Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 10

Оглавление

Der Sohnessohn

1941

Die Großmutter kam schon am frühen Morgen und holte ihn und seine Schwester ab. Die Mutter hatte eine Tasche gepackt, Schlafanzüge, Zahnbürsten, vielleicht Spielzeug, daran konnte er sich natürlich nicht mehr erinnern. Aber an den abwesenden starren Gesichtsausdruck der Mutter und dass er sie fragte: „Warum, Mama, warum sollen wir zur Großmutter mit den Schlafanzügen?“ Sie waren oft bei ihr, aber am Abend kamen sie immer wieder zurück in ihre eigene Wohnung, die doch nur wenige Straßen entfernt lag vom Haus der Großmutter. Die Mutter presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, um seine Frage abzuwehren. Sie wollte nichts sagen. Im Laufe der Jahre, wenn er sich diese Szene vor Augen hielt, und das geschah oft, das geschah immer und immer wieder, als er vielleicht 15 war oder 16, da wusste er plötzlich, dass sie nicht hatte sprechen können. Sie wäre in Tränen ausgebrochen. Denn sie wusste schon, hatte doch schon am Abend zuvor erfahren, dass der Vater tot war. Gestorben. Nicht gefallen. Nicht vermisst. Nicht „im Krieg geblieben“ wie andere Väter. Er war einfach gestorben. An einer Lungenentzündung. Das sagte sie ihnen später, als sie wieder zurückkam, als die Beerdigung hastig vollzogen worden war, als die Nachbarsleute nicht mehr tagtäglich kamen um zu kondolieren, um ihm und seiner Schwester über den Kopf zu streicheln, auch sie mit fest zusammengepressten Lippen. Es war schlimm, aber ein toter Vater war nichts Besonderes. Es gab etliche Halbwaisen ringsum, so der offizielle Ausdruck, den man bei Bedarf in die Formulare eintragen musste. Nur leider brachte Hansi diese Tatsache mit den falschen Leuten zusammen. Dem Albert zum Beispiel, der so dumm war wie lang, einem derben Tölpel, mit dem keiner etwas anfangen konnte, und mit Wilhelm Preuss, dem Sohn des Zahnarztes, einem intriganten Streber, der sich nach dem Tod seines Vaters dem Lehrer, dem alten Herrn Teufel, andiente, dass dem sogar manchmal die Geduld riss und er ihn in den Senkel stellen musste. Die Mutter sprach lange überhaupt nicht mehr über ihren Mann. Sie besuchte regelmäßig sein Grab, legte dort Blumen nieder, erlaubte auch, dass die Kinder etwas zum Grab brachten, einen schönen Stein vielleicht, Hansi sammelte Schrauben, Nägel, kaputtes Werkzeug, wo immer er es fand, und einiges davon trug er zum Grab des Vaters. Die Großmutter schüttelte den Kopf darüber, aber die Mutter ließ ihn gewähren.

Bettys Mutter bestand darauf, dass ihre Tochter die Verwandten des Vaters ihrer beiden Kinder besuchte. Sie wollte wahrscheinlich, dass die Kinder spürten, sie sind nicht allein. Es gibt da eine große Familie. Drei Onkels und den Cousin Richard, der schon erwachsen war. Selbst schon Soldat. Er und der Onkel Bertel hatten die Mutter begleitet, als sie den toten Vater abholen ging in Holland. Sie waren geblieben bis zur Beerdigung. Richard hatte sich neben ihn gesetzt, Schulter an Schulter, den Arm um ihn gelegt, hatte versucht, ihm zu erklären, dass der Vater ein wirklich tapferer Mann gewesen sei. Einer, der sich vor nichts fürchtete. Eine Art Ritter sei er gewesen. Einer, der für das Gute gekämpft hatte und der das Böse hasste. Damit konnte Hansi nichts anfangen.

„Warum hat er eine Lungenentzündung gekriegt? Hatte er keine warmen Kleider?“

Mhm. Ja, vielleicht.

