Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 20
ОглавлениеNeujahr
1919
Johanna hat die glitzernden Perlenohrringe eingesteckt. Sie trägt ein wunderschönes von Helene entworfenes wadenlanges Kleid, schwarzer Tüll über einem weißen Crêpe-de-Chine-Unterrock, die blonden Haare mit Eigelb gespült. Sie hat einen Beau-Jour, denkt die Mutter. Auch Helene, Gott sei Dank, lächelt zumindest jetzt für das Foto, obwohl ihre Augen ganz verhangen sind. Diese ungute Sache mit dem jungen Mann, den sie sich so sehr in den Kopf gesetzt hat, schwebt immer noch wie eine dunkle Wolke über ihr.
Die Kleinen sind im Bett oder jedenfalls in ihren Zimmern. Paul kommt erst später nach der Silvestergala, dann soll noch ein Freund von Johanna erscheinen. Willi zappelt herum. Er wirkt immer so, als ob er die anderen beiden suchen müsste. Sie waren halt immer wie zusammengewachsen, der Karl, der Willi und das Richardle. Mit seinen 17 Jahren ist der Willi nun kein Bub mehr und noch kein Mann. Da sitzt er, mittendrin und lacht über die zum Teil doch schon sehr anzüglichen Scherze, man hat einfach zu viel Wein getrunken; kaum zu glauben, wo der herkommt, man war es jetzt so lange nicht mehr gewöhnt. Mein Gott, dass wir wieder aufatmen können, dass auch der Bertel heil aus dem Krieg zurückgekommen ist, wo immer er wohl war, er sagt es ja nicht, er kann es nicht sagen, jedoch es halte jemand eine mächtige Hand über ihn, so drückt er es immer aus, wenn die Mutter ihm weinend die Wange streichelt zum Abschied, nachdem er wieder einmal vorbeigeschaut hat, aber nur kurz und wieder verschwindet nach Berlin in dieses Babylon! Der Kaiser fort, überall Aufruhr, nur nicht hier, hier in meinen vier Wänden. Wilhelmine atmet auf.
Das Vorbeischauen ist das übliche Beziehungsmuster geworden in dieser Familie. Wenn sie nicht die vier Kleinen hätte! Die sind noch ganz bei mir, hier unter meinen Fittichen. Bei Sofies Geburt war Wilhelmine fast schon 40 Jahre alt. Es war trotzdem eine gute, eine leichte Geburt und gleich konnte sie sich über das Kindchen freuen, seine Pflege übernehmen ohne fremde Hilfe, es stillen, baden, wickeln, es auf dem Arm hin- und herschaukeln in den ersten Wochen, bis Sofies schreckliche Bauchkrämpfe vorüber waren und das Kindchen so richtig auf dieser Welt angekommen war. Jetzt ist ihre Jüngste immerhin schon fünf. Eine süße quirlige Prinzessin mit sehr viel Selbstbewusstsein, der Liebling ihres Vaters, er schaut in sie hinein wie in einen Spiegel. Dabei ist sie ganz bestimmt nicht so musikalisch wie die 15-jährige Paula oder gar wie Helene, die sogar in der Schule immer eine Eins gehabt hat in Musik, immer! Walter, der elfjährige Gymnasiast, auf dem besten Weg zum Professor. In Mathematik und Latein eine glatte Eins. Wo haben sie das nur her, meine Kinder? Und Hans, der groß gewachsene siebenjährige Hans, der ein bisschen dem Bertel ähnelt, so ernsthaft ist er, auch charmant mit seinen Grübchen in den Wangen und diesem Blick, den slawischen Schlitzaugen seines Vaters, aber blau sind sie, so grünblau wie meine, Wilhelmine schmunzelt stolz. Überall ist er sofort zu erkennen mit seinen flachsblonden Haaren. Wenn das so bleibt, dann wird er wohl ein Herzensbrecher werden, eines Tages.
Ach ja, es ist leichter geworden, mein Leben, denkt Wilhelmine dankbar. Der Paul hat mit seiner Gesundheit zu tun, längst hat er nicht mehr so viel Energie wie früher. Seine Leidenschaft verwandelt sich allmählich in eine sanfte innige Zärtlichkeit. Bald sind wir 50. Dann sind wir ganz und gar auf der anderen Seite des Flusses angekommen, wie man so schön zu sagen pflegt, weil man diese Dinge ja nicht anspricht. Sie gehören in die Dunkelheit der Nächte.
Bertel also aus dem Haus und der Willi hat gerade seine Lehre angefangen, kommt nur noch zum Schlafen nach Hause und hat ein Angebot für einen Platz im Lehrlingsheim. Lebt dort zusammen mit gleichaltrigen Burschen, da kann er sich messen und orientieren, das braucht er jetzt mehr als den elterlichen Schutz. Auch Johanna und Helene nur noch zum Schlafen hier. Vier verköstigen sich selbst, vier muss ich noch ernähren.
Wilhelmine wird aus ihren Gedanken gerissen durch ein stürmisches Klingeln an der Eingangstür. Kurz darauf erscheint Johanna Hand in Hand mit einem sehr hübschen jungen Kerl, der direkt auf Wilhelmine zugeht:
„Mein Name ist Willi Gilles“, sagt er. „Ist denn auch Ihr Mann da, Frau Sömmer? Ich möchte mit ihm sprechen.“
Da weiß Wilhelmine Bescheid. Sie freut sich, oh, sie freut sich so sehr. Es wird eine Hochzeit geben, bald, das sieht man in seinen Augen. Da ist Ungeduld und noch etwas, was Wilhelmine sehr gut kennt. Ein bestimmter Hunger nach Nähe ist da. Es wird ein Brautpaar geben und bestimmt ganz bald auch ein Enkelkind. Ein kleines Kindchen in ihren Armen. Eins zum Liebhaben, das sie nicht stillen muss, für das sie nachts nicht immer wieder aus dem Bett aufstehen muss, über das sie nicht wachen muss, wenn es fiebert, hustet, sich erbricht. Nur liebhaben darf sie es. Wie ist das Leben gut zu ihr! Was ist das für ein wunderbares neues Jahr, und auch ein neues Jahrzehnt, das hell und froh vor ihr liegt. Sie kann es kaum abwarten, ihr Glück mit Paul zu teilen.