Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 8

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Die Urgroßmutter

1951

Wilhelmine sitzt am Küchentisch. Es wird jetzt schon sehr früh dunkel. Wenn man sich nur mit Schmerzen bewegen und bei künstlichem Licht nicht mehr richtig lesen kann, bleibt fast nichts mehr, um sich die Zeit zu vertreiben.

Vor Wilhelmine liegt ein Brief. Gerade hat sie ihn fertiggeschrieben, ins Kuvert gesteckt, adressiert, eine Marke draufgeklebt. Später wird sie ihre jüngste Tochter Sofie bitten, ihn zum Briefkasten zu tragen. Und dann kann sie sich wieder einmal auf einen Antwortbrief freuen. Es ist ein Dankesbrief an ihre Schwiegertochter Hilde. Dank für die schöne Karte zu ihrem 78. Geburtstag. Über all ihre Kinder und Enkelkinder hat sie Hilde berichtet. Denn so geht es ihr tagtäglich, ihre Gedanken wandern von einem zum andern. Es ist ein Innehalten, Erinnern, Nachdenken, Grübeln, ein Fragen: Wie ist das so gekommen und warum? Wie wird es weitergehen? Erst das, was am Ende ihrer Überlegungen bleibt, ganz zum Schluss, wenn sie sich gezwungen hat dazu, auf Distanz zu gehen, auf den Standort einer alten Frau am Ende ihres Lebens, schreibt sie darüber in ihrer ganz eigenen Weise, fast ohne Satzzeichen mit eingesprenkelten Dialektwörtern, sprunghaft bisweilen aber doch mit einer gewissen Selbstsicherheit. Sie weiß, dass Hilde sich über ihren Brief freut. Die lateinischen Schriftzeichen mit den runden Schnörkeln am großen F, B, H, S und T werden zu Arabesken. Wie gemalt sieht das aus. Sie hat ja so viel Zeit!

Immer noch fällt es Mine nicht so leicht, die lateinischen Buchstaben zu verwenden, denn in der Schule haben sie ganz andere Zeichen gelernt. Aber vor rund zehn Jahren kam eines Tages ihre jüngste Tochter Sofie nach Hause mit einer Broschüre und einem leeren Schreibheft.

„So“, sagte sie mit einem bestimmten Ton, „Mutter, es gibt was zu tun für dich. Wenn du weiter deine vielen Briefe und diese hübschen Weihnachts- und Geburtstagskarten schreiben willst und sicher sein willst, dass auch deine Enkelkinder sie lesen können, jetzt und eines Tages noch einmal, wenn sie sie in ihren Schubladen finden und sich an dich erinnern, dann musst du umlernen.“

Sofie zeigte der Mutter den so genannten Normalschrifterlass. Tja, was man damals so normal nannte. Aber man musste sich ja beugen, wenn man weiterexistieren wollte, oder nicht? Immerhin blieb diese Schrift erhalten, auch nachdem das tausendjährige Reich des Herrn Hitler zu Ende war, nachdem alles in Schutt und Asche lag. Die vielen Toten, die ganzen Verbrechen! Ach, ach! Immer wieder schweifen Mines Gedanken ab in die Vergangenheit und dann zwingt sie sich, wieder in die Zukunft zu denken, an ihre Kinder, an ihre Enkel, mit denen das Leben nun weitergeht.

Mine lebt bei ihrer Tochter Sofie und deren Mann. Sie umsorgen sie liebevoll. Den beiden geht es gut. Ihr Geschäft floriert. Versicherungen! Eigentlich versteht Mine nichts davon, aber sie sieht die zufriedenen Gesichter am Abend, wenn Sofie und Karl sich eine Zigarette anzünden und einen Cognac einschenken. Echten französischen Cognac, das kann man doch fast nicht glauben. Welcher normale Deutsche kann sich das leisten, jeden Abend solch einen Luxus? Noch hat man kaum genug Kohlen, um mehr als die Küche zu heizen. Hier auf dem Küchentisch steht Sofies Schreibmaschine, hier empfangen sie die Leute, mit denen sie zu tun haben. Und die ab und zu solche Sachen mitbringen: Cognac, Seidenwäsche, Kaffee, Pralinen.

Dass ihre jüngste Tochter wieder richtig zufrieden ist, lässt Mine aufatmen. Seit 1945 vier Fehlgeburten! Die arme Sofie. Das letzte Mal sah man es schon deutlich. Es war eine richtige Geburt. Und dann die leeren Arme, die leere Wiege. Aber nun die Entscheidung, dieses Kapitel ihres Lebens für immer zu schließen. Verschenkt wurde, was in dem hellen Eckzimmer schon bereitstand: die Wiege, der Wickeltisch, die vielen kleinen Hemden und Strampelhosen. Ab nach Karlsruhe ging alles zu Mines ältestem Enkel Richard und seiner Frau, die beide noch studierten und jede Unterstützung bitter nötig hatten. Ihr Kindchen kam nur wenige Monate nach Sofies Frühgeburt. Die Kinder wären im selben Jahr geboren worden. Zwei Kinder aus zwei verschiedenen Generationen.

Ihr erstes Urenkelkind durfte Wilhelmine also noch begrüßen auf dieser noch gräulich zugerichteten, aber hoffentlich friedlichen und bald wieder besseren Welt.

Ach, wenn ich nur mit dem Paul darüber reden könnte! Seit 21 Jahren ist Wilhelmine Witwe. Zehn Kinder hat sie geboren. Sechs sind ihr noch geblieben. Sieben Enkelkinder hat sie und schon ein Urenkelkind. Eine große Familie.

Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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