Читать книгу Die Grüne Feder - Petra Teufl - Страница 3
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ОглавлениеIndien verlassen? Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Der Umzug war nicht meine Idee gewesen. Er war die Idee meines Vaters, Thomas Ritter. Auf die gleiche Weise hatte er mich auch schon vor sieben Jahren, wenige Tage nach der Beerdigung meiner Mutter, einfach gepackt und auf eine Abenteuerfahrt, wie er es nannte, mitgenommen.
Das Abenteuerland hieß Indien, die Stadt Neu-Delhi. Neugierig und staunend stürzte ich mich in das exotische Chaos und machte es schnell zu meinem Zuhause. Dabei halfen mir vor allem die Menschen in unserer Nachbarschaft und in der Internationalen Schule. Sie gaben mir von Anfang an das Gefühl, willkommen zu sein. Bald konnte ich mir ein Leben ohne die leuchtenden Farben und Muster überall nicht mehr vorstellen. Zu all dem gehörten auch das Gedränge überfüllter Straßen sowie die staubige Luft, die vom Duft der Gewürze erfüllt sein konnte oder mit dem Gestank alter Autos. Anfangs verlor ich mich in dem Getümmel zwischen polierten Fassaden moderner Bürotürme und kunstvoll geschnitzten, uralten Hindu-Tempeln. Die zahllosen Straßen und engen Gassen kamen mir wie Labyrinthe vor, aus denen ich nicht immer pünktlich heraus fand - sehr zum häufigen Ärger meines Vaters.
An dem ersten Jahrestag von Mamas Tod hatte sich mein Vater mit mir auf die Bank vor unserem Haus gesetzt. Er erklärte, was er mit dem Umzug in diese fremde Welt beabsichtigt hatte. Der Kulturschock sollte uns von dem Schmerz ablenken, der in uns brannte, seit Mama mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren war. Neu-Delhi sollte eine Art Heilmittel sein. „Ich weiß, Papa“, antwortete ich leise. Er nickte, nahm meine Hand und drückte sie fest. Keiner wollte durch Worte die Traurigkeit des anderen verstärken. Das blieb auch in der Zeit danach so. Als IT-Spezialist unterrichtete mein Vater an verschiedenen Universitäten in Indien. Er war oft wochenlang unterwegs. Wenn er endlich wieder zu Hause war, gab es so viel zu erzählen, dass die Zeit, die uns dafür blieb, oft nicht ausreichte. Aber es gab jedes Mal diesen Moment, an dem Vater meine Hand drückte und wir gemeinsam an meine Mutter dachten, die wir so sehr vermissten. Für mich war es vor allem Aisha Ansari gewesen, die mich tröstete. Vom ersten Tag an war sie unsere Haushälterin gewesen. Als Witwe mit vier erwachsenen Kindern konnte sie bei uns wohnen. Als ich mit neun Jahren erschöpft von der langen Reise an Papas Hand das Haus in Neu-Delhi das erste Mal betrat, kam die kleine rundliche Inderin, in einen grünen Sari gekleidet, auf mich zu. Sie achtete nicht auf Vaters Begrüßung, sondern richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Sie ging vor mir in die Hocke und ihre großen braunen Augen blickten durch meine Schutzmauern hindurch, direkt in mein Herz. „Sad curly head“, flüsterte sie mit weicher Stimme, wobei sie mir sanft über die braunen Locken strich. Da war es mit meiner Fassung vorbei. Ich sank in ihre weiche Umarmung und alle Tränen, die ich tapfer zurückgehalten hatte, liefen über ihren Sari. Aisha erklärte mir die Sitten und Gebräuche Indiens, nähte meinen ersten Sari, brachte mich in die Schule und sorgte dafür, dass ich wenigstens hin und wieder meine Hausaufgaben machte. Als ich mich mit dreizehn in den Nachbarsjungen verliebte, musste sie mir ebenfalls die Tränen trocknen. Der Sechzehnjährige zog zu seinen Verwandten nach Bombay, wo er das Geschäft seines Onkels übernahm. Aisha und ich adoptierten uns gegenseitig. Ich nahm sie als Mutterersatz an und sie machte mich zu ihrem Nesthäkchen, um das sie sich kümmern durfte.
