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Die Cousins

1954

Als am 4. Juli 1954 Deutschland und Ungarn im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegeneinander antraten, hatte Bertel seine Schwester Sofie gebeten, mit ihm zusammen auch seine beiden Neffen Hansi und Theo einzuladen. Zu dem 20-jährigen Hansi und dem 15-jährigen Theo gesellte sich kurz vor dem ersten deutschen Gegentor noch Bertels ältester Neffe Richard. Mehr als 20 Männer drängten sich in Sofies schönem Wohnzimmer vor dem neu erworbenen Grundig 450 T-Fernsehgerät zusammen. Sofie und ihr Mann Karl wohnten in einer großzügig geschnittenen Neubauwohnung in der Otto-Beck-Straße. Es ging ihnen gut, sehr gut sogar. Sie hatten es geschafft, sich nach und nach mit allen Symbolen des wirtschaftlichen Aufschwungs in der noch jungen Bundesrepublik zu umgeben und ließen ihre Freunde und Familienangehörigen großzügig daran teilhaben.

Da waren sie nun alle beisammen, die neuen Männer der Familie Sömmer, Wilhelmines Enkelsöhne.

„Stimmt es, dass der Onkel Bertel mit dem Sepp Herberger befreundet ist?“ Theo wendet sich aufgeregt an seinen Cousin Hansi. Es ist eine Weile her, dass sie einander getroffen haben. Hansi kommt Theo heute wirklich wie ein Mann vor.

„Wer hat dir denn das gesagt?“

„Der Richard.“

Aha, daher weht der Wind, denkt Hansi. Er hat es inzwischen so satt, sich die Geschichten anzuhören, die der Richard immer und überall erzählt. Was hat der denn erreicht im Leben? Nichts. Aber immer eine große Klappe! Inzwischen verdient er sich anscheinend als Taxifahrer sein Brot, in Wirklichkeit wird er wohl von seiner Frau ernährt. Auf diesen einfachen Nenner wird es gebracht, wenn man die Tanten miteinander flüstern hört. Hansi verachtet Richard. Er verachtet ihn genauso, wie er ihn einstmals bewundert hat. Damals im Krieg, als Hansi mit seiner Mutter und seiner Schwester eine Zeit lang nach Mosbach evakuiert wurde, freute er sich, wenn Richard auf Urlaub kam, wenn er von seinen Flügen erzählte, nach Griechenland, nach Norwegen, wenn er ihm genau erklärte, wie er sich im Sichtflug orientieren musste, an Kirchtürmen, an Flüssen, an der neuen Autobahn entlang, über die Hornisgrinde nach Friedrichshafen hinüber zum Auftanken und von dort aus über die Alpen. Auf seinem Atlas verfolgte Hansi diese Routen. Freute sich über die Postkarten, die ihm Richard schickte. Bis man erfuhr, dass der heldenhafte Pilot inzwischen eingebuchtet worden war, weil er mutwillig eine Maschine zu Schrott geflogen hatte. Hatte renommieren wollen, das sah ihm ähnlich! Degradiert und schließlich in einen Panzer gesteckt.

Im brennenden Berlin wollte er herumgeirrt sein, während der Führer in seinem Bunker Selbstmord beging. Da war Hansi elf Jahre alt gewesen. Ein elfjähriger vaterloser kleiner Kerl, der dringend ein männliches Vorbild gebraucht hätte, um erwachsen werden zu können. Wo waren sie da, seine Onkels und auch der Richard? Wo waren die Ersatzväter? Sie kamen zurück aus dem Krieg, aber sein Vater blieb weg für immer. Sie kamen zurück und hockten in den Ecken herum bei den Geburtstagsfeiern, wenn sich die Familie traf. Hockten dort, rauchten, verständigten sich in merkwürdigen Halbsätzen und Codewörtern. Bis sich Onkel Walter schließlich ans Klavier setzte, bis sich Tante Sofie daneben stellte und zu singen begann: „O, Donna Klara, ich hab dich tanzen geseh’n ...“ So eine Familie war das!

