Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 14
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Seinen vierten Geburtstag verbrachte Willi in dem sehr schönen Haus am Hang mitten zwischen Weinreben gelegen, er saß neben Herrn Regelmanns Rollstuhl und las dem alten Mann aus seinem Bilderbuch vor oder tat jedenfalls so, indem er alles, was er sah, in Wörter und Sätze verwandelte. Herr Regelmann fühlte sich gut unterhalten und Willi war unter Aufsicht in den Stunden, die sowohl seine Mamamine, wie er sie inzwischen nannte, als auch die anderen beiden Frauen im Laden rund zwanzig Gehminuten vom Haus entfernt, zu tun hatten. Amalie, die Haushälterin der Regelmanns, selbst eine fünffache Großmutter, hatte keine Mühe damit, neben Herrn Regelmann auch den kleinen, sehr braven und anhänglichen Pflegesohn der Frau Frei mit zu beaufsichtigen, der ihr bisweilen auf Schritt und Tritt folgte und ihr Löcher in den Kopf fragte.
So vergingen zwei weitere Jahre seines Lebens. Während in Deutschland Tumult tobte, die Sozis mit den Kommunisten stritten und eine Zentrale Mitte verzweifelt sich mühte, den Kahn wieder ins ruhigere Wasser zu manövrieren, lernte Willi, sich die Schnürsenkel selbst zu binden, er malte die ersten Kopffüßler, benannte die Tiere im Garten, den Hahn, die Hühner, die Zwerghasen, die Bienen, die Wespen, die Amseln, Raben und Tauben; dem kleinen Chouchou warf er Stöckchen und lehrte ihn die Zeitung zu Herrn Regelmann hinaufzutragen, der sie dann mit seligem Lächeln eine Weile in der gesunden Hand hielt, so als ob er sie jeden Moment aufschlagen und lesen wollte.
Mine schrieb Briefe nach Badenweiler, legte Zeichnungen und mit einem Seidenband zusammengehaltene Löckchen bei. Käthe freute sich, wenn alles bei ihr eintraf, aber manchmal dauerte es ein, zwei Tage, bis Georg Zeit hatte, darauf zu schauen. Dass er nichts sagte, wenn er diese Briefe las, dass er die Löckchen zur Seite legte, mochte seine Art sein, den Trennungsschmerz zu verdrängen.
Ein paar Briefe kamen auch zurück, öfter mal eine schöne Postkarte, da stand nur Kuss von Mama und Papa drauf, weil Willi das schon lesen konnte, wie er es nannte. Aber in keinem der Briefe konnte Käthe erzählen, was sie der Freundin vielleicht zugeflüstert hätte, wenn sie noch in der Nähe gewesen wäre. Dass es ihr eine Woche lang schlecht gegangen war. Sie war hinüber über den Rhein gefahren, nicht ganz ungefährlich zu dieser Zeit, hatte die Pannier bitten müssen, ihr zu helfen. Die schüttelte den Kopf und hielt ihr eine Standpauke.
„Jamais, jamais je ne le ferais encore une fois, tu entends, toi?“, hatte sie mit zischender Stimme geflüstert und ihr dann genaue Anweisungen gegeben, was sie tun müsse, damit sie nicht mehr in eine solche Situation käme. Käthe hatte diese Entscheidung vollkommen allein getroffen. Sie hatte Georg nur gebeten, ihr das Geld zu geben. Es aus den Ersparnissen herauszunehmen. Und dann gab es kein weiteres Wort darüber. Danach dauerte es lange, bis er sie wieder anfassen wollte. Als sie endlich wieder einmal Arm in Arm müde beieinanderlagen, spürte Käthe plötzlich etwas Nasses an ihrer Wange. Sie drehte den Kopf und sah, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen.
„Ich hätte gar nicht heiraten dürfen“, sagte er.
„Meinst du das wirklich, Georg? Oder was meinst du eigentlich? Wir hätten keine Kinder haben dürfen? Auch ihn nicht?“
Ihr Mann blieb stumm und regte sich nicht.
„Ich liebe ihn sehr. Er ist mir sehr, sehr wichtig.“
„Wichtiger als ich, das weiß ich.“
Jetzt blieb sie stumm.
Beim nächsten Besuch fuhr er mit an den See. Ohne Erklärung. Hatte sogar eine kleine bunt bemalte Holzeisenbahn und einen Kreis Holzschienen besorgt aus seinem Heimatdorf. Setzte sich auf den Boden und verbrachte dort einen ganzen Nachmittag zu Füßen des staunenden Herrn Regelmann zusammen mit dem glückseligen Willi, während Käthe für alle Maultaschen mit Fleisch füllte und in der Brühe kochte, dazu Zwiebelringe in Butter dünstete, Petersilienzweige ins schwimmende Fett tauchte und das starre Sträußchen zwischen die zu einem Berg aufgehäuften Teigtaschen steckte. Das war einer der glücklichsten Tage in Käthes Leben. Viele Male würde sie ihn sich ins Gedächtnis rufen, wenn schwere Sorgen sie davon abhielten in den Schlaf zu fallen.