An unserem Abreisetag hörte ich Aisha in der Küche mit den Töpfen und dem Geschirr klappern. Sie bereitete unser letztes Frühstück vor. Für mich war es das Zeichen, dass meine Zeit in Neu-Delhi in wenigen Stunden zu Ende gehen würde. Ich hatte die Sonne gebeten, heute nicht aufzugehen, ich hatte diesen Tag aus allen Kalendern gestrichen und mich geweigert, irgendetwas zu packen. Doch als ich aufwachte, schien die Sonne durch die Jalousien, der Radiowecker verkündete lautstark Datum und Uhrzeit und vor meinem Bett stand ein Koffer, den Aisha still und heimlich in der Nacht gepackt haben musste. Die Sonne hörte offensichtlich ebenso wenig wie mein Vater auf die Wünsche einer Sechzehnjährigen. Also quälte ich mich aus dem Bett, zog Jeans und T-Shirt an, fuhr mit der Bürste durch meine braunen Locken, was völlig wirkungslos blieb, nahm die Flip-Flops in die Hand und ging in die Küche.
Aisha hatte ihr langes, schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihrem grünen Festtagssari hing.
Ich sah sie erstaunt an. „Hast du heute noch etwas Besonderes vor, Aisha?“
Die kleine, rundliche Frau drehte sich mit sanftem Schwung zu mir um. Wie oft hatte ich vor dem Spiegel geübt, mich so geschmeidig zu bewegen, wie sie es tat? Unzählige Male! Aber mit kläglichem Ergebnis.
„Nein, nein“, antwortete sie und strich den grünen Seidenstoff zurecht. „Das ist für dich, Lara. Zu Ehren deines Abschieds.“
Sofort vergrößerte sich der Kloß in meinem Hals und augenblicklich füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich schluckte den Kloß runter und blinzelte tapfer die Tränen weg. Aisha und ich hatten schon vor Tagen beschlossen, wegen der bevorstehenden Trennung genug geweint zu haben. Also lächelte ich sie krampfhaft an und wiederholte im Stillen zum hundertsten Mal meinen Schwur. Bei allem, was in Indien heilig ist - und das ist eine ganze Menge - würde ich sobald wie möglich wieder nach Neu-Delhi zurückkommen. Das bedeutete, dass ich alle Ferien hier verbringen und spätestens an meinem achtzehnten Geburtstag bei Aisha einziehen würde. Gemeinsam mit all ihren Kindern, Enkeln, Tanten und Onkeln würde ich in ihrem Haus leben. Ab diesem Tag würde mein Vater mir nämlich nicht mehr vorschreiben können, wo ich zu leben habe.
Aisha zog meinen Kopf zu sich herunter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Frühstück ist gleich fertig, aber wenn du Amal tatsächlich noch einmal besuchen willst, müsstest du dich jetzt beeilen“, sagte sie.
Sie hatte recht. Von meinen Schulfreundinnen hatte ich mich gestern schon verabschiedet, sie hatten mir eine tolle Abschiedsparty bereitet. Würde ich in Regensburg auch so nette Freunde finden? Würde ich in der Schule in Deutschland gut klarkommen? Schon seit Tagen geisterten mir diese Fragen im Kopf herum.
Jetzt schlüpfte ich aber erstmal in meine Latschen und lief über den Hinterhof auf die Straße, um Amal Yadav Lebewohl zu sagen. Amal Yadav war ein alter Mann und er war ein guter Freund von mir. Es ist in diesem Land eine große Ehre, wenn alte Männer sich mit jungem Gemüse wie mir abgeben. Vor allem, wenn das Gemüse weiblich ist.
Amal arbeitete als Schreiber auf dem Pahar Ganj Markt, in dessen Nähe wir wohnten. Da viele Menschen hier weder lesen noch schreiben konnten, ließen sie ihre Briefe an Verwandte, Anträge für Behörden, Bewerbungen und alles, was der Alltag eben so mit sich brachte, von einem Schreiber verfassen. Amal war berühmt dafür, dass seine Briefe und Schreiben beim Empfänger die gewünschte Reaktion hervorriefen. So vererbte einmal ein reicher Onkel sein Landgut dem Neffen, der bei Amal die Briefe an ihn hatte schreiben lassen. Anträge auf staatliche Unterstützung für seine Kunden wurden sofort gewährt, und wenn es um Liebesdinge ging, konnte Amal Herzen zusammenbringen, die dann nicht mehr zu trennen waren.
