Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 19

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Es gab wieder eine Routine, eine kleine Geborgenheit inmitten der Hektik des sich ständig wandelnden Hotelalltags. Morgens weckte ihn die Mutter und sagte: „Los, los, keine Müdigkeit vorschützen!“

Er zog sich die Kleider an, die sie ihm irgendwann in der Nacht noch bereitgelegt hatte und griff sich seinen Ranzen, aus dem das Schwämmchen der Schiefertafel baumelte. Dann ging’s an der Hand der Mutter hinunter zum Hotel und dort in irgendein verborgenes Eckchen, wo er möglichst wenig störte, wo ihm aber ein schönes Frühstück aufgetischt wurde. Eine heiße Schokolade und ein duftendes warmes Hefehörnchen. Dann hatte er sich zu beschäftigen, bis es Zeit war für die Schule. Aber wenn es Zeit wäre zu gehen, war keiner da, der ihn daran erinnerte, und die Uhr konnte er noch nicht lesen. Also ging er los, wenn ihm langweilig war oder wenn er mit der Sache fertig war, mit der er sich beschäftigt hatte. Das war oft eine Zeichnung, die seine Konzentration in Anspruch nahm; er wollte sie richtig schön machen, stellte sich vor, wie Mutters Augen strahlten, wenn sie sie in den Händen halten würde, oder auch ein Bild für Herrn Regelmann, auf dem er Herrn Lauble mit blauer Zunge darstellte, in der erhobenen Hand hielt er sein Dirigentenstöckchen. Ach ja, Willi vermisste Herrn Regelmann sehr und er vermisste Helene, also malte er auch für sie ein Bild, das er in den Umschlag schmuggelte, in den Käthe ihren Brief an Mine und Fried steckte, bevor Willi ihn zum Briefkasten tragen durfte.

Er kam zu früh oder zu spät zum Unterricht und lernte den Unterschied zwischen diesen beiden Situationen kennen. Erkenntnisse aber zog Friedrich aus Willis zeitweiligem Versagen. Er machte sich zur Regel, den Freund abzuholen. Kam herüber vom „Bellevue“, da gehörte er nämlich hin, war also ein richtiger „Kollege“, wie die Mutter es nannte, spazierte schnurstracks hinein ins Hotel wie ein feiner Herr und suchte seinen Freund, stupste ihn an und sagte: „Willi, kommst du, s’isch Zeit!“

Willi erreichte von nun an den Unterricht immer pünktlich. Friedrich wurde von ihm Fritz genannt. Fritz behielt von ihrem ersten Kampf eine drei Zentimeter lange Narbe über der Augenbraue, das stellten die beiden an dem Tag fest, an dem sie begannen mit Zentimetern und Metern zu rechnen. Das war schon zwei Jahre später.

Käthe hatte sich im Kurhotel gehalten, eine Saison nach der anderen. Georg ging dahin und dorthin. Zwischendurch auch immer wieder mal nach Baden-Baden, dort auch abends ins Casino, um sein Glück herauszufordern, aber auch hinüber nach Frankreich, um neue Weine auszusuchen zusammen mit dem Albert und mit Irmi, die eben beweglicher war als Käthe in jeglicher Hinsicht.

Dann nahte der Sommer 1923 und Willi und Friedrich mussten sich trennen. Käthe, Georg und Albert hatten zusammen in Baden-Baden das „Krokodil“ übernommen. Gepachtet vorerst, mal sehen, wie es weitergeht. Ein Besitzerwechsel stand an, das hörte Willi, weil es immer wieder laut und leise und vor und hinter den Türen wiederholt wurde. Irmi war nicht mehr dabei. Dafür gab es jetzt Jenny. Albert hatte sie aus München mitgebracht, wo er den letzten Winter im Bayerischen Hof als Sommelier gearbeitet hatte.

Albert erzählte eine aufregende Geschichte von der Revolution in München, wie die aufgebrachte Menge von Menschen marschiert war, die schöne prächtige Ludwigstraße entlang auf den Odeonsplatz zu, wo sich die Feldherrnhalle erhob. Wie dann geschossen wurde und ...

„Warst du dabei, Onkel Albert?“, wollte Willi wissen.

Nicht direkt, sagte Albert, aber fast. Jedenfalls kamen einige aufgeregte Männer die Straße entlanggelaufen und schrien laut: „Das ist noch nicht vorbei, die schießen noch!“

„Und dann, Onkel Albert?“

„Dann war sie zu Ende, die Revolution. Aus und vorbei. Festgenommen haben sie die Putschisten und ins Gefängnis gebracht. Jetzt ist wieder Ruh’ im Land Bayern.“ Aber trotzdem hatte Albert die Jenny gerettet vor der Revolution, indem er sie einfach mitgenommen hatte hierher ins schöne Baden, in den Schwarzwald. Jenny war eine Erbin, was das ist, wusste Willi nicht; alle machten eine Art Verbeugung vor ihr, die man zwar nicht wirklich sah, aber spürte. Jenny war ganz anders als Irmi. Sie war sanft und still und bescheiden und nachgiebig und Käthe hatte nichts gegen sie. Noch vor Silvester würden Albert und Jenny heiraten, dazu fuhren sie noch einmal zurück nach München, wo Jennys Eltern ein großes Fest ausrichteten. Käthe hielt die Stellung, während Georg mitfuhr mit seinem Lieblingsbruder, er war sein Trauzeuge. Willi fühlte sich hin- und hergerissen. Würde er lieber mit dem Vater gehen oder lieber bei der Mutter bleiben? Bevor sich dazu irgendeiner eine Frage stellte, war es klar, dass das eine von Georgs Extratouren sein würde, die Käthe in Frage stellte, und immer seltener konnte sie mit ihren Vorhaltungen warten, bis Willi schlief, immer öfter wurde er Zeuge von lauter und lauter ausgestoßenen schnellen, scharfen Sätzen, die wie Steine zwischen den Eltern hin und her flogen. Meistens bekam Willi Bauchweh davon und wollte dann nichts mehr essen. Erst wenn er sah, wie sie einander anlächelten, wenn sie sich stumm verständigten über dies und das, was sie eben so und nicht anders haben wollten, dann ließ das Tier in seinem Bauch wieder los und er freute sich auf Fleischbrühe mit Markklößchen und einem Sträußchen im Fett herausgebackener Petersilie.

Ein herrliches Vergessen

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