Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 24
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Hermann Kieferle kam nun in eine Schule in den südlichen Schwarzwald, in der er auch wohnen würde und dort würde man ihn jetzt schon darauf vorbereiten, eines Tages wie sein Vater Pfarrer zu werden. Auch Amir Komarowsky ging nicht mit Willi und Kurt Heidelberger in die neue Schule. Damit ging eine Epoche zu Ende, und erst im Rückblick wurde ihnen allen klar, wie schön und wie wichtig diese für sie gewesen war.
Ihr Klassenlehrer, Herr Schupp, hatte die vier immer das „Quartett“ genannt, er hatte ihre Zusammengehörigkeit erkannt, und so waren sie eine Art offizieller Körper geworden, sie bildeten eine Bande.
Eine Bande gibt nicht so schnell auf, wenn sich die persönliche Situation ihrer Mitglieder verändert. Also ordnete Willi an – als Präsident der Bande konnte, ja musste er das tun: anordnen wie ein Chef – er ordnete an, dass eine Hütte gebaut werden musste. Sie begannen, Baumaterial zu sammeln, und Willi verbrachte viele Abende damit, einen Bauplan zu erstellen, noch bevor sie einen geeigneten Standort fanden. Das hielt sie noch eine Weile zusammen. Obwohl die Hütte nie gebaut wurde, dazu fehlte ihnen nach der Trennung der rechte Schwung, machten sie sich immer wieder auf die Suche nach geeignetem Material. Holzstücke, abgerissene Äste, leere Behälter, Körbe, aller Art rostige und verbogene Nägel und Schrauben, alles, was sie am Wegrand fanden, was besitzerlos vom Fluss an seine Ufer gespült wurde, lasen sie auf und häuften es unter einen alten Weidenbaum, dessen herabhängende Zweige einen Hohlraum umschlossen, eine Art Naturhütte.
Nicht nur die Organisation des Baumaterials, sondern auch die Organisation der Bande bereitete dem Präsidenten viel Kopfzerbrechen; es galt, Listen anzulegen, Terminpläne zu erstellen, daneben hatte er auch noch seine Schulaufgaben ordentlich zu erledigen, musste ab und zu unter den Augen der Eltern auftauchen und das zur jeweils richtigen Zeit, einer Zeit, in der sie ihn auch wahrnahmen und nicht einfach übersahen wie meist. Dass die Eltern dauernd unter der Anspannung standen, ihren Betrieb am Laufen zu halten, dass der „Laden“, wie Georg es immer wieder bezeichnete, wichtiger war als der nun nicht mehr so kleine Sohn, erkannte dieser und nutzte diesen Zustand für sich. Hinter den abgewandten Blicken seiner Eltern öffnete sich für ihn ein Raum großer Freiheit, den er neugierig und selbstbestimmt abzumessen begann, als er sich seiner verschiedenen Stärken mehr und mehr bewusst wurde. Er spürte, dass er die feinen Unterschiede im eigenen Verhalten nicht nur erkennen, sondern auch willkürlich steuern konnte, wusste immer besser, wie man sich einer oder der anderen Person am besten näherte, selbstbeherrscht und vorsichtig wie eine Katze, aufmerksam, konzentriert auf den anderen wie ein Hund. Höflich, freundlich gar wie ein guter Ober. Wenn man nach oben schauen musste, hinauf in jeder Hinsicht, weil der andere nicht nur älter, sondern auch klüger und möglicherweise sogar noch höflicher war als man selbst, galten andere Regeln, als wenn man nach unten schaute, wenn es sich um jemanden handelte, auf den man herabsah, was nicht immer eine Frage der Körpergröße sein musste. Dann war eine tiefe Stimme, energisches Auftreten, Unerbittlichkeit angesagt. Franz Schäferle und Wendelin Gerber, das Walross, oder auch Amir, der alte Amir, bevor er Willis Freund wurde, diese Rotznasen, Stümperkicker, Versager im Rechnen und am Reck, diese lauten, stinkenden Lumpenstengel, die versucht hatten, ihn einzuschüchtern, damals als er der Neue war in seiner Klasse, noch in der alten Schule, wenn man diesen Vogelscheuchen formvollendet begegnen wollte, musste man sich auf einen unsichtbaren Sockel stellen, breitbeinig und mit blitzenden Augen, zusammengepressten Lippen, damit sie auch ohne ihre Fäuste nur zu ballen, verstanden, dass es keinen Sinn haben würde, sich mit ihm anzulegen, da er ihnen überlegen wäre, und wenn er dazu den Vater als Schreckgespenst hinter sich hätte aufbauen müssen, genauso unsichtbar und zudem ohne Hoffnung, diese Drohung wahr machen zu können, was sie ja nicht wussten. Aber der Vater wäre wohl der Letzte gewesen, der sich in die Händel seines Sohnes hätte einmischen wollen. Es kam eben vor allem darauf an, es ihnen glaubhaft darzustellen. Das war Willi gelungen. Ohne jeglichen Kratzer hatte er sich den Respekt dieser Schlägertypen verschafft, nun ging er ihnen aus dem Weg. Amir aber, der ein bisschen schlauer war als die anderen und ein gutes Herz hatte, hatte sich verbündet mit ihm, war sein Kumpel geworden und jetzt waren sie Freunde.
