Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 23

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Als es wärmer wurde, ließ er sich also von Amir Komarowski abholen zum Fahrradfahren oder zum Ballspielen auf der Lichtenthaler Allee, dann später zum Tennisbälle Einsammeln an den Plätzen, wo die Herren der großen Villen am Hang sich nach und nach einfanden, da war dann auch der Hermann dabei, der Sohn vom Pfarrer, und der Kurt, der Sohn vom Kurarzt. Am Ende eines langen Nachmittags steckte man jedem der Buben eine Münze zu, einen Zehner, einen Fünfziger oder einmal sogar eine Mark-Münze. Das Geld wanderte in die Zigarrenkiste und sammelte sich dort an. Manchmal legte Willi alles auf seinen Schreibtisch nebeneinander, dann zählte er die Münzen, notierte sie nach Wert, addierte am Schluss und unterstrich diese Summe, indem er sein hölzernes Lineal zu Hilfe nahm, das letzte Weihnachtsgeschenk von Mine und Fried. Diese Summe gab ihm Anlass, beim Einschlafen über Anschaffungen nachzudenken und sich auszumalen, wie der Erwerb dieser Dinge sein Leben verändern könnte.

So und ein bisschen anders ging es weiter. Willi brauchte neue Hosen, weil die anderen zu kurz geworden waren und der Hosenbund spannte, er brauchte neue Stiefel, er schrieb nicht mehr auf die Schiefertafel, sondern in richtige Hefte aus Papier. Die Mutter durfte ihn nicht mehr küssen, wenn der Hermann und der Amir ihn abholten, er brachte Jenny eine Rose mit, als sie Geburtstag hatte – nach langem Hin und Her: sollte er sie einfach abpflücken, dort in der Anlage, wo so unzählig viele nebeneinander standen und eigentlich doch keiner eine besondere Bewunderung zukam, eine der Art, wie Jenny sie zollen würde, davon war er überzeugt, oder war das eventuell Diebstahl und könnte er von einem dicken Polizist am Jackenkragen gepackt und ins Gefängnis gezerrt werden? Also wäre es nicht besser, diese Rose mit eigenem Geld, das er doch hatte, in einem Blumenladen zu kaufen? Dabei fühlte er sich dann wohler, er hätte keine Entschuldigung gehabt für den Diebstahl, das wäre das größte Problem gewesen.

An einem Abend im November, als er nicht allein nach Hause gehen wollte und sich deshalb bis spät in die Nacht noch auf der Lauer befand, wann die Eltern wohl endlich Schluss machen würden und er mit ihnen zusammen zurückgehen könnte in das kalte, leere dunkle Haus am Hang, vertrieb er sich die Zeit damit, so viele halb leere Weingläser an der Theke auszutrinken, dass ihm schwindelig davon wurde und er in die große Bodenvase taumelte, sie umriss, sodass sie zerbrach und das Wasser sich über den spiegelglatten Marmorboden der Eingangshalle ergoss.

Der Vater kam gerannt mit allen anderen, die den Lärm hörten, stemmte die Hände in die Hüften und polterte: „Was ist denn da los“, griff sich seinen Sohn, schnupperte an ihm und dann begann er zu lachen, er lachte noch immer, als Käthe Willi an der Hand nahm und wegzog und dabei ein sehr böses Gesicht machte.

Man konnte eigentlich nie sicher sein, wie etwas ausgehen würde, am besten man war immer auf alles gefasst und überlegte schon mal, was man tun könnte, wenn ...

„Wir leben noch“, sagte Amir immer. Er sagte eigentlich wir „läbben noch“. Und das sei das Wichtigste. Alles andere lasse sich irgendwie richten, solange man noch seine Arme und Beine habe und vor allem seinen Kopf auf dem Hals.

Inzwischen war Willi zehn Jahre alt geworden und würde bald nach Weihnachten schon elf Jahre alt sein.

Am 12. November kam Herr Schupp, der Klassenlehrer, eines Morgens ins Klassenzimmer und teilte ein Blatt aus, ein Formular, das sie den Eltern geben sollten. Es ging um die mögliche Überleitung in eine andere Schule. Nicht alle bekamen dieses Blatt, in Wirklichkeit waren es sogar nur wenige, aber Willi war dabei. Zunächst hatte er keine Ahnung, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Da auch der Kurt und der Hermann solch ein Formular bekommen hatten, wendete er sich an sie und sie erklärten ihm, dass es hier um eine „höhere“ Schule gehe, eine, in der man Mathematik und fremde Sprachen lernen könnte. Nur die guten Schüler, die besten genaugenommen, dürften dorthin gehen. Am Samstag müsste man sich anmelden.

Zu Hause las er sich das Formular durch und trug ein, was er wusste. Name des Vaters, Adresse, Beruf. Seinen Namen, sein Geburtsdatum, die Noten in Rechtschreiben, Rechnen, Heimatkunde, Sport. Am Samstag zog er sich seinen Anzug an, die besten Stiefel, nachdem er sie noch einmal mit einem weichen Tuch poliert hatte, dann machte er sich auf zu der neuen Schule, Kurt und Hermann hatten ihm den Weg genau erklärt.

