Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 22

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Wie schnell wurde es dann stürmisch! In der Gönneranlage gab es fast keine Rosen mehr, von den alten Bäumen in der Lichtenthaler Allee fielen die handtellergroßen bunten Blätter. Eines Tages brachte der jüngste Sohn der Birons ein kleines Fahrrad, das ist für Willi und seine Mutter lässt fragen, ob Käthe am nächsten Sonntag wieder einmal zum Kochen kommen kann. Dann brauchte Willi neue Stiefel und einen Schal und ein dicker Adventskranz wurde in der Eingangshalle aufgehängt.

Seinem Vater wäre es recht gewesen, wenn er sich mit Joseph Warminger angefreundet hätte. Dessen Vater war der Dirigent vom Kurorchester und auch ein Stammkunde, ein gerne gesehener Gast, besonders wenn er die Solokünstler und ihre Entourage mitbrachte, abends nach den Konzerten. Da wehte durch die Halle ein ganz besonderer Wind, der Georg an die Zeit auf der Lusitania erinnerte oder vielleicht sogar ans Adlon, wenn dort die adligen Herren mit Damen am Arm erschienen, die ihre Nasen und Münder diskret hinter langhaarigen Pelzkrägen verbargen, sodass ihre Augen darüber wie Magnete wirkten, in deren Bann man nicht geraten durfte, weil man sonst seine Position vergessen konnte, dass man nämlich ein Niemand war, ein namenloser Schatten, ein Hintergrund, vielleicht ein angenehmer, wenn man seine Sache gut machte, einem weichen Teppich vergleichbar.

Im Advent nahm die Hektik zu und Willi mit seiner Wuseligkeit, seiner Neugier, seiner Energie war wieder einmal überall im Weg.

„Ach Gott, was soll ich sagen, es wird Zeit, dass du mal allein bleibst droben im Haus, es kann dir dort doch nichts passieren und du weißt doch, dass wir dann auch nach Hause kommen.“

„Aber nein, meine liebe Frau Hug“, Herr von Majakovsky verstand, dass das Kind nicht oben in der Villa bleiben wollte. Allein! Er kannte dieses Gefühl des Alleinseins, es war nicht gut, wenn das schon ein Kind verspüren musste. Also bat er um die Erlaubnis, Willi unter seine Fittiche zu nehmen, dann und wann einen kleinen Ausflug mit ihm zu machen.

„Ja, also wenn er Sie nicht stört.“

Nein, im Gegenteil.

So zogen also diese beiden los und Willi wusste nicht, wie ihm geschah, als er mit Herrn von Majakovsky plötzlich in einer großen Halle voller Menschen saß, direkt neben einem Mann, der Klavier spielte, und es dunkel wurde und vorne auf einer großen Fläche Bilder entstanden, die sich bewegten, und sie eintauchen konnten in eine andere Welt, ihre eigene Bedingtheit, ihre Sorgen, die quälenden Unzulänglichkeiten ihres realen Lebens vergessend.

Es war eine aufregende spannende Geschichte von einem kleinen Jungen und einem Mann, die sich zufällig treffen. Der Mann ist Glaser, aber keiner in der Stadt braucht neue Fenster. Da haben sie zusammen eine rettende Idee: Der Junge wirft Steine in die Fenster und rennt schnell weg. Daraufhin kommt der Mann und bietet an, sie zu reparieren, was nun gerne jeder annimmt. Als ein großer dicker Polizist den beiden auf die Schliche kommt, wollte Willi aufstehen und gehen. Gott sei Dank blieb er dann doch sitzen bis zum guten Ende.

Tagelang sah er die Bilder immer wieder vor sich, erinnerte sich an die Geschichte, plagte die Mutter, noch einmal mit ihm dorthin zu gehen zum Kinematographen, aber sie hatte einfach keine Zeit dazu, das musste er doch verstehen. Jenny ließ sich schließlich von ihm gewinnen mitzukommen. Der Mann an der Kasse erinnerte sich noch an ihn, weil Herr von Majakovsky ihn förmlich vorgestellt hatte, „der Kleine aus dem ,Krokodil‘ “, sagte er und der Mann an der Kasse nickte Verstehen.

„Na, mein Freund, hat’s dir so gut gefallen?“, begrüßte er ihn lächelnd. Und Willi nickte.

