Читать книгу Die Grüne Feder - Petra Teufl - Страница 10

5.

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Die Türglocke schellte dreimal und riss mich aus dem Tiefschlaf. Fünf Uhr morgens. Ich quälte mich aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und prallte fast gegen Herrn Späth. Wie aus dem Ei gepellt stand er da und wischte eifrig auf einem Tablet hin und her, das er meinem Vater unter die Nase hielt. „Guten Morgen, Fräulein Ritter. Entschuldigen Sie, dass ich Ihren Schlaf störe“, säuselte er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich tat so, als bemerkte ich sie nicht. Vater war ebenfalls fertig fürs Büro. In dem dunklen Anzug, dem weißem Hemd und mit ordentlich frisierten Haaren wirkte er seltsam verwandelt. Lag es an seiner Kleidung oder an Herrn Späth, dass er härter und kälter wirkte als noch vor wenigen Stunden? Papa nestelte an seiner Krawatte, die nicht sitzen wollte. Ich half ihm und fragte dabei, ob etwas passiert sei. „Nein, nein“, antwortete Papa. „Es ist nur, weil die Verhandlungen mit einer Firma am anderen Ende der Welt festgefahren sind. Eine Einigung wäre für unsere Arbeit bei BRAXWORLD äußerst vorteilhaft.“

„Wie redest du denn?“, fragte ich grinsend und zog den Krawattenknoten nach oben. Papa gab mir einen Wangenkuss und flüsterte dabei: „Das ist der offizielle Herr-Späth-ist-in-der-Nähe-Ton.“ Das gefiel mir. Ich wollte Herrn Späth auch ein bisschen Theater vorführen und fragte, als würde ich mich voll auskennen: „Um was für eine Firma handelt es sich denn?“

„Herr Doktor Ritter, ich glaube“, kam Herr Späth einer Antwort von Papa zuvor, „es wird Zeit, aufzubrechen. In dreißig Minuten haben Sie den Telefontermin.“ Wollte er Papa daran hindern, zu antworten, oder drängte wirklich die Zeit? Papa sah seinen Assistenten ernst an, zog die Ärmel seines Sakkos zurecht und fragte scharf: „Herr Späth, ich gehe davon aus, dass sie die Kamera des Tablets ausgeschaltet haben.“ Er nahm dem verdutzten Herrn Späth das Gerät aus der Hand und wischte auf dem Screen hin und her. Verlegen schüttelte der Assistent den Kopf. „Das darf nicht passieren!“, schimpfte Papa. „Sie wissen, dass sie außerhalb von Braxcity die Instrumente zum Datenempfang ausschalten müssen. Sie verstoßen sonst gegen das Gesetz.“

„Ich war in Gedanken, es tut mir leid“, sagte Herr Späth mechanisch. „Ich werde die Aufnahmen aus ihrer Wohnung später aus dem System löschen.“

Ich glaubte ihm kein Wort.

Plötzlich öffnete sich die Tür von Tante Ediths Zimmer. Einen kurzen Moment lang stand sie mit offenen Haaren, in einem fliederfarbenen Morgenrock und Wollsocken in der Tür. Sie presste ein dickes, in dunkles Leder gebundenes Buch an ihre Brust. Als sie Herrn Späth erkannte, fluchte sie und verschwand wieder in ihrem Zimmer.

„Edith“, rief Papa der Tante hinterher. „Willst du Herrn Späth nicht begrüßen?“

„Nein, danke!“, antwortete sie durch die geschlossene Tür. Mit einem Schulterzucken entschuldigte sich Papa bei seinem Assistenten.

„Keine Ursache, Doktor Ritter. Um diese Zeit sollte man Damen nicht stören“, sagte Herr Späth.

Schleimer!

Papa drückte mir eine schwarze Tasche in die Hand. „Martin hat dir die Geräte mitgebracht. Laptop und Smartphone — alles von BRAXWORLD und mit den Systemen von Braxcity synchronisiert. Du kannst dich schon mit ihnen vertraut machen“, erklärte er. „Die werden in der Schule deine ständigen Begleiter sein.“

Dann schnappte er sich seinen Mantel und winkte Herrn Späth aus der Wohnung.

Tante Edith sah vorsichtig durch den Türschlitz ihres Zimmers. „Sind sie weg?“, fragte sie. Als ich grünes Licht gab, kam sie raus und schimpfte vor sich hin. „An alles habe ich gedacht! Die Kameras, die Laptops und Handys und all den Kram — aber dass der Schnösel plötzlich so früh in der Wohnung steht, damit habe ich nicht gerechnet.“

Sie stapfte in die Küche und stellte den Wasserkocher an. „Meinst du, er hat das Buch gesehen?“, fragte sie besorgt.