„Wie machst du das, Amal?“, hatte ich ihn einmal gefragt. Amal sah von seiner Arbeit auf und wandte sich mir zu. „Was mache ich denn?“
„Du überzeugst den Empfänger immer von dem, was deine Kunden wollen.“
„Ah, das“, sagte er und lächelte. Dann zeigte er auf sein Ohr. „Du musst ihnen zuhören. Erst mit dem Ohr,“ seine Hand wanderte auf seine Brust, „und dann mit dem Herzen. Dann verstehst du die Botschaft, die sie senden wollen. Die aufzuschreiben ist dann keine Kunst mehr.“
Ich hatte Amal fast täglich besucht und ihm fasziniert bei seiner Arbeit zugeschaut. Eines Tages erlaubte er mir, einen Auftrag eines Kunden zu übernehmen. Ich war aufgeregt und überlegte bei jedem Wort, das ich schrieb, dreimal, ob es das Richtige wäre. Amal lehrte mich, die treffenden Formulierungen und die in Indien üblichen Redewendungen zu verwenden. So wurden auch meine Briefe immer besser. Meinen ersten Liebesbrief durfte ich vor zwei Jahren schreiben. Ein junger Mann wollte seine Verlobte zu einer vorgezogenen Hochzeit überreden. Erst wollte der Kunde nicht, dass ich seinen Brief verfasste, doch Amal meinte, es gäbe keine bessere Schreiberin für dieses Anliegen. Also hörte ich dem jungen Mann zu und schrieb einen Brief, für den er sich später tausendmal bei mir und Amal bedankte. Wenige Tage danach erhielten wir die Einladung zu der Hochzeit.
Ich lief eilig durch die noch schattigen Gassen, und kurz vor der vierspurigen Hauptstraße, auf der sich die Autos bereits stauten, bog ich nach rechts durch einen Torbogen auf den Marktplatz ein. Die Bauern aus dem Umland bauten ihre Obst- und Gemüsestände auf, Stoffhändler rollten die schillernden Seidenbahnen aus und die Schuhputzer ordneten die Tiegel, Lappen und Bürsten in ihren Kisten. Ich überquerte den Markt, bis ich am anderen Ende unter den Arkaden Amal Yadav vor seinem kniehohen Schreibtisch sitzen sah. Schulterlanges, weißes Haar umrahmte sein schmales, faltiges Gesicht. Der orange Baumwollkaftan saß makellos an ihm, als hätte er ihn gerade erst aus dem Schrank geholt. Als ich mich auf die Kissen setzte, die für seine Kunden bestimmt waren, räumte er seine Stifte, Federn und alle weiteren Schreibutensilien aus der Schublade seines Tischchens und reihte sie auf der Schreibplatte auf. Dann holte er einen Stapel Papier hervor und legte ihn daneben. Erst als er fertig war, begrüßte er mich, indem er seine Hände vor der Brust zusammenlegte und den Kopf senkte. Ich tat es ihm gleich.
„Lara, schön, dass du es noch geschafft hast. Heute ist ein großer Tag für dich. Du darfst in deine Heimat zurück“, sagte er mit sanfter Stimme, obwohl er wusste, dass ich den Umzug ganz anders bewertete. Ich hatte ihm oft genug erklärt, dass Indien, dass Neu-Delhi meine Heimat sei. Aber das glaubte er mir einfach nicht. „Warte es nur ab“, sagte er dann. „Wenn du erst wieder in Deutschland bist, wirst du es spüren.“
Amal hob den Deckel seines Tisches an und nahm etwas heraus, das er mit beiden Händen umschloss, kurz an seine Brust drückte und mir schließlich entgegenstreckte. Er öffnete die Hände und mir stockte der Atem. Amal hielt mir den Waterman entgegen. Dieser Füllfederhalter war aufgrund seiner Geschichte etwas ganz Besonderes.
Vor ungefähr hundert Jahren hatte ein englischer Offizier diesen Füller mit nach Indien gebracht und ihn Amals Urgroßvater, der als Schreiber für ihn tätig war, geschenkt. Damit begann die Tradition der Schreiber in der Familie Yadav. Bei einem meiner ersten Besuche bei Amal sah ich ihn mit diesem Waterman einen Brief schreiben. Mir fiel sofort die Federspitze des Füllers auf. Sie war nicht wie üblich bei alten Füllfederhaltern aus Gold, sondern aus einem braunen Material. Sie passte gar nicht auf diesen Waterman. „Was ist das für eine Federspitze?“, fragte ich den Schreiber. „Sie sieht seltsam aus.“
Amal hielt den Waterman in die Sonne und das Licht leuchtete goldbraun durch die Federspitze.
„Ein Geschenk von einer besonderen Freundin“, antwortete Amal und drehte den Füller im Licht. „Sie ist ein einzigartiges Kunstwerk aus Horn und Gold. An der Spitze steckt ein winziger Rubin als Schreibkugel. Wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte er. Ich staunte mit offenem Mund. „Darf ich sie mir einmal genau ansehen?“, fragte ich und streckte meine Hand nach dem Waterman aus.