Immerhin hat Hansi ja noch eine andere Familie, eine Mutter, eine Großmutter, eine Schwester. Das ist seine eigentliche Familie, seine tägliche Familie. Wo sie wohnen, ist auch seine Heimat, dort stehen sein Bett und der Tisch, an dem er ernährt wird. Die Mutter ernährt und kleidet ihn, lobt ihn, tadelt ihn, hält ihn auf dem rechten Weg in eine lebenswerte Zukunft. Eines muss er zugeben, hier in Mannheim geht es wesentlich lustiger zu als zu Hause in Mainz-Kastel. Hier flimmert die Luft, er kann nicht gleichzeitig überall hinschauen, wo sich etwas Merkwürdiges, Interessantes ereignet. Musik fließt um diese Tanten und Onkels wie ein lebenslustiger Wasserfall, wischt und wäscht alle Sorgen weg für die Zeit ihres Klingens und manchmal auch Dröhnens, Klopfens, es zittern die Stühle, der Tisch wackelt, sogar die Vorhänge schweben auf und nieder, hin und her. Mitten im Getöse das winzig kleine Omale mit leicht abwesendem Lächeln, die Mutter von all diesen Leuten, die nun mal seine Blutsverwandten sind, deren Namen er trägt, und so wie es aussieht, ist er der einzige männliche Träger in der nächsten Generation.

Theo weiß nicht, ob er sich neben Hansi oder neben Richard stellen soll. Hansi hat ihn ziemlich abblitzen lassen. Der hängt immer den Älteren raus, der schon weiß, was er werden will. Ingenieur! Das klingt wie Hexenmeister, wenn Hansi es ausspricht. Und einmal hat er sogar gesagt: Flugzeugingenieur. Theo vermutet, dass Hansi sich den Richard zum Vorbild nimmt, der war doch Testflieger gewesen im Krieg. Und ausgebildeter Funker. Theo erinnert sich daran, wie Richard im Kreis der Tanten und Onkels einmal diese Geschichte erzählte aus seiner Grundausbildung: Er hatte den Auftrag, ein Funkgerät so geschickt zu positionieren, dass kein Feindeinblick möglich gewesen wäre. So ging er hin und her, brauchte stundenlang, fand schließlich eine Art Höhle unter einer riesigen Baumwurzel, dort baute er das Gerät auf. Als er nach Stunden immer noch auf einen Funkspruch wartete, den er hätte erwidern können, dämmerte ihm, dass er sich wohl in ein Funkloch begeben hatte und von dort aus überhaupt kein Kontakt möglich war. Da lachten alle, lachten glücklich über diese lustige Geschichte, klopften Richard auf die Schulter, schüttelten

den Kopf, staunten und er, der kleine Theo, staunte auch, dass Richard nicht darauf bestand, der zu sein, für den sie ihn alle hielten: ein Held.

„Stimmt das alles Richard?“, fragte er ihn schließlich.

„Oder ist es nur eine Geschichte?“

„Es ist eine Geschichte und es stimmt. Im Wesentlichen jedenfalls. Ein bisschen muss man immer an der Wahrheit drehen, wenn man sie in eine gute Geschichte verwandeln will.“

Theo geht hinüber, stellt sich neben Richard und schnüffelt nach dem Duft seiner Reval.

„Stimmt das, Richard, dass der Onkel Bertel den Sepp Herberger persönlich kennt?“

„Das stimmt. Aber darauf kann man sich nichts einbilden, weißt du, Kleiner. Der Herberger, der war ein verdammter Nazi, und heut’ will das keiner mehr wissen. Das ist die Wahrheit.“

Richard hatte seine eigene kleine Familie, seine Frau Isa und die vierjährige Tochter Beate bei seiner Tante Johanna und dem Omale Sömmer abgegeben, bevor er zu den Männern gestoßen war, um teilzunehmen an diesem Sportereignis.

Unterwegs war er seiner Tante Sofie begegnet, die sich zu den Frauen gesellen wollte, nachdem sie die Männer mit allem versorgt hatte, was sie brauchen würden: Zigaretten, Bier und Schinkenbrote.

„Bitte sorge dafür, dass Tante Johanna nichts Dummes sagt. Du kennst doch die wunden Punkte meiner Frau und weißt, wie leicht man sie verletzen kann.“

„Du kannst dich auf mich verlassen.“

Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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