„Keine Ahnung, warum?“

„Es gibt Dinge, die sollte man hier nicht liegen lassen oder groß herumposaunen“, antwortete sie und stellte Tassen auf den Tisch. Dann deutete sie auf die schwarze Tasche in meiner Hand.

„Gib mal her!“, forderte sie und nahm mir die Tasche ab. „Dieses Zeug legt man am besten in den Kühlschrank.“

„Tante, das sind Computer und Smartphone!“, rief ich entgeistert. Offenbar hatte meine Großtante keine Peilung von diesen Dingen.

„Ja, ja, eben!“, erwiderte sie, packte die Geräte aus und legte sie in das Gemüsefach des Kühlschranks. „Das ist die einfachste Möglichkeit, sie kaltzustellen!“, lachte sie.

Ich fing an, mir ernsthafte Sorgen um ihren geistigen Zustand zu machen. „Ich verstehe kein Wort, Tante Edith“, stellte ich fest.

„Thomas hat dir doch sicher erzählt, mit welchem Rohstoff Braxton sein Imperium am Laufen hält.“ Tante Edith sah mich prüfend an, bis ich artig antwortete: „Die Daten, die die Mitarbeiter aus Braxcity liefern?“

„Richtig. Diese Dinger“, sie deutete auf den Kühlschrank, „senden ununterbrochen Daten an das System Braxcity. Aber der Kühlschrank ist so gut gedämmt, dass die Geräte abgeschirmt sind. Ende der Sendung!“

„Tante, ich glaube, du übertreibst“, murmelte ich.

„Das macht nichts. Geh lieber zurück ins Bett und schlaf noch eine Runde. Ich muss mir überlegen, was ich mache, falls Braxtons Schoßhündchen noch einmal bei uns auftaucht“, sagte sie und goss das heiße Wasser in die Teekanne.

Ich schlief tatsächlich noch einmal ein und träumte das erste Mal seit Jahren von meiner Mutter. Wir gingen gemeinsam zwischen historischen Gebäuden auf einen großen Platz zu. Mama blieb immer einige Schritte vor mir. Ich beobachtete die schlanke Linie ihres Kleides, ihren federnden Schritt, bei dem ihr braunes lockiges Haar auf ihrem Rücken wippte. Ab und zu sah sie sich nach mir um, lächelte und winkte mir zu. Aber immer, wenn ich versuchte, sie einzuholen, um Hand in Hand neben ihr zu gehen, schien sie schneller zu werden. Ich erreichte sie nie.

Als Tante Edith mit einer Tüte frischer Brötchen unter dem einen Arm und einem Packen Tageszeitungen unter dem anderen meine Zimmertür aufstieß, war ich erleichtert, dass der Traum unterbrochen wurde.

Als ich kurze Zeit später in die Küche trat, war der Frühstückstisch gedeckt und Tante saß mit einer Lesebrille auf der Nasenspitze auf der Bank und blätterte in einer der vielen Zeitungen. Die englische Times, der französische Figaro, die russische Prawda und die amerikanische Washington Post lagen neben ihr.

„Liest du jeden Morgen so viele Zeitungen?“, fragte ich.

„Ach was, soviel Zeit habe ich nun auch wieder nicht. Thomas hat heute früh etwas von einem Geschäft gesagt, das für BRAXWORLD sehr wichtig ist. Ich suche nach Hinweisen, was dieser Schakal Charles Braxton vorhat“, erklärte sie und biss in ein Marmeladenbrötchen. „Irgendwo bei den Wirtschaftsnachrichten muss doch etwas darüber stehen“, murmelte sie, während sie die Überschriften las. Mit jeder Zeitung, die sie zur Seite legte, wurde sie unzufriedener.

„Nichts! Anscheinend hält Braxton seinen neuesten Schachzug geheim. Das macht mich ganz unruhig“, sagte sie, nachdem sie alle Zeitungen durchgesehen hatte.