„Weißt du eigentlich, dass dein Vater einen Bruder hatte, der schon mit zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist? Da hatte dein Vater Glück, dass er noch ein Mann wurde, ein Ehemann und ein Vater, bevor ihm das Gleiche passiert ist. So etwas passiert, es passiert immer wieder. Und ...“

„Und es ist Gottes Wille, wie der Pfarrer sagte?“

„Nein. Das glaube ich nicht. Es ist ein unerklärlicher Zufall. Etwas, das geschieht, ohne dass man es je verstehen wird.“

Kein besonders tröstlicher Gedanke.

„Aber ein Teil von deinem Vater ist auch in dir drin und der lebt mit dir weiter. Das spürst du. Vielleicht nicht jetzt gerade, aber du wirst lernen, es zu spüren. Du kannst mit ihm Kontakt aufnehmen und er wird dir Ratschläge geben, wenn du sie brauchst. Er tröstet dich, wenn du dich allein fühlst. Er freut sich mit dir, wenn du glücklich bist. Ich werde dich danach fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Bald schon. Ich versprech’s dir, dass wir uns ganz bald schon wiedersehen werden. Du und ich, wir sind Familie, weißt du, Hansi. Das bleibt für immer.“

So hatte ihn das Zusammensein mit Richard trotzdem getröstet. Weil er so schöne Sachen erzählt hatte. Versprechen gegeben. Die Familie beschworen. Der Richard, das war einer, von dem in der Verwandtschaft des Vaters viel geredet wurde. Der Richard dies und der Richard das. Manchmal voller Bewunderung mit leuchtenden Augen. Manchmal, indem man die Augenbrauen aufspannte und bedeutsam die Lippen kräuselte. Zu Richard wie zu jedem anderen Mitglied seiner väterlichen Familie hatte Hansi eine lange wechselhafte Beziehungsgeschichte. Immer auf der Suche nach seinem Vater, zog es ihn zu den Onkels und Tanten, den Cousins und Cousinen. Bis er einen anderen Weg fand, um dem Vater näher zu kommen. Bis er begann, Berichte über den Zweiten Weltkrieg zu lesen. Biographien von Soldaten. Dann sah er sich die Dokumentationen an, die an Jubiläumstagen im Fernsehen gezeigt wurden. Es brachte ihn nicht wirklich weiter. Es nährte jedoch den Verdacht, dass beim Tod des Vaters etwas vertuscht worden war. Etwas, was vielleicht auch die Mutter nie erfahren hatte. Vielleicht auch der Onkel und der Cousin nicht. Oder sie schwiegen aus Kadavergehorsam. Und als er so weit gekommen war mit seinen Überlegungen, fühlte er in sich große Dankbarkeit über den Zeitpunkt seiner Geburt. Er war kein Täter. Er war einer, der das Recht hatte, dieses Land, das neue Deutschland, zu bevölkern. Er war der Sohn einer Kriegerwitwe. Na und! Die Welt stand ihm trotzdem offen. Er war ein guter Schüler, machte eine Lehre als Maschinenbauer, ging dann an die Fachhochschule und studierte dort Maschinenbau. Ohne große Mühe, mit ein bisschen Rückenwind von Onkel Bertel, wurde er bei MAN eingestellt. Spezialgebiet Schiffsmotoren. Er nahm sich einen Privatlehrer für technisches Englisch, ließ sich einen Sommer lang nach Belfast versetzen, bis er alle Redewendungen drauf hatte. Dann absolvierte er ein Zusatzstudium für Betriebswirtschaft und stieg in der Firma auf bis zum Abteilungsleiter, hielt sich dort so lange, bis die jüngere Generation, die Herren Doktoren und Diplomingenieure sich ihm in den Weg oder besser gesagt vor die Nase stellten. Da sagte er Adieu mit 60 Jahren. Sein Schäfchen hatte er im Trockenen.

Nur ein Jahr später allerdings verlor er seine Frau. Sie hatten mehrere Reisen geplant gehabt, wollten ab jetzt viel Zeit miteinander verbringen, sich mehr für die Hobbys des anderen interessieren. Er blieb zurück, vereinzelt und doch nicht allein, denn er hatte seine beiden Töchter. Was für ein vitales Vermächtnis, was für ein bleibendes Glück. Zu dritt blieben sie eine Familie.

Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

Подняться наверх