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Brüderchen und Schwester

1911

Abendstille überall ... jetzt kam ihr Einsatz, zusammen mit dem Knabensopran vom Richardle, müsste sie sich zart und rein zu einer Dezime aufschwingen: „Nur am Ba-hach die Na-hachtigall“ sollten sie singen, aber die Nachtigall war verstummt in ihr. Mit dem Tod von ihrem geliebten Richardle war die Nachtigall verstummt. Helene verschloss ihre Lippen, fest presste sie sie aufeinander und die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen, eine landete im Spalt ihrer Lippen und sie leckte sie auf, sie spürte das Salz, ein Schauer rieselte über ihren Nacken, den Rücken entlang. Der Vater und die Mutter bestanden darauf, dass sie alle zu ihrem Alltagsleben zurückkehren mögen, das hatte er gesagt, hatte den ersten Ton angestimmt, den Dreiklang folgen lassen, der Kanon begann mit der Quint, hinab zur Terz, hinauf zur None, Quint, Terz und mit einem Knicks hinunter zum Grundton. Alle anderen sangen. Zaghaft und traurig, die Mutter, Bertl, Johanna, die sechsjährige Paula, sogar der erst drei Jahre alte Walter stimmte ein; aber Helene weigerte sich mitzusingen. Warum nur, warum hatte das Richardle sterben müssen? Der lustige und schlaue kleine Kerl mit der zuckersüßen Stimme.

Als das Richardle geboren wurde, ging es der Mutter schlecht. Johanna und Helene saßen vor dem Elternschlafzimmer und warteten. Sie hörten das Jammern und Klagen der Mutter, das Geschrei. Es schien, als ob sich da drinnen ein Tier befände, das sich mit diesen irren Tönen gegen das Eingesperrtsein wehrte. Dann plötzlich war die Mutter stumm und stattdessen hörte man das dünne, aber doch schon melodische Stimmchen des Neugeborenen. Und wenige Minuten später öffnete sich die Tür, Johanna sprang weg, denn sie sollten hier nicht sitzen, man hatte sie doch in ihre Zimmer gescheucht schon am späten Nachmittag. Helene stand auf und wandte sich dem Vater zu, der mit hochrotem Kopf aus der Tür trat, das kleine Paket aus Tüchern auf dem Arm. Er sah sie kurz an, dann übergab er ihr das Kind.

„Pass auf deinen Bruder auf, Helene. Den Kopf musst du halten, das kann er noch nicht alleine. Er heißt Richard, das haben die Mutter und ich schon längere Zeit so beschlossen.“

Und Helene trug ihn vorsichtig den langen Gang entlang in das Zimmer, das sie mit Johanna teilte. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und versenkte sich in den Anblick des winzigen verknautschten Gesichtes, beobachtete verzückt jede seiner Regungen, wie er zuerst ein, dann auch das andere verklebte Augenlid langsam hob, wie die glänzenden schwarzen Äuglein herumkullerten, unkoordiniert und wie um zu üben, die Nasenflügel sich aufblähten, der Mund sich öffnete, weit, zu einem richtigen ausgedehnten Gähnen. Da musste sie lachen und Johanna lachte mit. Als Willi im Jahr davor geboren wurde, waren sie alle einige Tage bei den Tanten geblieben. Sie kamen zurück, da lag das Baby gut verpackt, tief unter seinem Kissenberg versteckt, hinter dem duftig-zarten Voile der Wiege. Unberührbar für viele Tage und sogar Wochen. Ab und zu ließ man die drei Großen von der Türschwelle aus hinüberschauen zum Bett der Mutter. Sah von dort aus den kleinen Haarschopf. Aber jetzt, jetzt hatte der Vater ihr das neue Kind in die Arme gelegt und sie hielt es fest. Weil es leise zu wimmern begann, stand Helene auf und wiegte es hin und her, bis es ruhig wurde. Sie summte die Melodie von „Schlaf, Kindlein, schlaf ...“, immer wieder, immer wieder, bis sich die Gesichtszüge des Babys entspannten, die Fingerchen zu Fäusten ballten, die der Kleine, wie um sich aufzuräumen, dicht an sein Kinn legte, rechts und links. Da waren sie beide zusammengewachsen, das Richardle und die Helene, zu einer Einheit. Und jetzt war er tot. Es kam Helene so vor, als ob ein Teil ihres Körpers von ihr abgebrochen wäre und eine tiefe schmerzende Wunde dort klaffen würde und sie wollte eigentlich nur noch laut schreien und nie mehr aufhören. Als der kleine Bruder Karl im Jahr zuvor im Krankenhaus an Diphterie gestorben war, hatten sie alle geweint und hatten ihn vermisst und hatten im langen Flur ihrer Wohnung einen kleinen Altar aufgebaut, dort alles gesammelt, was unverwechselbar zu ihm gehört hatte. Seinen Tirolerhut, den Silberlöffel, den er von den Tanten zur Taufe bekommen hatte, auf dem sein Name eingraviert war. Seine roten Lederstiefelchen, die neuen, am Tag bevor er ins Krankenhaus kam, hatte der Lehrling von Schuster Beckmann sie abgegeben und er war den ganzen Nachmittag damit in der Wohnung herumgerannt, hatte sich an den Geräuschen gefreut, die die Metallplättchen auf Spitze und Ferse machten, herumgerannt, bis er einen roten Kopf hatte, bis die Mutter ihm an die Stirn fasste und sagte: „Um Gottes Willen, Bub, du bist ja ganz heiß, du hast Fieber, schnell ins Bett.“

In der Nacht fing er an, um Luft zu kämpfen, am nächsten Morgen wurde er ins Krankenhaus gebracht und zwei Tage später war er im Himmel.

Das war schlimm. Das verfolgte die Kinder in ihre Träume. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den Helene jetzt empfand, als das Richardle unbedingt dem Karl hinterherfliegen musste, hinauf in den Himmel. Was wollte er dort denn? Er hätte doch hierher gehört, hierher in ihre Arme.

Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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