„Warum? Was befürchtest du denn?“

„Es ist wegen der Gilde der Schreiber. Du musst wissen, dass Charles Braxton selber einmal ein engagiertes Mitglied der Gilde war. Er ist kein wahrhaftiger Schreiber. Aber als Fachmann für Kommunikation, ähnlich wie ich als Schriftforscherin, setzte er sich für die Ziele der Gilde ein. Er kämpfte, wie wir alle, für das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, setzte sich für verfolgte Journalisten und Literaten ein und initiierte Schulen überall auf der Welt. Als er vor circa zwanzig Jahren BRAXWORLD gründete und anfing, mit den elektronischen Möglichkeiten zu experimentieren, wie es viele in der Zeit gemacht haben, hat er sich mit der Gilde überworfen. Er wollte die Arbeit der Gilde mit Computer und Internet verändern. Datenbanken anlegen, interne Diskussionen veröffentlichen, Texte unserer Schreiber über das Internet verbreiten. Die Gilde wäre nicht mehr geheim gewesen. Das aber schützte ihre Arbeit und ihre Mitglieder vor Übergriffen machthungriger Menschen durch die Jahrhunderte. Braxton wollte die Gilden-Mitglieder verführen, Einfluss und Macht auf die Gesellschaft auszuüben. Der damalige Vorstand der Gilde war klug genug, sich nicht darauf einzulassen. Es kam zu einem fürchterlichen Streit mit dem Ergebnis, dass Charles Braxton aus der Gilde ausgeschlossen wurde.“

„Hat der deshalb seine Europazentrale in dieses Provinznest gebaut?“, fragte ich.

„Ja, direkt vor die Nase der Gilde. Damit wir sehen, wie groß und mächtig er wird und was wir alles verpassen, weil wir ihn rausgeschmissen haben“, seufzte Tante Edith und nippte an ihrem Tee.

„Dann durchforsten wir eben das Internet nach Infos zu diesen Verhandlungen“, schlug ich vor und öffnete den Kühlschrank. „Es gibt doch viele politische Blogs und freie Online-News.“

„Nein, auf gar keinen Fall!“

„Tante, die Dinger sind nicht giftig!“, lachte ich.

„Erstens will ich mich nicht, wie ich schon öfter betonte, in Gegenwart von diesen Geräten über wichtige Dinge unterhalten“, sagte Tante Edith entschieden. „Und zweitens wirst du mit den BRAXWORLD-Geräten, die dir Herr Späth gebracht hat, sicher keinen ungehinderten Zugang zum World Wide Web bekommen. BRAXWORLD hat eine eigene Nachrichtenplattform und was da nicht drinsteht, sollst du nicht erfahren. Deshalb besorge ich mir diese unabhängigen Tageszeitungen. Unabhängig von BRAXWORLD, meine ich damit.“

Irritiert betrachtete ich den Stapel Zeitungen. „Was würdest du denn machen, wenn du wüsstest, was Braxton vorhat?“, fragte ich.

„Ach, ich allein würde nicht viel ausrichten können. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Gilde Mittel und Wege fände, ihm das eine oder andere Steinchen in den Weg zu legen“, antwortete Tante Edith mit einem schelmischen Grinsen. „Aber sag deinem Vater nichts davon!“

„Mach ich nicht“, antwortete ich schnell. Denn mit Tante Ediths finsteren Verschwörungstheorien wollte ich lieber nichts zu tun haben. Ich schnappte mir die regionale Tageszeitung aus Tante Ediths Stapel, biss in mein Brötchen und blätterte zu den Nachrichten aus Regensburg. Ich suchte Veranstaltungstipps, die mich interessieren könnten. Obwohl ich bezweifelte, dass ich allein zu einem Konzert oder in einen Club gehen würde. Aber ein bisschen Orientierung konnte nicht schaden.

Wenig später schleppte Tante Edith schwer schnaufend Kisten aus ihrem Zimmer in den Flur.

„Ziehst du wieder aus?“, fragte ich bestürzt.

„Nein, nein“, ächzte Edith und stellte eine Bücherkiste ab. „Das Zeug muss aus der Wohnung geschafft werden. Wenn der Schnüffler Späth hier wieder auftaucht, will ich sie lieber nicht hier haben.“

Inzwischen hatte ich mich an die Paranoia meiner Tante gewöhnt. Die Aktion hielt ich für absolut übertrieben, sagte aber nichts, weil Frau Doktor sowieso nicht auf mich hören würde. Die Kisten erinnerten mich an unsere Umzugskisten. Wann die wohl eintreffen würden? Ich sehnte mich nach meinen persönlichen Sachen. Doch der Inhalt von Ediths Kisten lenkte mich schnell ab.

Ich stöberte darin und fand alte ledergebundene Bücher, Pergamentrollen und überquellende Papiermappen.

„Sind das Schriftsachen, an denen du gerade etwas untersuchst?“, fragte ich.

Tante Edith packte in ihrem Zimmer eine weitere Kiste. „Ja, das eine oder andere“, antwortete sie gedankenverloren. Ihr Blick tastete die drei mit Schreibblöcken und Notizbüchern überladenen Tische ab. Zwei Regalfächer waren nun leergeräumt. „Ich glaube, ich habe alles“, stellte sie zufrieden fest.