„Nein!“, entschied der sonst so sanfte Amal streng, schraubte die Kappe auf den Füller und legte ihn in die Schublade. „Du darfst diesen Waterman niemals in die Hand nehmen!“, befahl er.
„Warum?“, fragte ich überrascht.
„Das geht dich nichts an.“
Seitdem packte Amal den Waterman immer schnell weg, wenn ich mich seinem Schreibplatz näherte. Auch, wenn ich sein Verhalten sehr verwunderlich fand und die harsche Zurechtweisung nicht ganz zu dem sanftmütigen Amal passen wollte, dachte ich über diese Eigenwilligkeit des alten Mannes nicht weiter nach. Schließlich hatte jeder Mensch seine ganz persönlichen Heiligtümer, die er mit niemandem teilen wollte. Warum also nicht auch der alte Schreiber Amal Yadav?
Und jetzt hielt er mir diesen Waterman als Abschiedsgeschenk entgegen?
„Dieser Füllfederhalter soll dich auf deinem Weg begleiten“, sagte Amal mit weicher Stimme.
„Aber du hast mir doch verboten, ihn anzufassen“, erwiderte ich erstaunt.
„Ich habe es mir anders überlegt. Das dürfen alte Männer doch, oder?“, lächelte Amal.
„Das kann ich nicht annehmen“, entgegnete ich leise. „Der gehört in deine Familie, deinem Sohn oder deiner Tochter!“
Amal nickte ernst, so wie er es stets tat, wenn er sich überlegte, ob das, was ich sagte, Sinn ergab.
„Du hast recht, trotzdem sollst du ihn haben!“, bestimmte er.
Zögernd nahm ich den Füller aus seinen Händen. Seine Oberfläche war schwarz und glatt, wie poliert, mit einigen Kratzern darauf - Zeichen seines Alters.
„Meine Kinder“, lachte Amal fröhlich, „sind gute Kinder! Aber sie sind keine Schreiber.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Dieser alte Waterman will zu einem Schreiber — und du bist eine Schreiberin, Lara. Er ist ein Geschenk. Als Dank für deine Hilfe. Du hast mir durch dein Schreiben viele zufriedene und glückliche Kunden gebracht.“
Ich ließ den Füllfederhalter vorsichtig durch meine Hände gleiten und schraubte die Kappe ab. Eine goldene Federspitze blitzte in der Sonne und nicht die seltsame Spitze, die mich vor Jahren fasziniert hatte.
Dann hielt mir Amal ein kleines Holzkästchen entgegen. „Für diese Federspitze bist du noch nicht bereit, Lara“, erklärte Amal, öffnete das Kästchen, in dem die mit Goldadern durchzogene Hornspitze lag. Bevor ich sie neugierig aus dem Kästchen nehmen konnte, klappte Amal den Deckel wieder zu.
„Versprich mir“, forderte er eindringlich, „dass du die Hornspitze erst auf den Waterman steckst und benutzt, wenn du sie beherrschen kannst. Solange schreibst du mit der Goldspitze.“
„Woran merke ich das? Wenn ich in der Schule in Literatur ein A als Note bekomme?“, fragte ich.
Amal lachte. „Nein, Lara. Du wirst es spüren“, er deutete auf seine Brust. „Mit dem Herzen, verstehst du?“ Ich nickte, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon der alte Schreiber sprach.
„Du wirst beides in Deutschland brauchen. Damit wirst du so schreiben wie deine Mutter“, fuhr Amal fort und ergriff meine Hände.
„Ich werde sicher nie so eine gute Schriftstellerin wie Mama.“
„Sie war mehr als eine weltbekannte Autorin“, erwiderte Amal. „Sie war eine wahrhaftige Schreiberin.“
Ich hörte zwar Amals Worte, doch ich hielt sie für eine seiner rätselhaften Weisheiten.
Bevor meine Tränen auf unsere Hände tropften, zog ich sie zurück und durchwühlte meine Taschen nach Schätzen, die ich verschenken könnte. Ich zog einen pinkfarbenen Kuli hervor, an dessen Ende an einem rosa Bändchen ein Plastikherz baumelte. Verlegen reichte ich ihn Amal.
„Ich habe nicht viel dabei. Mit einem so großen Geschenk von dir habe ich nicht gerechnet“, sagte ich.
Amal nahm den Kuli und lachte. „Er ist ganz wunderbar! Danke, Lara, er wird mich immer an dich erinnern!“
Eine junge Frau näherte sich schüchtern dem Schreiber. Ich stand auf und grüßte Amal mit gefalteten Händen. „Ich werde dir schreiben“, versprach ich und machte den Platz für die Kundin frei.
Aufzeichnungen der Federschreiberin Sophie Ritter, geborene von Schelling: