Читать книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer - Страница 7
ОглавлениеRichard ...
... Löwenherz. Das denkt man gleich mit. Mancher tut es. Ich zum Beispiel. Weil er für mich das war: ein Mensch mit einem großen Herzen. Gutmütig. Tolerant. Seinen Mut abzuwägen, wäre mir nie eingefallen, weil ich ihn liebte. Ihn entschuldigte, wenn er etwas tat, was keiner verstand. Ihn verstand, weil ich ihn verstehen wollte, weil ich ihn liebte. Er war verschlossen, in sich gekehrt. Aber er konnte erzählen, ausführlich und detailversessen bis zur Schmerzgrenze des Zuhörers. Er legte nie das Vokabular des Soldaten ab, Kraftwörter gingen ihm glatt über die Lippen. Und gleichzeitig liebte er Gedichte, liebte Literatur, auch wenn sie schwierig war. Er liebte Heinrich Heine, Erich Kästner, Ringelnatz und Tucholsky, las alles von Arno Schmidt und Günter Grass, verstand die Theaterstücke von Samuel Beckett. Er hatte das absolute Gehör, konnte Gitarre, Banjo, Ukulele spielen, aber keine Noten lesen. Ich erinnere mich heute noch, wie gern ich ihm dabei zusah, wenn er eine Orange schälte. Geduldig, präzise, so als ob nicht der Verzehr der Orange das Eigentliche wäre, sondern die Befreiung der Frucht von der Schale. Er hasste alles Bürgerliche, musste aber tagtäglich einen Anzug mit Krawatte anziehen, weiße Hemden mit Manschettenknöpfen und zu den Kunden einer Baumaterialfirma fahren, für die er als Werkbüroleiter tätig war. Erfolgreich, denn die kleinen Bauern im Ländle vertrauten auf ihn. Wenn er zu ihnen kam, sich mit seinem schönen Anzug und den glänzend geputzten Schuhen mit den dicken Kreppsohlen auf ihre Baustellen führen ließ, sich dort die Problemzonen anschaute, stumm und aufmerksam zuhörte, wie die verzweifelten Kunden sich in Rage redeten, dann lag die Rettung schon in der Luft allein durch seine Anwesenheit, bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. Sein Aftershave vermischte sich mit dem Duft der Reval, die er zu Dutzenden rauchte, immer und überall, auch im Schlafzimmer. Das ergab seinen unverwechselbaren wunderbaren eigenen Geruch, den ich jederzeit an jedem Ort erkannt hätte.
Als wir ihn tot in seinem Bett fanden, hielt er eine abgebrannte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, das fragile Aschetürmchen blieb unversehrt, so lange wir neben ihm saßen und auf den Bestatter warteten. Richard hatte Humor und Charme und wirkte auf Frauen so, dass sie an ihrer Frisur herumzupften oder schnell den Lippenstift nachzogen, wenn er sich näherte. Nie habe ich erlebt, dass er eine Frau angemacht hätte. Er bemerkte ihre Bewunderung ohne darauf einzugehen und liebte nur seine Ehefrau. Sie war die Erfüllung seiner Träume. Und noch viel mehr. Sie heilte ihn von seiner Vergangenheit: der ehrgeizigen Mutter, dem Vater, dem er nie den anderen, verlorenen Sohn hatte ersetzen können, der ganzen Verwandtschaft, die erdrückende Erwartungen hatte an ihn. Seine Liebste, die er am Tag ihres Kennenlernens schon erwählte zur Ehefrau, bis dass der Tod sie scheiden würde, war die Einzige, der er von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Sie erteilte ihm Absolution für alles, was er ihr beichtete. Er holte sie dafür aus einem zwölf Jahre schweren Alptraum in das ganz normale Leben zurück. Machte sie zu einer Ehefrau und zu einer Mutter, zu einer Schwägerin und Schwiegertochter. Gab ihr Gelegenheit, seine große Familie anzuerkennen als ein Anhängsel, das zu ihm gehörte, ihm wichtig war, auch wenn sie eigentlich jedes einzelne Mitglied dieser Familie aus irgendeinem Grund verachtete und sich nie zurückhielt, diese Verachtung zu formulieren.