Meine Hand strich über den Rücken des Buches, das Tante Edith vorhin vor Herrn Späth verstecken wollte. Ich erkannte es an den grünen Schriftzeichen. Vorsichtig zog ich es aus der Kiste. Der braune Ledereinband fühlte sich weich und warm an. Manche Stellen glänzten von den unzähligen Händen, die das Buch in den vielen Jahren seiner Existenz gehalten hatten. Auf dem Einband war mit verschlungenen Schriftzeichen in dunkelgrüner Farbe „Historia Scriptorum“ eingraviert. Ich fuhr mit den Fingern leicht über die Gravur einer geschwungenen, grünen Schreibfeder, die wie ein Ornament an den Buchstaben lehnte. In dem Augenblick sah ich nur dieses tiefe Grün der Feder, den Glanz reflektierenden Lichtes darauf und ich hätte schwören können, dass sie sich sanft bewegte.

„Finger weg, Lara!“, befahl Tante Edith und riss mir das Buch aus den Händen. „Wie kommt das denn in diese Kiste! Ich bin schon ganz konfus wegen diesem Schnüffler Späth!“

Ich schnaubte verärgert. Denn mein Blick war noch ganz auf die Feder fixiert. „Diese Feder ist wunderschön, so plastisch und lebendig, als könnte man sie einfach in die Hand nehmen.“ Tante Edith betrachtete die Gravur auf dem Buchdeckel und schüttelte den Kopf. „Was meinst du, Lara? Das ist einfach nur ein grüner Gänsekiel“, sagte sie schroff.

Warum war sie so aufgebracht und abweisend? Als ich noch einmal danach griff - ich konnte einfach nicht anders - drehte sich Tante Edith demonstrativ weg, ging in ihr Zimmer zu einer Kommode und schob sie zur Seite. Dahinter tauchte ein Wandsafe auf. Tante Edith tippte den Zahlencode ein. Sie versuchte nicht einmal, das Tastenfeld zu verdecken. Ich erkannte die Ziffernfolge. Es war mein Geburtsdatum. Dann erst fiel Tante Edith ein, den Schlüssel aus einer Schublade der Kommode zu holen.

„Wie konnte ich nur so leichtfertig sein und das Buch hierher bringen“, schimpfte sie vor sich hin, als sie den Schlüssel in das Schloss steckte. Die Tür sprang auf und Tante Edith legte das Buch hinein.

„Historia Scriptorum — heißt das: Die Geschichte der Schrift?“, fragte ich, während ich zusah, wie sie den Safe schloss und die Kommode wieder davor schob.

„So ähnlich. Du hast gut aufgepasst in Latein, was? Es heißt: Geschichte der Schreiber“, antwortete Edith. „Eine Chronik der Schreiber der Gilde. Sag niemandem, dass du es hier gesehen hast. Hast du gehört? Kein Wort!“ Fordernd sah sie mich an, bis ich es versprach. „Geht klar, wenn dir das so wichtig ist. Aber warum? Das ist doch auch nur ein altes Buch, genau wie die anderen hier.“

„Du mit deinen Fragen“, schnaubte sie und überprüfte den Inhalt der Kisten, bevor sie die Deckel schloss.

„Sehr schön“, sagte sie endlich. „Lara, geh doch bitte zu den Nachbarn und frage nach, ob Juri Zeit hat, mir zu helfen.“

„Wir haben Nachbarn! Habe ich voll vergessen. Wer wohnt denn noch alles hier? Wie sind die so?“

„Braxton hat das Haus komplett gemietet. Extra für uns hat er zwei Wohnungen sanieren lassen. In den zwei Stockwerken über uns sind nur leerstehende Wohnungen und in den Keller möchte ich lieber nicht gehen. Wer weiß, wen Charles da alles vergraben hat.“

„Tante!“, protestierte ich. „Das ist nicht lustig! Ich hasse Gruselgeschichten!“

„Tja, dann bist du in dem Haus gut aufgehoben! Es spukt jede Nacht, hast du das noch nicht bemerkt?“, lachte Tante Edith. „Also los, geh jetzt rüber und frag nach Juri.“

Zu den Dingen, die ich zu hundert Prozent nicht mochte, gehörte, bei fremden Menschen an der Wohnungstür zu klingeln. Aber gut, ich wollte Tante Edith nicht noch mehr reizen.