Von da an machte er sich regelmäßig auf nach dem Mittagessen, wenn die Hausaufgaben fertig waren, und schlenderte hinüber ins Aurelia Kino zu Herrn Beck, so hieß der Besitzer, sein neuer Freund, nur um ihm guten Tag zu sagen oder vielleicht um die Prospekte in der Eingangshalle zu sortieren, die abgerissenen Eintrittskarten und die Bonbonpapiere vom Boden zu sammeln oder auch alles, was die Damen und Herren so zwischen die Stuhlreihen hatten rutschen lassen, für Herrn Kammerle, den Pianisten, die Noten zu sortieren, ihm sein Bier und seinen Wurstweck zu bringen, und dies und das.

Kurz vor Weihnachten rief Herr Beck Willi zu sich und hielt ein kleines grünes Blatt in der Hand.

„Weißt du, was das ist, Willi?“

Nein, er wusste es nicht.

„Das ist ein kleines Wunder. Es ist ein Geldschein, ein ganz neuer. Eine Rentenmark. Die kriegst du jetzt von mir für alle deine Arbeit, die du für mich hier geleistet hast. Wer arbeitet, hat verdient, bezahlt zu werden. Schau sie dir an, diese neue Mark. Sie ist klein, aber fein. Auf die werden wir uns wieder verlassen können.“

Willi steckte das Papier ein und zeigte es niemandem. Eine Weile trug er es in der Hosentasche, kruschtelte es immer wieder heraus und betrachtete es. Dann legte er es irgendwann vorsichtig in die Zigarrenkiste, die er von Herrn von Majakovsky geschenkt bekommen hatte und in der er seine Klebebildchen aufbewahrte. Lange überlegte er hin und her, was er dafür kaufen könnte. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt betrat er nun das ein oder andere Geschäft und fragte nach den Preisen der Waren, die man dort ausgestellt hatte. Was kostete diese Bonboniere, dieses Stück Seife, diese Zigarre? Für seinen Vater als Geschenk wäre sie gedacht. Aha, nickte der Verkäufer und gab ihm freundlich Auskunft. Die genannten Zahlen hörte er sich an, schrieb sie zu Hause in ein Heft und grübelte darüber nach, wie er so viel Geld zusammensparen könnte.

Jenny schaffte es besser als die Eltern, ihm zuzuhören, auch wenn er einfach so auftauchte mitten am Tag, ohne darauf zu achten, womit sie gerade beschäftigt war. Meist saß sie im Büro und hatte Berge von Papieren vor sich liegen oder sie schrieb viele kleine Zahlen untereinander in ein dickes Buch, mit gestochen schöner Schrift. Die konnten nicht zusammenfallen wie Käthes Soufflé, oder kalt werden wie der Rôti de Jour, den es schnell aufzutischen galt. Und manchmal brauchte nicht er Jenny, sondern sie brauchte ihn. Als Begleitung zum Einkaufen. Sie nahm ihn mit in die schönen Modegeschäfte, er musste sich auf einen Stuhl setzen und warten, bis sie sich in einer kleinen Kabine ein Kleid aus der Auslage angezogen hatte, sich vor ihn stellte und ihn erwartungsvoll ansah.

„Und? Wie steht mir das? Wie sehe ich aus?“

Dann durfte man nicht einfach „schön“ sagen, obwohl sie das war. Sie war immer schön! Man musste sich Mühe geben, das zu umschreiben.

„Diese Farbe passt gut zu deiner Haarfarbe. Man kann deine schönen seidenen Strümpfe sehen, das gefällt mir. Das graue Kleid mit dem Pelzrand sieht eleganter aus als das grüne. Die Perlen am Halsausschnitt glitzern so fröhlich wie deine Augen.“

Bald hatte er eine Anzahl schöner Sätze parat, die Jenny glücklich machten. Wenn sie schon weder mit Albert noch mit einer Freundin einkaufen gehen konnte wie damals zu Hause in München, dann musste Willi ihr doch ein guter Ersatzkamerad sein. Aber meistens sagte Jenny dann eben diesen Satz, dass sie es sich noch einmal überlegen müsste. So war das Einkaufen ein Spiel mit Möglichkeiten und ein herrlicher Zeitvertreib. Besser war es allerdings, sich bei der Rückkehr nicht von der Mutter erwischen zu lassen, weil es sie ein bisschen nervös machte, wenn er seine Zeit mit Jenny verbrachte, und weil sie eigentlich wollte, dass er endlich wieder mit den Buben aus seiner Klasse spielen ging. Ein Kind gehörte unter Kinder.

Ein herrliches Vergessen

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