancouver taucht auf. Holiday erzählt eine Indianerlegende. Wie Tag und Nacht entstanden sind. Mona versteht erstaunlich viel: „Mama, die Geschichte ist so schön. Können wir die aufschreiben und der Frau Häußermann schicken?“. Frau Häußermann ist Monas Lehrerin. „Sie kann sie dann meiner Klasse vorlesen.“ „Gute Idee, Mona. Deine Klasse wird sich freuen“, spricht es aus dem Herzen einer Grundschullehrerin.