„Stankiewicz“ stand auf dem Klingelschild der Wohnung gegenüber. Mir war die Wohnungstür mit dem Namen vorher gar nicht aufgefallen. Als sich die Tür auf mein Klingeln hin öffnete, stand ein untersetzter Mann mit Halbglatze vor mir. Die Träger seiner Arbeitshose hingen runter und sein Shirt hatte Ölflecken. Er sah mich mit eisblauen Augen aus einem rundlichen Gesicht freundlich an und erkundigte sich, was ich wolle.

„Ich bin Lara Ritter und wohne seit ein paar Tagen nebenan“, stellte ich mich vor. „Meine Tante möchte etwas wegräumen und fragt, ob ein Juri Zeit hat, ihr zu helfen.“

„Frau von Schelling braucht Hilfe? Aber ja, natürlich!“, antwortete der Mann sofort und rief etwas in einer fremden Sprache in die Wohnung hinein.

Ein Junge trat aus einem Zimmer in den Flur. Er war etwas älter als ich, groß und schlank. Die wirren dunkelblonden Haare umrahmten seine kantigen Gesichtszüge. Er war komplett schwarz gekleidet, was ihn hart und kalt erscheinen ließ. Schon auf den ersten Blick wirkte er arrogant. Am liebsten hätte ich behauptet, ich hätte mich geirrt und Tante Edith bräuchte gar keine Hilfe. Dann hätte sich dieser Juri sofort in Luft auflösen können.

„Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt“, sagte der untersetzte Mann mit rollendem Akzent. „Mein Name ist Pjotr Stankiewicz und das ist mein Sohn Juri.“ Er wischte seine Hand an der Hose ab und hielt sie mir entgegen.

„Hallo“, murmelte ich, während ich sie schüttelte.

Als Juri vor mir stand, musste ich leider feststellen, dass dieser Typ die Herzen aller meiner Freundinnen in Indien zum Schmelzen gebracht hätte. Nicht weil er so charmant wirkte, sondern wegen seiner blauen Augen. Die hatten irgendwie etwas freundliches und passten gar nicht zu seiner großspuriger Ausstrahlung. Juri unterhielt sich mit seinem Vater auf Russisch, wie ich jetzt vermutete. Als Herr Stankiewicz ihm auf Deutsch erklärte, wer ich sei, veränderte sich Juris Miene schlagartig. Aus gelangweilter Gleichgültigkeit wurde feindselige Kälte. Wie konnte es sein, dass ich einem Menschen, mit dem ich noch kein Wort gewechselt hatte, am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hätte? Bisher hatte ich nie ein Problem mit arroganten Schnöseln wie ihm gehabt. Ich ignorierte sie. Aber dieser Typ brachte es fertig, dass ich innerlich meine Krallen schärfte, um sie jederzeit wirkungsvoll gegen ihn einsetzen zu können.

Ich musste ziemlich dämlich ausgesehen haben, als Juri grußlos an mir vorbei über den Flur in unsere Wohnung marschierte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, mit der Absicht, wortlos in mein Zimmer zu verschwinden. Aber leider hielt mich Tante Edith auf. Sie erklärte Juri die Situation mit Herrn Späth von heute Morgen und dass die Bücher in den Kisten besser oben aufgehoben seien. Was ging ihn das überhaupt an?, ärgerte ich mich.

„Habt ihr euch schon bekannt gemacht?“, fragte Tante Edith. „Das ist Lara Ritter“, stellte sie mich vor.

„Ja, alles klar“, nuschelte Juri. Er hob nicht einmal seinen Blick von einer der Bücherkisten. Tante Edith ließ sich von Juris Unfreundlichkeit nicht beeindrucken. Sie redete einfach weiter.

„Lara, darf ich dir Juri Stankiewicz vorstellen?“ Jetzt hätte meine Tante merken müssen, dass ihr Versuch, einen Kontakt herzustellen, ins Leere lief. Doch sie plapperte ohne Luft zu holen weiter: „Juri hat mir geholfen, eure Umzugskisten aus Indien zu sichten und auszusortieren.“

„Ihr habt was?“, keuchte ich verdutzt. Mir blieb ein Protestschrei im Hals stecken. Waren unsere Kisten etwa schon da? Und hatte dieser Juri etwa meine privaten Sachen durchstöbert? Tante Edith sah mich bestürzt an.

