Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 10
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Diese Maxime wurde auch für Georg wichtig. Aber prinzipiell neigte Georg nicht dazu, sich Maximen zuzulegen. Er entschied viel lieber spontan und ganz dem Augenblick verpflichtet. So passten die beiden eben einerseits zusammen und andrerseits wieder nicht, so wie es den meisten Paaren ergeht, und man muss irgendeinen Weg finden. Wechselseitiges Nachgeben. Streit bis zur Überzeugung oder Überredung eines Partners durch den anderen. Rückzug eines jeden auf seine Position, Rücken gegen Rücken stehen. Oder gar auseinandergehen. Für eine Zeit, eine kurze, eine lange, für den Rest des Lebens.
Georg sah Käthe wenig in diesen Tagen. Wenn er kam, nahm er den Kleinen auf den Arm, er machte es beherzt und geschickt, so als ob es eine Selbstverständlichkeit für ihn wäre, und das gefiel Käthe an ihrem Mann, dieses Zupackende. Er war vernarrt in seinen Sohn. Die Sorge, dass er zu schwach sein könnte, um zu bleiben, kannte er nicht oder er verbarg sie so tief in seinem Inneren, dass sie noch nicht einmal einen Anflug von Schatten auf sein Gesicht werfen konnte.
Eine Woche, zwei, drei. Wie sollte es jetzt weitergehen? Bald war März, das war der Zeitpunkt, wo man spätestens wissen sollte, wo man im Sommer arbeiten würde.
„Der Albert hat mir geschrieben. Er hat was für uns, Käthe. Drüben überm Rhein, in Badenweiler. Kurhaus. Also keine schlechte Adresse. Der alte Pächter macht’s vielleicht nicht mehr lang. Wir wollen uns das anschauen, mit Blick auf die Zukunft, verstehst du? Es ist eine Riesenchance.“
Käthe hatte wirklich gehofft, dass sie über den Rhein zurückgingen, mehr in die Nähe seiner Familie. Sie hatte gehofft, den Kleinen dort unterzubringen, jedenfalls in den Stunden, in denen auch sie wieder arbeiten wollte und musste. Und so stellte sie nun fest, dass Georg schon Pläne hatte, die er nicht mit ihr, sondern mit seinem Bruder geschmiedet hatte.
Georg und sein Bruder Albert waren ein Gespann, von frühester Kindheit an.
Schon zu Hause rückten sie zusammen, nachdem der kleine Johann Jakob, der zwischen ihnen geboren wurde, starb mit nur drei Jahren. Als die Mutter den kranken Bruder aus dem Bett nahm, das er mit Albert teilte, schlüpfte Georg hinein in die Hitze seines Fiebers und kuschelte sich an den Rücken des zwei Jahre älteren Bruders. Da waren sie zwei und vier Jahre alt. Von da an waren sie unzertrennlich. Georg half mit beim Wegsammeln der Grumpen, der nicht brauchbaren Blätter der Tabakpflanzen, als die Eltern das von Albert verlangten. Weg mussten sie, damit sie nicht nass dort liegen blieben, schimmelten und die Sandblätter verdarben, die edleren, größeren, die später als Umblätter für die Einlagen dienen würden und das meiste Geld brachten. Georg tat es vor allem, um dem Bruder nah zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war er sechs und Albert acht Jahre alt.
Seit Generationen verdienten sich die Hugs ihr Brot als Tabakbauern, lebten recht und schlecht davon, so wie fast alle im Dorf, dort in der Ebene, nahe dem Rhein, wo man im Sommer manchmal meinen konnte, man wohne in Afrika. Manches Kindchen starb an einem Mückenstich, der sich von einem kleinen rosa Punkt in einen tellergroßen harten scharlachroten Plätzer mit rotem Stiel verwandeln konnte, eine giftige Quaddel, schwanger mit einem Todeskeim. Das nämlich war dem kleinen Johann Jakob passiert, dem Jaköble, wie sie ihn genannt hatten; alle, die Eltern, der Ernst, der David und der Albert, der gerade die ersten selbständigen Schritte getan hatte, waren sie begeistert um das neue Kindchen herumgestanden, als es zum ersten Mal seine Augen parallel schalten und auf die Augen seines Gegenübers richten konnte, als es begann, den zahnlosen Mund in einem breiten Lächeln zu öffnen, und als es schließlich in ein Lachgrunzen ausbrach, wenn man ihm mit den Fingern auf dem Bauch herumdrückte oder am Ohrläppchen zog. Es war für die älteren Söhne der Hugs, so als ob sie zurückschauen könnten und in ihm die eigene Vergangenheit sähen, eine paradiesische Zeit, in der Mutter und Vater ihr Lächeln und ihre Sanftheit auch auf sie verschwendet hatten, so wie jetzt auf ihn und später dann auf den kleinen Georg, den Johann, die Katharina und noch später auf das neue Jaköble, das auch nur ein paar Wochen bei ihnen blieb. Die Tränen der Sorge und die schluchzende Verzweiflung beim Tod Jakobs des ersten verschaffte den anderen Söhnen von Johann Michael Hug und seiner Frau Catharina Barbara eine Ahnung davon, wieviel auch sie ihren Eltern bedeuteten. Denn das auszusprechen, dazu reichte die Zeit nie, fehlten die Energie, der Frohsinn, die Lebensleichtigkeit.
