Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 9

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Käthe wurde aufgenommen von Wilhelmine und Friedrich in ihren zwei Zimmern mit Küche im Hinterhof der Boulangerie Chopard, so als ob sie ein Familienmitglied wäre. Diese Selbstverständlichkeit, mit der beide, Mine und Fried, wie sie sich nannten, Käthe annahmen und ihre Sorgen auch gleich mit übernahmen, rührte Käthe zu Tränen. Bevor Fried seinen Dienst antrat, aßen sie zu dritt auf dem großen Bett im Schlafzimmer und betrachteten den winzigen Willi, bestaunten jedes Zucken in seinem Gesicht.

„Die Pannier hat gesagt, wenn er nicht bei dir trinkt, müssen wir versuchen, ihm einen Milchschleim zu kochen. Kuhmilch verdünnen, ein bisschen Haferflocken aufkochen, nur einen Teelöffel voll in einen halben Liter. Was meinst du Käthe, soll ich das versuchen?“

Der Kleine kam Käthe schwach vor. Alle paar Minuten hielt sie ihr Ohr an seine Lippen, um die flachen Atemzüge wahrnehmen zu können. Ihre Sorge wuchs und wuchs und es wurde ein dickes schwarzes Gespenst daraus, das sich ihr bei Einbruch der Dunkelheit auf die Brust legte und sie davon abhielt zu schlafen.

Nachts noch versuchten die beiden Frauen, ihm die gekochte Milch einzuflößen. Er trank in guten festen Zügen. Ganz ausgehungert kam er ihnen dabei vor. Aber dann ruckelte er mit dem Kopf und plötzlich schoss die Milch in hohem Bogen wieder aus dem winzigen Mund. Das Kind röchelte und hustete, Mine riss ihn Käthe aus der Hand und hielt ihn senkrecht, ging mit ihm herum mit energischen Schritten und sprach dabei beruhigend auf ihn ein.

„Gell, gell, es wird alles gut, mein Kleiner, alles wird gut.“

Aber es wurde erst gut, als Fried am übernächsten Tag eine Ziege mitbrachte, als sie nach einem von der Pannier empfohlenen besonderen Verfahren Ziegenmilch verdünnt, aufgekocht und wieder abgekühlt hatten. In Grammportionen flößten sie dem Kind die wässrige Flüssigkeit ein, hielten es aufrecht dabei, nach jedem Trinken warteten sie auf sein Aufstoßen und freuten sich darüber so, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb.

Nach zwei Wochen, die einerseits verflogen wie im Sturmwind, andrerseits aus vielen bleischweren Minuten bestanden, die gestemmt werden mussten, eine nach der anderen, nach diesen ersten Wochen nickte Hélène Pannier und gab ihr d’accord. Es sieht jetzt gut aus. Weiter so, sagte sie. Und dann aber doch: „Lasset ihn bald taufen, auf alle Fälle jedenfalls.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Käthe etwas gelernt, was sie in eine Maxime verwandelte: Man muss alles versuchen, wirklich alles, was nur irgend möglich ist, bevor man verzweifelt oder aufgibt. So viele Wege führen zum Ziel, wenn der eine nichts ist, dann versucht man eben den nächsten.

Ein herrliches Vergessen

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