„Ach du meine Güte!“, stöhnte sie und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Entschuldige Lara. Ich habe die Kisten glatt vergessen. Sie sind einige Tage vor euch hier angekommen.“

„Und warum habt ihr sie aussortiert?“, fragte ich mit trockenem Mund. Juri schloss einen Karton und sah dabei zu mir rüber. Er zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Spielt sie die Ahnungslose oder weiß sie wirklich nichts?“, fragte er meine Tante. Es klang so, als erkundige er sich, ob ich so dumm sei oder nur so tue. Seine Frage schien ernst gemeint, denn er sah Tante Edith erwartungsvoll an. Ihr Blick wanderte zwischen mir und ihm hin und her. Endlich schien sie zu merken, dass an meinem Pulverfass die Lunte brannte und es jederzeit explodieren würde.

„Ach ja, richtig. Habe ich noch gar nicht erzählt“, begann sie mir schnell zu erklären. „Jeder neue Mitarbeiter von Braxcity muss alle seine persönlichen Sachen in einem Lager unterbringen. Er soll sich unbelastet von seinem bisherigen Leben auf das Projekt Braxcity einlassen. Als eure Umzugskisten hier eintrafen, hatte ich nur eine Stunde Zeit, bevor die Männer von Braxcity kommen wollten, um sie abzuholen und ins Lager zu bringen. Ich dachte, du willst sicher das eine oder andere in deiner Nähe behalten. Deshalb hat mir Juri geholfen, eure Sachen zu sichten und das herauszufischen, von dem ich annahm, du würdest daran hängen. Das war gar nicht einfach, ich kannte dich ja kaum. Was wir aus den Kisten geholt haben, liegt jetzt oben in der Dachwohnung. Nicht wahr, Juri?“

Juri nickte und packte mit beiden Händen die größte Kiste.

„Ich glaube, du redest zu viel, Edith“, sagte er, wobei sein Blick durch den Raum schweifte.

„Keine Sorge! Laras Geräte sind im Kühlschrank. Ansonsten wird hier nicht spioniert. Großes Ehrenwort von Charles Braxton! Anders also als in eurer alten Wohnung in Braxcity.“

Juri sah Tante Edith ungläubig an. Meinte dieser Schönling etwa auch, dass hier in den Privatwohnungen spioniert wird? Der hatte eindeutig zu viele Gespräche mit Tante Edith geführt!

„Okay, dann schnapp dir mal eine Kiste und folge mir still und unauffällig“, forderte Juri mich auf. „Und dann führe ich dich zu deinen Mädchentagebüchern“, spottete er und ging in den Hausflur.

Mir wurde heiß im Gesicht, glühender Zorn breitete sich in mir aus.

„Eigentlich ist er ein ganz netter Junge“, sagte Tante Edith und sah Juri verständnislos hinterher. „Naja, ich glaube, es ist wegen Thomas. Er mag deinen Vater nicht.“

„Ach ja? Und das gibt ihm das Recht, so mit mir zu reden, oder was?“, fauchte ich.

Tante Edith zuckte mit den Schultern und schob mich in Richtung Wohnungstür. Der einzige Grund, warum ich Juri mit einer von Tantes Kisten folgte, war die Hoffnung, dort oben meine Sachen zu finden. Vielleicht war die große Decke, die ich mir von einem Schneider auf dem Markt in Neu-Delhi hatte nähen lassen, dabei.

Im nächsten Stockwerk musste ich die schwere Kiste kurz absetzen. Juri wartete bereits eine Treppe weiter. Das Haus war hier oben nicht wiederzuerkennen. Nach der Renovierung unserer Etage war offensichtlich kein Pinselstrich mehr gemacht worden. Der staubige Boden, die verschmierten Fenster, die Wände, von denen der Putz bröckelte, alles wirkte heruntergekommen und verlassen.

„Hier wohnt wirklich niemand mehr, oder?“, fragte ich, ohne zu überlegen. Denn mit diesem Juri wollte ich eigentlich kein Wort reden.

„Gut beobachtet“, kam prompt die spitze Antwort von oben. Mir platzte der Kragen. „Es tut mir ja leid, wenn ich den Herrn mit meiner Anwesenheit nerve, oder der Herr meinen Vater nicht ausstehen kann!“, fauchte ich. „Kann der Herr trotzdem versuchen, einfach normal mit mir zu reden? Noch habe ich dir ja schließlich nichts getan!“

„Mal sehen“, kam es von oben.

Als Juri im nächsten Stockwerk angekommen war, lehnte er sich lässig ans Geländer und ließ seine Worte auf mich niedertröpfeln. „Normalerweise ziehen ja solche Neulinge wie ihr in eine Villa in Braxcity. Aber es gibt anscheinend immer Leute mit besonderen Beziehungen. Für die gelten dann die Regeln nicht. Extra für den neuen Manager Thomas Ritter und seine Tochter wurde die untere Etage hergerichtet. Eine Wohnung für euch und eine, natürlich einfachere, Wohnung für uns“, sagte er.

