Читать книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer - Страница 12

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Friedrich kam aus Konstanz am Bodensee. Er war dort als Sohn eines angesehenen und talentierten Schusters geboren worden. Leider hatte Friedrich, der älteste Sohn, das Talent des Vaters nicht geerbt. Dennoch besaß er den umgänglichen Ton des alten Frei und dazu eine Begabung zu Respekt und Loyalität. Ein Zufall bescherte ihm eines Tages eine Stelle als Hausdiener beim Fürsten Hermann Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, der mit seiner Frau, der badischen Prinzessin Leopoldine, und den Kindern am schönen Seeufer in der Sommerfrische weilte und sich die Jagdstiefel neu besohlen ließ. Das war gerade zu der Zeit, als dieser 1894 als Nachfolger Chlodwigs zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Statthalter des Reichslandes Elsass-Lothringen berufen wurde. Mit seinem Amt übergab der Langenburger dann im Jahr 1907 auch seinen Burschen Friedrich Frei an seinen Nachfolger, den neuen Reichsstatthalter Karl von Wedel. Nun war Friedrich Militär. Er war für die Kleidung und Stiefel des Herrn von Wedel verantwortlich, stand ihm näher fast als die eigene Frau und bekam viel mit vom Wohl und Weh seines Herrn. So auch dessen sich aufbäumende Wut über das Verhalten des deutschen Militärs gegenüber den elsässischen Soldaten im Reichsland Elsass-Lothringen. Die damalige Situation eskalierte in der bereits erwähnten Zabernaffäre. Friedrichs Herr, Karl von Wedel, empörte sich zu Hause in seiner Stube lautstark über die Instinktlosigkeit dieses jungen arroganten Kerls, Leutnant Forster, der nach und nach eine ganze Reihe seiner Kameraden hinter sich gebracht und eine regelrechte Hetz-Kampagne gegen die elsässischen Soldaten losgetreten hatte. Er betrachtete die „Wackes“ als minderwertig, ohne das zu begründen, so wie der Kaiser auch Wert und Unwert von Menschen und anderen Nationen je nach Gutdünken gewichtete. Der junge Forster bewegte sich also in einem Trend, der gerade erst keimte und sich noch aufbäumen sollte in diesem Jahrhundert zu einer Apokalypse von ungeahntem Ausmaß.

Karl von Wedel war ein pensionierter General, der sein Leben lang seine Pflicht getan hatte, ganz dem alten hierarchischen Staatskonzept verpflichtet. Vor allem war er ein Ehrenmann von altem Schlag und ein guter Christ. Jeder Mensch, wo immer er stand, und mochte man das auch oben und unten nennen, hatte für ihn einen Wert an sich. Als Geschöpf Gottes, als Mitgeschöpf, das die Achtung jedes anderen Menschen verdient. Wieviel mehr noch verdiente ein armes Menschenkind, ein verkrüppelter Mann, Rücksicht – ach, es brachte ihn zum Schäumen, wenn er die Berichte der Vorfälle nachlas. Der gehbehinderte Schustergesell Jacques Taillier hatte Forster nicht schnell genug entkommen können, als dieser einen Auflauf von Fabrikarbeitern, die sich gegen die deutschen Frechheiten wehrten, zerstreuen ließ und dabei eifrig mithalf. Taillier wurde vom Säbel des Leutnants niedergestreckt und dabei schwer am Kopf verletzt. Statt die Rechte dieses armen geschundenen Menschen zu verteidigen, wurde nun vom Gericht Forsters Handeln sanktioniert. Wedel hatte zuvor schon dringend empfohlen, den Störenfried und Aufrührer Forster wegzukommandieren und damit die Keimzelle der Unruhen auszumerzen. Er hatte hinter verschlossenen Türen sicher noch mehr erklärt und appelliert an das Verständnis derjenigen, die mit ihm auf Augenhöhe sprachen, dem Regimentskommandeur von Reuter, dem Kommandierenden General von Deimling und anderen, deren Namen verschwunden sind, aber diese waren kaisertreu in jeglicher Hinsicht. Sie glaubten, einer großen Sache zu dienen, und es kam ihnen gelegen, sich Karl von Wedel, der ihre möglicherweise schwelenden eigenen Gewissensbisse inkarnierte, vom Hals zu schaffen.

