Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 17
ОглавлениеDie besonderen Kinder:
Der Älteste und das Nesthäkchen
Sofie verstand sich gut mit Richards Frau. Seit der Hochzeit der beiden schon waren sie einander zugetan. Hatten einander immer etwas zu erzählen. Aber in Wirklichkeit hatte sich Sofie in Isas Herz geschlichen, weil sie sich mit ihr verbündete gegen ihre eigene Schwester Helene, Isas Schwiegermutter. Prangerte Helenes Hochmut an, bezeichnete das, was man im Allgemeinen Helenes Stolz nannte, als großes Unrecht, das als Bürde zentnerschwer auf dem armen Richard lastete. Ständig diese Erwartungen, dass er etwas Besonderes sei, ein guter Schüler, ein begabter Musiker, ein treuer Nationalsozialist, ein tapferer Soldat, ja, Helene hatte ihn in die Rolle des Ritters Richard Löwenherz drängen wollen, das musste doch einmal ausgesprochen werden! Sofie hielt nichts davon, immer alles unter den Teppich zu kehren, was nicht in Ordnung war.
Hinter Helenes wahnwitzigem Ehrgeiz stand, das wusste jeder in der Familie, dass sie die Vorstellung hegte, Richard, ihr Sohn, müsste das großartige Leben führen, das eigentlich auf das Richardle gewartet hätte, das liebe, temperamentvolle Richardle mit der schönen Singstimme, den flinken Fingern, den schnellen Beinen und dem hellen Kopf. Immer wieder beschwor Helene ihr totes Brüderchen herauf, so, als ob sie die Einzige gewesen wäre, die seiner nach wie vor voll inbrünstiger Treue gedachte. Sofie hatte diesen Bruder nie kennengelernt, er starb ein Jahr vor ihrer Geburt. Deshalb schmerzte sie diese Lücke im Familiengeflecht nicht. Aber Sofie wusste von Johanna, dass sie sich auch oft an das Brüderchen erinnerte, dass sie es mindestens ebenso geliebt hatte wie Helene, stiller eben, sie war auch in ihrer Trauer gefasster als Helene und versteckte ihren Unmut darüber, dass man sie oft falsch einschätzte, hinter ihrem melancholischen hellblauen Blick und den fest aufeinandergepressten Lippen.
Sofie hatte ein besonderes Verhältnis zu all ihren Geschwistern. Sie wuchs auf wie die Made im Speck, das sagten die Lenetante und die Sofietante immer wieder und sogar Bertel übernahm eines Tages genüsslich diese Formulierung.
„Keiner hat dich jemals ausgeschimpft, keiner war jemals böse mit dir, nicht einen einzigen Augenblick lang. So ein verwöhntes Nesthäkchen. Dabei bist du deinen Geschwistern ab und zu ganz schön auf die Nerven gegangen.“
Das lachte Sofie weg. Ja, sie wusste es, sie konnte jedem von ihnen alles sagen, ohne jemals negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Aber fragen konnte auch sie längst nicht alles.
Manch einer mochte Bertel gerne fragen, was er denn eigentlich dort im Schwäbischen arbeitete, wo er jetzt schon so lange wohnte. Warum brachte er seine Frau so selten mit, wenn er kam? Und wer war dieser merkwürdig ernste Junge wirklich, der zu Li „Mutter“ sagte und von Bertel als „dem Vater“ sprach? Jeder in der Familie wusste doch, dass Bertel und Li keine Kinder hatten. Keine „eigenen“ Kinder jedenfalls. Woher stammte dieser Kurt also? War er ihnen einfach so zugelaufen wie ein Hund oder eine Katze oder gab es eine Geschichte zu dieser merkwürdigen Elternschaft?
Hier wusste allein Sofie mehr als die anderen und hatte einmal, das war doch an Inges Hochzeit? flüsternd einen Hinweis gegeben, an Isa, weil ihr das richtig schien.
Inzwischen war Kurt in Schottland und studierte dort Theologie, wollte also Pfarrer werden. Und Bertel und Li bereiteten ihren endgültigen Umzug nach Mannheim vor.
In Bertels Leben gab es zwei unbezweifelbare Konstanten: seine geliebte Frau Li und den Fußball. An diesem Tag stand eindeutig der Fußball im Zentrum seines Interesses.
„Bist du eigentlich für Waldhof oder für den VfR, Onkel Bertel?“, fragte der 15-jährige Theo aufgeregt.
Bertel war immer für Waldhof gewesen. Dort hatte sein Interesse, seine Leidenschaft für den Fußball begonnen. Dort hatte er gekickt als junger Bursche, dorthin hatte ihn der Sepp gelockt, nachdem sie sich immer wieder am Bonadiehafen getroffen hatten und Freunde geworden waren. Bertel verbrachte die ersten Jahre seines Lebens noch in der Löwitstraße. Paul und Wilhelmine wohnten im kleinen Haus des Rheinschiffers und Lotsen Walker und seiner Frau, das waren Wilhelmines Eltern. Erst im Krieg zog die inzwischen größer gewordene Familie um in die Boeckstraße. Zu diesem Zeitpunkt war Bertel schon in Afrika. Dass ihn der Liebhaber der Koloratursopranistin Emilie Lautenschläger, der Herr von Klingenberg, dorthin mitgenommen hatte, wusste man, sprach aber nicht davon. Dass er dort nicht das hatte leisten können, wofür er vorgesehen war, drang immer mal wieder durch, geflüstert als Andeutung. Aber was? Was hätte er denn dort tun sollen? Soldat sein! Aber es gab keine Bilder von ihm, auf denen er eine Uniform trug. Nach seiner Lehre zum Feinmechaniker in der kleinen Maschinenfabrik der Familie Hartung, hatte er sich spezialisiert, dazu war er von seinen Chefs zum ersten Mal nach Oberndorf ins Schwäbische geschickt worden, da gab es eine Waffenfabrik. Als er zurückkam, folgte unmittelbar das Angebot des Herrn von Klingenberg, ihn nach Deutsch-Südwestafrika mitzunehmen. Schon im Sommer 1915 kehrte er heim nach Deutschland und ließ sich in Berlin nieder. Er arbeitete als Feinmechaniker in einer Fabrik für Kleinteile, Federn, Schrauben, Bolzen, wie er umständlich erklärte, verdiente gutes Geld und kam, so oft er konnte, zu Besuch. In Berlin hatte er damals seine Li kennengelernt. Eine schöne Frau mit dunklem Teint und fast schwarzen dicken Haaren. Sie stammte aus einer deutsch-russischen Familie aus Odessa, als einziges Familienmitglied lebte sie schon seit 1916 in Berlin, zunächst bei einer Freundin ihrer Mutter, übernahm dann deren kleinen Hutladen direkt auf der Friedrichstraße mit mehreren Angestellten und Kundinnen aus allen Gesellschaftsschichten.
Diese Informationen konnte man immerhin erhalten, wenn Wilhelmine mal einen Eierlikör oder zwei getrunken hatte, wenn ihre Gelenke nicht schmerzten, wenn sie mit einem dicken Schal umhüllt, die Füße auf einem Schemel bequem aufgestellt in ihrem Lieblingssessel saß. Vielleicht noch Kerzenschein und eine gute Tasse englischen Tee, dazu diese wunderbaren Kekse, die Johanna immer auf Vorrat in einer Blechdose aufbewahrte.
Bertel, Wilhelmines erstes Kind, das größte Wunder, das ihr widerfahren war, genoss ihre uneingeschränkte Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit jederzeit. So sehr, dass er sich davor hüten musste und dass er genau überlegte, wieviel er ihr jeweils erzählte von seinem eigenen Leben.
Erst nach dem Tod der Mutter fühlte er sich freier. Da war er 58 Jahre alt, hatte noch mehr als 30 Lebensjahre vor sich und würde am Ende seines Lebens noch einmal zurückfallen in Geheimnisse, die sich erst nach seinem Tod enthüllten.
Wilhelmine hielt sich, so lange sie lebte, bereit für ihre Kinder. Wenn sie zu ihr kamen, öffnete sie ihre Arme. Sie durften sich bei ihr aussprechen, wenn sie wollten, was allerdings sehr selten vorkam. Meistens wurden die Fakten poliert und verpackt, bevor man sie der Mutter servierte. Man wollte sie schonen, sie sollte doch stolz sein können auf ihre Kinder, man wollte, dass sie ruhig schlafen konnte, dass sie der Zukunft vertraute bis über ihren Tod hinaus. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie mit ihm über all ihre Sorgen und Zweifel sprechen können. Als er starb, musste sie versuchen, sich wechselnde Gesprächspartner zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie ihre Schwestern Lene und Sofie. Die drei wuchsen im Alter enger zusammen, als sie sich je zuvor gefühlt hatten. Sie hegten und pflegten den Schatz der gemeinsamen Erinnerungen.
Wilhelmine begann das Briefeschreiben. Was sie vom einen erfuhr, gab sie an andere weiter, hoffte, im Gegenzug dafür mit einer Enthüllung belohnt zu werden, einem kleinen Blick hinter die schönen dichten Vorhänge, die ihre Familie ringsum sie her raffte und rüschte wie Theaterkulissen in einer Operette. So war das Leben nicht, es konnte so nicht sein, so harmonisch, voller Erfolge, Glück und Liebe! Aber was will man machen?
Ihre zwei letzten Lebensjahre lebte Wilhelmine bei ihrer ältesten Tochter Johanna und deren Mann. Die beiden ließen es ihr an nichts fehlen. Mine konnte diese Zeit genießen, manchmal jedenfalls. Sie liebte die Besuche ihrer Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder. Und stolz ließ sie sich ihr erstes Urenkelkind, die kleine Beate, Richards Tochter, auf den Schoß setzen. Sah ihr in die dunklen Augen und meinte, dass es die Augen von ihrem Paul sein könnten, mandelförmig, ein bisschen eng beieinander stehend. Zwei Schlitze, wenn es ihr gelang, die Kleine zu erheitern, nicht durch Kitzeln, das wäre zu plump, sondern durch einen kleinen Vers, ein leise gesummtes Liedchen, einen Aufzählreim, einen unerwarteten Ton, einen Gickser vielleicht und eine lustige Grimasse dazu.
All das hatte sie in sich aufbewahrt für diese Zeit, die Zeit des Zurückblickens, die Zeit der Vorbereitung auf das Nicht-mehr-Sein. Immer leichter wurde ihr beim Blick in die Zukunft. Der Tod würde nicht in ein schwarzes Loch führen, sondern in ein helles Licht, das alles Gewesene ausblendete. Diese Gewissheit nahm allmählich zu.