Ich stieg ohne dies zu kommentieren weiter. So eine Information musste man auch erst mal verdauen. Tantes Bücherkiste hing schwer in meinen Armen. Schnaufend quälte ich mich Stufe für Stufe nach oben. Dass wir in dieses Haus einquartiert worden sind, verstehe ich, überlegte ich, aber warum auch die Stankiewiczs? Hatte mein Vater etwas damit zu tun? Warum hatte er dann noch nichts davon erzählt? Andererseits, wann hatte Papa schon alle Fakten, die mit unserem Umzug nach Regensburg zu tun hatten, offen auf den Tisch gelegt? Vor einer schiefen, zerkratzten Wohnungstür hatte Juri seine Kiste abgesetzt und suchte in den Hosentaschen nach dem Schlüssel.

„Das Dumme ist nur“, fuhr Juri fort, als hätte er meine Gedanken gehört, „dass ich gern in Braxcity geblieben wäre, wo wir gewohnt haben. Aber, warum auch immer, hat jemand beschlossen, dass mein Vater hier den Hausmeister und ich für dich das Kindermädchen spielen soll — und das passt mir gar nicht!“, giftete er und winkte mich durch die Tür. In dem Moment hätte der Typ sagen können, was er wollte. Es wäre mir egal gewesen. Denn, kaum schwang die Wohnungstür nach innen auf, entdeckte ich zwei Umzugskisten aus Indien. Ungeduldig drängte ich mich an Juri vorbei. Ich öffnete eine Kiste und merkte, wie sehr mir meine Sachen gefehlt hatten. Als erstes holte ich den Bilderrahmen mit Mamas Foto heraus. Dann eines ihrer Bücher, klappte den Buchdeckel auf und las die Widmung, die sie für mich in unserer Geheimschrift geschrieben hatte. Mama hatte diese Schrift entworfen und mir beigebracht, sobald ich schreiben konnte. „Nur du und ich können diese Schrift lesen. Sie ist unser Geheimnis“, hatte sie mir ins Ohr geflüstert. Auf dem Kistenboden entdeckte ich mein Holzkästchen, das ich schon in Indien lange nicht mehr in die Hand genommen hatte. Jetzt freute ich mich, es zu sehen. Ich öffnete es und nahm den handtellergroßen, flachen Kiesel heraus. Der Stein fühlte sich kühl auf meiner Hand an, dennoch hatte ich das Gefühl, als würde mich ein warmer Schauer durchlaufen. Ich strich über die Zeichen, die in die Oberfläche eingeritzt waren. Er war das letzte Geschenk von Mama. Als sie vor sieben Jahren nach Regensburg aufbrach, hatte sie ihn mir in die Hand gelegt und gesagt: „Das ist ein Seelenstein. Pass gut auf ihn auf! Die Zeichen wurden vor mehreren tausend Jahren in den Stein geritzt. Keiner weiß, was sie bedeuten. Sie sind ein großes Rätsel.“ Ich war neun Jahre alt und liebte Mamas Geschichten. „Wenn ich zurück bin, erzähle ich dir alles über diesen Stein“, hatte Mama versprochen. Solange sie weg war, hatte ich den Stein Tag und Nacht bei mir. Ich wartete ungeduldig auf den Moment, in dem sie mir seine Geschichte erzählen würde. Bis dann Papa vor mir stand, mich fest in seine Arme schloss und sagte, dass Mama niemals wiederkommen würde. Der Stein fiel dabei auf den Boden. Irgendjemand steckte ihn in dieses Kästchen, das Kästchen in die Umzugskiste nach Indien, wo er die Jahre über in einer Schublade lag, nur um erneut in eine Umzugskiste gepackt zu werden und hier in Regensburg wieder in meiner Hand zu landen. Ich starrte auf den Kiesel und hatte das Gefühl, als hätte ich gerade eben von Mamas Tod erfahren.

„Es tut mir leid wegen deiner Mutter“, unterbrach Juri meine Erinnerung. Ich hatte ihn völlig vergessen und drehte mich erschrocken zu ihm um. Er hatte inzwischen die letzte Kiste von Tante Edith nach oben geschleppt.

