Читать книгу Die Grüne Feder - Petra Teufl - Страница 7
3.
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Wir landeten am nächsten Vormittag in Frankfurt. Vor den Fenstern der Ankunftshalle des Flughafens war alles grau, kalt und nass — der Anblick verbesserte nicht gerade meine Laune. Wie hatte ich nur freiwillig das strahlende Licht Indiens gegen dieses Regengrau eintauschen können?
„Dr. Thomas Ritter, bitte melden Sie sich beim Informationsschalter in Terminal 4!“, hallte eine Ansage durch den Ankunftsbereich.
„Das wird Martin Späth sein, mein neuer Assistent“, vermutete Papa und schritt in Richtung Pass- und Zollkontrolle voran.
Ich hatte irgendwo in meinem Inneren gehofft, dass das ganze Gespräch über dieses Braxcity nur in einem verborgenen Winkel meiner Träume stattgefunden hätte. Aber die Durchsage machte diese Hoffnung zunichte.
Martin Späth entpuppte sich als ein akkurat frisierter, glatt rasierter, blasser, junger Typ. In seinem Geschäftsanzug, auf dem das Logo von BRAXWORLD prangte, kam er mir wie ein Chorknabe vor. Geradezu zuckersüß begrüßte er meinen Vater. Nach jedem Satz hängte er ein „Doktor Ritter“ an und er verbeugte sich mindestens hundertmal. Wie selbstverständlich nahm er meinem Vater seinen Koffer ab.
„Martin, darf ich dir meine Tochter Lara vorstellen?“, sagte Papa und deutete auf mich.
„Ach, natürlich, Entschuldigung!“, stammelte Herr Späth, wurde rot im Gesicht und beeilte sich, mir seine Hand zu geben. „Lara Ritter, herzlich willkommen!“
Dieser Typ mit seiner unterwürfigen Art war mir sofort unsympathisch. Dennoch zwang ich mich zu einem Lächeln und schüttelte seine Hand.
Das Gute an Herrn Späth war, dass er uns mit einer Luxuslimousine nach Regensburg fuhr. Ich schmiegte mich in den bequemen Ledersitz und staunte über den Bordcomputer, der bei anderen Autos Armaturenbrett genannt wird. Etliche Bildschirme, Tastaturen, Mikrofone und diverse Knöpfe leuchteten durch das Wageninnere. Herr Späth meldete unser Kommen einer schick frisierten Dame auf dem Bildschirm der Zentrale. Papa steckte seinen Laptop über eine Buchse der Konsole zwischen unseren Sitzen an das Autosystem an und war anscheinend schon mitten bei der Arbeit.
„Ich lese nur einige Protokolle der letzten Meetings“, erklärte er.
„Papa!“, stöhnte ich nach einiger Zeit. „Wird das jetzt immer so mit dir sein? Ich dachte, du fängst erst nächste Woche mit deiner neuen Arbeit an. Jetzt tust du hier so, als würdest du von einer kurzen Dienstreise zurückkommen.“
„Entschuldige, Lara. Für Manager in der Geschäftsführung gibt es nun mal keine festen Arbeitszeiten.“ Ich warf einen Blick auf den Monitor seines Laptops. Drei übereinander liegende Diagramme und diverse Textnachrichten wurden angezeigt. Selbst die Anzeige für Videoanrufe blinkte und forderte ungeduldig die Aufmerksamkeit meines Vaters. Als Papa meinen Blick bemerkte, klappte er den Laptop zu und schloss die Trennscheibe zum Fahrerraum.
„Du wirst es sowieso erfahren“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Ich arbeite mit Unterbrechungen seit einigen Jahren für BRAXWORLD. Genau genommen habe ich kurz vor Sophies Unfall dort angefangen.“
„Das hast du nie erzählt.“
„Es war nie wichtig.“
Ich sah aus dem Fenster auf das vorbeiziehende Grün unter grauer Wolkendecke. Vater hatte recht. Es war bisher nie wichtig gewesen, wo und für wen er gearbeitet hatte. Nicht für mich. Aber bisher hatte er auch nicht versucht, mich mit dem Argument einer „neuen“ Stelle bei BRAXWORLD zu einem Umzug zu überreden. Ich verstaute das seltsame Gefühl des Zweifels in einer Ecke meines Gefühlsregals. Ich war müde und wollte endlich wieder mit Vater so vertraut umgehen, wie es die letzten sieben Jahre gewesen war.
„Alles in Ordnung?“, fragte Papa und nahm meine Hand.
„Ja, klar.“
„Ich muss dir noch etwas erzählen.“ Er rieb sich das Kinn, was bedeutete, dass er nachdachte. Das wiederum hieß, es wurde kompliziert. