Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 11
ОглавлениеDie Wurzeln
Paul Adalbert Karl Sömmer, geboren 1867 im thüringischen Sömmerda, das damals zu Preußen gehörte. Sein Vater Karl Ludwig Sömmer war Prokurist bei der renommierten Metallwarenfabrik Dreyse und Collenbusch gewesen. Der älteste Bruder des Großvaters wurde Priester. Der zweite Bruder wurde Apotheker und starb jung während einer Grippeepidemie. Paul wurde als Nachzügler geboren, seine Brüder waren schon 17 und 15 Jahre alt. Die Eltern fühlten sich alt, zu alt jedenfalls, um sich gegen den Wunsch des jüngsten Sohnes zu wehren, Musiker zu werden. Auf verschlungenen Wegen, die ihn zunächst nach Erfurt, Leipzig und Dresden führten, gelangte er schließlich nach Mannheim ans dortige Theater. Er spielte in der ersten Geige, beherrschte jedoch auch mehrere Blasinstrumente, konnte sowohl einen katholischen als auch einen evangelischen Gottesdienst auf der Orgel begleiten und unterrichtete später am Mannheimer Konservatorium. Er war freundlich, gesellig, hilfsbereit. Bei einer Ausflugsfahrt auf dem Rhein, wo er mit einer kleinen Gruppe Musiker zum Tanz aufspielte, lernte er seine spätere Frau kennen.
Wilhelmine Walker war die jüngste Tochter des Lotsen Johann Jakob Walker. Eine zierliche, stille, zu träumerischen Absencen neigende junge Frau mit sehr hellblauen Augen und blonden feinen Haaren, die sich an der Stirn und im Nacken kräuselten und ihr einen engelhaften Ausdruck verliehen. Sie konnte sich dem Temperament des charmanten fremden Musikers nicht entziehen. Bevor sie Zeit hatte zu überlegen, war sie seine Frau. In 17 Jahren gebar sie ihm zehn Kinder. Nach 35 Jahren Ehe starb ihr Mann und sie lebte noch weitere 25 Jahre.
Als sie 1905 ihre Kinder zur Taufe ihrer dritten Tochter Paula rüstete, den vier Buben die weißen Hemden heraussuchte und die Lederstiefelchen, die Mädchen zu sich rief, um ihnen die Haare zu flechten, hatte sie einen Anfall von Verzweiflung. Sie setzte sich auf den Boden und jammerte: „Ihr seid einfach zu viele, es ist zu eng hier, ich schaffe das nicht mehr.“
Da kam ihr Mann aus seinem Zimmer, in dem er gerade einen Privatschüler betreute – die musste sie ja auch immer noch hinnehmen, die Privatschüler, die sie zwangen, das Temperament ihrer Kinder zu zügeln, ihr Gezänk, ihre Verfolgungsjagden über Tische und Stühle durch alle Räume abzufangen, mit dem schreienden Säugling auf dem Arm.
„Mine“, sagte ihr Mann, hob sie vom Boden auf und versuchte sie in den Arm zu nehmen, „meine liebe gute süße Frau, mein Ein und Alles, mein Morgen- und mein Abendstern, mein Lebenselixier, schau doch mal her.“
Er packte seine Kinder nacheinander um die Taille und setzte sie auf den Bücherschrank, so dass ihre Beine vor den Augen der Mutter zuckten und wippten, den Täufling hielt er hoch über seinen Kopf und stellte sich neben den Bücherschrank.
„Wen, meine Liebe, wen möchtest du denn hergeben? Auf wen kannst du denn am besten verzichten.“
Mine atmete ein und aus, heftig, schnell, schniefend und schluchzend. Langsam beruhigte sie sich, ihr Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln, in den Augenwinkeln kräuselte sich die zarte Haut. Sie schluckte. Was sie in diesen Minuten dachte, erzählte sie nie und niemandem.
„Kommt da runter“, sagte sie.
Die Größeren konnten selbst von ihrem Hochsitz abspringen, die Kleinen wurden vom Vater befreit, nachdem Bertel, der Älteste, das Baby übernommen hatte. Mine schlang ihre dünnen Arme um sie alle und ein paar letzte Tränen fielen auf ihre immer noch strubbeligen Haare.
„Ich geb’ keinen her. Keinen von euch“, rief sie laut und deutlich. Da waren es erst sieben. Drei weitere Kinder wurden ihnen noch geboren. Aber dazwischen mussten Mine und Paul zwei ihrer Söhne zu Grabe tragen.
Zu diesem Zeitpunkt waren sie deutlich sichtbar, hörbar, fühlbar eine Familie, hatten fast keine Geheimnisse voreinander, das ging nicht, weil man auf so engem Raum zusammenlebte. Was dem einen passierte, ging alle an. Keiner konnte die Flügel aufspannen und wegfliegen, wollte es auch nicht. Dann wurden sie größer und irgendwann mussten sie fliegen, weil es das normale Leben ist, dass man den Vater und die Mutter verlässt und selbst eine Familie gründet. Alle würden es versuchen und nur manchen würde es gelingen. Aber es würde weitergehen. Eine Weile würde man sich noch einander zugehörig fühlen, würde sich Familie nennen. Dann gäbe es den Namen nicht mehr, dann wären die Fäden dünn und brüchig, die sich um sie schlangen, und neue festere Fäden hätten die Nachkommen an andere Menschen gebunden und neue Familien begründet.