An der großen, schweren Tür klebte ein Plakat mit dem Hinweis auf das Zimmer 27, erster Stock links. Dort heute Anmeldung der Sextaner. Willi stapfte die Treppe hinauf und klopfte an der Tür. Am Pult saß ein Herr mit einem Zwicker.

„Ja?“

Willi trat ein und näherte sich dem Pult, streckte die Hand aus und beugte zackig den Kopf, so wie es Mine ihm erklärt hatte. Dann setzte er sich auf einen der beiden Stühle vor dem Pult, nachdem er zuerst das Formular aus seiner Hosentasche gezogen, auseinandergefaltet und vor den Herrn auf die Tischplatte gelegt hatte.

„Ich komme zur Anmeldung.“

Der Mann reckte das Kinn, nahm das Formular und begann, es zu lesen.

„Du bist der Willi Hug? Dein Vater ist im Hotel Krokodil tätig als ... äh ...“

„Mein Vater, meine Mutter, der Onkel Albert und die Jenny, die machen das zusammen. Das Hotel. Die sagen den anderen, wie’s gemacht wird. Alles. Das Kochen, das Tischdecken, die Getränke. Auch die Zimmermädchen, der Portier, der Liftboy, alle müssen tun, was mein Vater sagt.“

„Trotzdem, mein lieber Willi, wäre es heute nötig, dass dein Vater hierherkommt mit dir zusammen, um dich anzumelden, weil du nämlich noch nicht volljährig bist und noch nicht darüber bestimmen kannst, was mit dir geschieht.“

„Aber ich bin schon zehn und werde im Januar schon elf“, versuchte es Willi noch einmal. Es half nichts, das sah er schon am Gesicht des Herrn mit dem Zwicker, der ruhig blieb und freundlich, als er ihm sein Formular wieder entgegenstreckte.

„Wir sind noch eine weitere Stunde hier. Geh und hole deinen Vater, dann werden wir dich hier anmelden können.“

Nun gab Willi Fersengeld. Rannte ins Hotel, wo war der Vater? Er erwischte ihn, kurz bevor er in seinem Büro verschwinden wollte und hielt ihn am Ärmel fest.

„Vater, du musst mit mir kommen zur Schulanmeldung.“

Georg nahm das Formular und las es durch.

„Mein lieber Herr Sohn, was hast du da für großspurige Pläne? Willst du ein Pfaffe werden oder ein Kurpfuscher oder ein Rechtsverdreher?“

Er machte eine Pause. Willi ahnte, dass Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden.

„Ich bin ein guter Schüler, ich darf auf die höhere Schule gehen. Da lernt man ...“

„Ein guter Schüler, mein Herr Sohn. Das ist schön. Aber wozu muss ein guter Schüler auf eine andere Schule als diejenige, die ihn dazu gemacht hat, zu einem guten Schüler?“

Der Vater packte das Formular in beide Hände und zerriss es.

„Schlag’s dir aus dem Kopf, mein Lieber. Für so etwas haben wir kein Geld. Das brauchen wir nicht. Deine Mutter und ich sind auch nicht auf eine höhere Schule gegangen und hier sind wir und verdienen unser Geld. Gutes Geld. Wir sind jetzt bald unser eigener Herr, Willi, wir sind dabei ein eigenes Hotel aufzubauen. Deine Mutter und ich. Jeden Pfennig sparen wir dafür, verstehst du das? Dann bist du der Sohn vom Hotelier Hug. Das ist besser als höhere Schule. Bildung, mein Lieber, Bildung gibt es anderswo zu holen. Sperr deine Augen und Ohren auf, dann weißt du, wie das Leben läuft. Und das ist wichtig. Wir wollen keinen Bücherwurm und Stubenhocker. Das wird man dort in dieser Anstalt. Also hopp hopp jetzt, raus hier, ich habe noch zu tun.“

Geld also, es ging dem Vater also darum, dass es Geld kostete! Entschlossen rannte Willi hinaus, lief hoch zur Villa, holte den versteckten Hausschlüssel unter dem umgedrehten Blumentopf hervor, schloss die Tür auf und trappelte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Er zog die Zigarrenkiste unter seiner Matratze hervor, prüfte, ob das dicke Gummi hielt, dann sauste er wieder hinunter, schloss die Eingangstür ab, versteckte den Schlüssel und eilte zurück ins Hotel. Dort ohne zu zögern zum Büro des Vaters, direkt zu seinem Schreibtisch und bevor der Vater ein Wort sagen konnte, hatte Willi die Zigarrenkiste vom Gummi befreit, sie geöffnet und ihren Inhalt ausgekippt. Er stemmte beide Hände in die Hüften und sah den Vater herausfordernd an.

Ein herrliches Vergessen

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