Die besondere Freiheit hinter dem Rücken der vielbeschäftigten Eltern koppelte Willi weitgehend ab vom Geschehen im Hotel. Er hielt die Stunden der Mahlzeiten ein, er kam zur rechten Zeit heim, nie hatte bisher der Vater oder die Mutter einen Besuch beim Lehrer machen müssen, denn es gab keinerlei Beanstandung über sein schulisches Verhalten oder seine Leistungen, alles lief wie geschmiert. Seine Ausflüge in die Aurelia-Lichtspiele mit Herrn von Majakowski waren erlaubt. Inzwischen ging er jedoch auch ohne seinen alten Freund und Herr Beck nahm ihn mit in den Vorführraum, erklärte ihm die Maschinen, ließ ihn einige Male überblenden, stand neben ihm, das nächste Mal brauchte Willi Herrn Beck nicht mehr. Die großen Rollen zu stemmen, sie sorgfältig einzulegen, den rechten Zeitpunkt abzupassen, die Überblendung nicht zu früh, nicht zu spät anzustoßen, all das hatte Willi so viele Male schon beobachtet, dass er nichts mehr falsch machen konnte, es konnte nicht schiefgehen, das wusste er, er war sich ganz sicher.
„Mein Assistent“ nannte ihn Herr Beck inzwischen.
„Was für ein Glück, dass Herr von Majakovsky mir so einen fähigen Mann geschickt hat.“ Wenn Herr Beck ein bisschen was getrunken hatte, dann wurden seine Augen glasig, dann wurden seine Worte pathetisch.
„Jetzt ist Schluss, du musst nach Hause, Bürschchen. Wie alt bist du eigentlich? Marsch jetzt, sonst kommen wir in Teufels Küche!“
Der Pianist hatte selber einen Sohn in Willis Alter, er sorgte dafür, dass er sich nach der letzten Überblendung der Abendvorstellung verdrückte. Wirklich! Ein Bub von zwölf Jahren!
Er schlenderte nach Hause. Längst hatte er keine Angst mehr, im Haus allein zu sein. Er wusste, die Eltern kämen erst um Mitternacht. Meist war er dann noch wach, hatte noch in der Filmillustrierten vom Vormonat gelesen, die er mitnahm, wenn die neue Ausgabe eintraf, oder sich mit seinen Markenbüchern beschäftigt, sein Geld gezählt. Er löschte sofort das Licht, wenn er die Tür ins Schloss fallen hörte, legte sich unter die schwere Daunendecke, drehte den Kopf zur Wand und gab sich Mühe, in ruhigen tiefen Zügen zu atmen, denn die Mutter kam immer in sein Zimmer und trat an sein Bett, stand einige Sekunden da und betrachtete ihn, das spürte er, obwohl er es nicht sah. Danach schlief er sofort ein.
Wenn er sich im Hotel aufhielt, hörte er ab und zu, dass die Erwachsenen lauter miteinander redeten als üblicherweise, dass die Mutter manchmal eine Tür heftig zuschlug und dabei die bunten Glasscheiben in ihren Bleifassungen erzitterten, sah Onkel Albert in einer Ecke stehen, die Arme über der Brust verschränkt und wie der Vater an ihm vorbeiging und ihn wie einen Garderobenständer behandelte, nämlich nicht wahrnahm, gar nicht!
Aber das ging Willi nichts an, kümmerte ihn nicht, er hatte gerade mehrere alte Kochlöffel aus dem Müll geborgen und überlegte sich, wie sie zu gebrauchen wären beim Hüttenbau, oder er stand schon in den Startlöchern für seinen Dauerlauf zum Aurelia, zwanzig Minuten vor der ersten Vorstellung.
Dass sich in seinem Leben eine umfassende Veränderung vorbereitete, lange schon, erfuhr er erst auf Umwegen und viel zu spät, um sich ein Ausweichmanöver zu überlegen.