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Mama

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An manchen Tagen ist „Mama“ ein nur schwer erträglicher Fachbegriff für eine in der Regel weibliche Person, die in ständiger Rufbereitschaft steht – und zwar rund um die Uhr.

Diese Person hätte jetzt so gar nichts dagegen, wenn man das Endlos-Mama durch Bezeichnungen wie „Papa“, „Oma“, „Opa“ oder irgendjemand anderen für eine zeitlich begrenzte Dauer von, sagen wir mal, etwa zwei Stunden bis ungefähr vierzehn Tagen ersetzen würde. Vor allem, weil die weibliche Person – insbesondere diese weibliche Person – ganz dringend mal Yoga machen müsste oder in die Sauna gehen müsste oder unbedingt mit der liebsten Freundin einen Kaffee trinken gehen müsste. Aufs Klo müsste sie auch mal. Und vor allem ans Meer.

„Mama, wie kann man in den Organspendeausweis eintragen, dass ich nur an Veganer Organe abgeben möchte?“ „Mama, haben Marienkäfer auch ihre Tage?“ „Mama, was passiert eigentlich nach dem Tod – also so ganz genau?“ „Mama, wie kann ich rausfinden, welche Farbe Tims Hose hat, wenn ich weiß, wie viele Äpfel er besitzt?“ Was? „Und was gibt‘s heute zum Mittagessen?“

„Mama???“ Mama hat Ohrstöpsel gefunden, die sie gerade benutzt. Stille. Außer den eigenen Darmgeräuschen ist nichts zu hören. Das gefällt mir so gut, dass ich sie einfach drin lasse. Den ganzen Tag. Damit ist man so gut wie unsichtbar. Man sieht zwar, wie sich die Lippen und Augenbrauen der anderen vehement bewegen, aber ich fühle mich so gar nicht angesprochen. Der eigene Puls erscheint einem fast wie Meeresrauschen.

Ich finde die Idee mit den Stöpseln so grandios, dass ich sie auch gleich allen meinen Patienten anbiete. Mehr braucht es nicht zur Heilung. Sie können meinen Ausführungen gerade nicht folgen. Das erkenne ich an der Augenbrauenstellung. Durchschnittlich betrachtet wird mehr die linke Augenbraue hochgezogen, während sich die rechte nach unten bewegt. Bei Linkshändern scheint die Bewegung umgekehrt zu erfolgen. Der Mund bleibt währenddessen leicht geöffnet. Das sieht zum Teil so lustig aus, dass ich überlege, ob ich nicht ein Foto von den Gesichtern machen soll. Ich lasse die Kamera aber sofort wieder sinken, als ich feststelle, dass sich die linken Augenbrauen jetzt ebenfalls nach unten bewegen. Anscheinend finde nur ich das amüsant.

Die Ohrstöpsel bieten auch die optimale Unterstützung bei der anstehenden Party am Wochenende. Meine Große wird achtzehn Jahre alt und eine wilde Party will vorbereitet werden. Mit geschützten Ohren fahren wir zum Discounter, um alles einzukaufen, was am Samstag aufgetischt werden soll.

Mein Kind rennt zwischen den Regalen hin und her und stellt mir unaufhörlich Fragen. Da keine Antwort kommt – ich kann sie ja nicht hören – zieht sie mir irgendwann beide Stöpsel aus den Ohren, holt tief Luft, um alles bereits Gesagte noch mal zu wiederholen, lässt es dann aber wieder bleiben mit den Worten: „Schon gut, Mama, halt dich einfach nur am Einkaufswagen fest, ich mach das schon.“ Geht doch.

Zu Hause bin ich dann etwas wohlwollender und erfülle meine letzte Amtshandlung als Mutter einer Achtzehnjährigen. Ich packe kleine Abschiedsgeschenke für die Gäste. So wie früher bei den Kindergeburtstagen. Im Vorbeigehen wirft mein Kind einen Blick über meine Schulter direkt in die Tütchen. „Zigaretten, Feuerzeug, Kondome und ein Schwangerschaftstest???“, kann ich an ihren Lippen ablesen. „MAMA?!“

Nachtigallensteine

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