„Danke. Woher weißt du davon?“

Er lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Erstens kennt jeder die berühmte Schriftstellerin Sophie Ritter, zweitens hast du eine Tante, die gern erzählt, und drittens steht es längst auf deiner Profilseite der Braxcity-Freundeseite, Braxnet. Du darfst davon ausgehen, dass es inzwischen jeder weiß.“

„Na toll!“, seufzte ich. „Was für eine Profilseite? Ich bin noch nicht einmal Mitglied in diesem Braxcity-Verein. Wer bitte verbreitet Infos über mich, ohne zu fragen?“

„Diese Frage ist jetzt nicht ernst gemeint, oder?“, erwiderte Juri und verdrehte die Augen.

„Doch ist sie!“, donnerte ich zurück, ließ den Seelenstein in meine Hosentasche gleiten, raffte Mamas Foto, die Bücher und die Decke zusammen und stand auf, um wieder runter zu gehen.

„Lass die Sachen lieber hier“, sagte Juri.

Mein Blick musste ziemlich entgeistert gewesen sein. Juri schnaufte genervt durch. „Also, ich versteh das nicht. Du scheinst ja von nichts eine Ahnung zu haben. Dein Vater ist in der Führungsriege von Braxcity und klärt dich nicht einmal über die grundlegenden Regeln seines Systems auf?“

„´tschuldigung!“, fauchte ich. „Vielleicht ist er noch nicht dazu gekommen, was weiß ich? Und es ist ganz bestimmt auch nicht sein System!“

Juri seufzte. „Jetzt lass einfach die Sachen hier. Keine privaten Dinge in der Wohnung. Sonst kannst du sie gleich Herrn Späth auf den Schreibtisch legen und ihm deine tiefsten Geheimnisse ins Ohr flüstern.“ Juri hielt mir demonstrativ die Wohnungstür auf. „Aber auch hier wird es sicherlich für die Tochter vom Ritter irgendeine Ausnahme geben.“ Leise fluchend legte ich meine Sachen wieder in die Kiste, bis auf Mamas Foto und den Seelenstein.

„Du bist genauso paranoid wie Tante Edith!“, giftete ich, als ich an Juri vorbei die Wohnung verließ.

„Nein, bin ich nicht“, entgegnete Juri ungerührt. „Außerdem ist deine Tante nicht paranoid, sondern realistisch.“

„Ach ja? Wieso tut ihr beiden dann so, als würden wir in einem diktatorischen Überwachungsstaat leben?“

„Weil es so ist.“

„So ein Quatsch!“, entgegnete ich. „Und selbst wenn, du scheinst es ja zu mögen. Hast du nicht gesagt, du würdest lieber weiter in Braxcity wohnen, als hier in der Altstadt?“

„Das geht sicher über deinen Horizont, aber wenn man weiß, dass man beobachtet wird, muss man nur alles richtig machen und ist auf der sicheren Seite. Hier“, Juri deutete unbestimmt durch das Treppenhaus, „hier weiß niemand, was läuft. Das hat dein Vater prima eingefädelt!“

Es musste an der Luft dieses alten Gemäuers liegen, die Juri und Tante Edith schon länger eingeatmet hatten. Sie hatten beide denselben Virus abbekommen, schoss es mir wütend durch den Kopf. „Mein Vater hat gar nichts eingefädelt“, entgegnete ich und lief die Treppen runter. Als wir vor den Wohnungstüren standen und ich schon dachte, diesen Arroganzling endlich los zu sein, drehte er sich zu mir um.

„Also, da wäre noch die Sache mit meinem Job als dein Kindermädchen“, sagte Juri.

„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“

„Leider doch. Ich bin dazu verdonnert, dein Tutor für Braxcity zu sein. Ich muss aufpassen, dass du dich nicht verläufst. Darüber schreibe ich Berichte, die kontrolliert werden, was völlig sinnlos ist. Alle Angestellten von Braxcity werden dich sowieso mit Argusaugen beobachten.“

„Ich brauche keinen Aufpasser!“, stellte ich wütend klar.

„Interessiert leider niemanden. Jedenfalls müssen wir einige Zeit miteinander verbringen. Deshalb kommst du am besten heute Nachmittag mit in den Park. Ich treffe mich dort mit ein paar Freunden.“

War das eine Einladung oder eine Vorladung? Ich dachte einen Moment nach. Konnte überhaupt ein Mensch mit diesem Juri befreundet sein?

„Sind deine Freunde netter als du?“, fragte ich.

„Ist nur schwer möglich. Such dir ihre Profile im Braxnet raus, das gehört sich hier so. Mike Adkins, Alice Blinch und Paula Lerchinger, alle aus unserer Leistungsstufe. Um fünf Uhr unten vor der Tür.“

Ohne meine Antwort abzuwarten, verschwand Juri hinter seiner Wohnungstür.

Die Grüne Feder

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