Trotz dieses frühen Arbeitseinsatzes bestand Frau Hug darauf, dass ihre Söhne Kinder waren und blieben, bis ihre Stimmen zu krächzen begannen und ihre Kinne kantig, die Rücken breiter wurden. Die Mutter wollte, dass jedes ihrer Kinder ein Paar Schuhe hatte, damit es von Oktober bis März in die Dorfschule gehen konnte. Jeder. Die Lederstiefel wurden am Samstagabend geputzt und gewachst, damit sie in der Kirche Gottes Wohlgefallen fanden und damit sie eines Tages weitergereicht werden konnten auf das nachkommende Kind, auch auf die kleine Maria Frieda, die zur großen Befriedigung der Mutter kam und blieb. Eines Tages würde sie in der Küche neben der Mutter stehen und wer weiß, vielleicht musste sie später den alten Eltern den Haushalt führen, wenn ihre Rücken sich gekrümmt und die Gelenke sich schmerzhaft versteift hatten. So geschah das nämlich schon seit Generationen. Ob es gut war oder schlecht, das fragte man nicht. Es war eben so.
Die beiden Jaköble hatten viel zu früh herauswollen aus dem warmen Bauch der Mutter und dann die andere Wärme und die Hitze des frühen Sommers einfach nicht gemocht. Nicht genug Luft zum Atmen hatten sie wohl, als die Schwüle kam. Die Mutter weinte still vor sich hin in ihrem Bett, in dem sie ihr totes Kind einen ganzen Tag lang betrauerte, bis man es ihr gewaltsam wegnahm, bis ihr Mann ihr von seinem kostbaren Zwetschgenschnaps ein und ein zweites und noch zwei weitere Gläser voll einflößte und sich eine Weile zu ihr setzte, Hand in Hand mit ihr auf die Ruhe der Einsicht in diese so alltägliche Auflad’ wartend. Der Herrgott gibt’s und nimmt’s halt wieder. Wir Menschen sollten nicht zu viel Getue um den Einzelnen machen. Das Leben ist doch hart genug. Man muss es einfach hinter sich bringen.
Die Schuhe und die feinen Westchen für den Sonntag, die schön gestrickten Pullover mit den raffinierten Mustern, die sie unverwechselbar machten. Der Strich einer Bürste über jedes der braunen Köpfchen, bevor es am Sonntag in die Kirche ging, das alles und dann die Erzählungen der Catharina Barbara aus der Zeit, als sie beim Oberamtsrichter Eichrodt im Haushalt angestellt war, das waren Georgs und Alberts gemeinsame Erinnerungen.
Der Eichrodt’sche Haushalt erschien in vielen Geschichten, die Catharina ihren Kindern erzählte. Seine Familie, inklusive der Dienerschaft, versammelte der Herr am Sonntagnachmittag um sich und las ihnen seine Gedichte vor. Beobachtete scharf ihre Reaktion und – darauf schwor die spätere Frau Hug einen heiligen Eid – veränderte sie, wenn man nicht lachte oder nicht das Gesicht staunend verzog, gerade so, wie er es eben wollte und sich erhoffte.
„Was ist die Gotteswelt doch schön, wenn man gerade Glieder hat, gut hören tut und richtig sehn, so schön ist es in keiner Stadt.“
Das konnte die Mutter auswendig, das konnten auch Georg und Albert auswendig und sagten es sich vor, manchmal, wenn es sie in eine große Stadt verschlug, nach Paris, nach Berlin, nach London, und sie sich ein bisschen einsam fühlten, ein bisschen aufgeweicht von Heimweh nach den Rheinauen und dem Geratsche der Schwäne oder dem Klackern der jungen Kröten im sumpfigen Gras.