Friedrich war ein aufgeschlossener Mensch, er gab gerne Auskunft über das, was er dachte, was er für richtig hielt oder falsch. Seine Meinung richtete er aus nach derjenigen seines von ihm sehr verehrten und wertgeschätzten Dienstherrn. So ergab sich eins zum anderen und als Karl von Wedel seinen Posten abgeben musste, war Friedrich, sein Schatten und Sprachrohr, mit ihm eine Unperson geworden. Da kam die Rettung durch Mine, seine ihm angetraute Ehefrau seit sieben Jahren. Sie brachte ihn unter in dem Hotel, wo sie lange schon als Mädchen für alles ein stilles kleines Regiment in den Wäsche- und Abstellkammern führte, schmerzlich vermisst an jedem ihrer freien Tage. Friedrich begann im Bristol als Hausdiener, nur wenige Monate bevor Georg dort seinen Dienst antrat.

Wenn man nun noch wusste, dass Wilhelmine Frei, geborene Ponard, aus La Petite-Pierre stammte, einer Verbindung des ortsansässigen Schreiners Ponard mit einer jungen schönen Frau aus Meersburg am Bodensee entsprossen, die das Schicksal als Kind einer Ferienfamilie in das idyllische Burgstädtchen gelockt und so dem jungen Ponard ans Herz gelegt hatte, dann kannte man auch Mines Herkunft. Ihre Tante Monique väterlicherseits hatte sie als Dreizehnjährige in die Hauptstadt des Reichslandes mitgenommen und im Bristol untergebracht, zuerst nur um Gemüse zu schälen.

So trafen sie also in Straßburg zusammen, die vier Menschen, die für die ersten Jahre des kleinen Willi die wichtigsten waren. Wie einen Kieselstein rieben sie ihn sanft zwischen sich, schliffen ihn zu einer noch groben und unklaren Form, deren Unverwechselbarkeit jedoch mit jedem seiner Lebenstage deutlicher wurde.

Sie waren sich in vielem einig. In ihrer Achtung vor anderen Menschen, wie gering oder auch wie hoch oben sie angesiedelt sein mochten auf der gesellschaftlichen Pyramide. Sie hassten den Krieg, das Hurra-Schreien der Soldaten und Offiziere. Sie liebten den geschmeidigen Ablauf der vielen ineinander greifenden täglichen Verrichtungen des Hotelpersonals. Die große Halle, die glänzend gewienerten Gänge, die flutenden vorderen Treppenaufgänge und die gewundenen engen Stiegen im Hinterhaus, das ausgelegte Silber, die steif gestärkten Servietten, den Tischdamast, die Kerzen, oh ja, die vielen schönen herrlich duftenden Kerzen in den Leuchtern; das ganze Räderwerk des Hotels, das war ihre Welt. Das war die Luft, die sie brauchten zum Leben, alle vier.

Sie liebten äußere Ordnung, ein gutes Essen zur Mittagszeit. Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus. Nun hatten sie noch ein viel größeres gemeinsames Interesse: das Kind. Sie liebten den kleinen Willi, jeder auf seine Weise. Genug Liebe umfing ihn also, genug Pflege bekam er auch. Deshalb hob er bald schon sein Köpfchen, auf dem ihm ein weißblonder Flaum wuchs, der zu Kringeln und Wellen neigte so wie die goldbraunen Haare seiner Mutter; auch seine Augen nahmen die melancholische Ernsthaftigkeit des mütterlichen Blickes an, seine Gliedmaßen blieben zart. Er kam zum Sitzen, zog sich an Stühlen hoch und stellte sich auf seine Beinchen, und dann eines Tages ließ er den Halt los, drehte sich um und stolperte schwankend in Mines Arme, die vor Glück aufjauchzte.

Alle vier waren aufgeschlossen, kontaktfreudig, liefen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt, nie verlegen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und Lösungen zu sehen, wo andere nur Probleme vermuteten.

Ein herrliches Vergessen

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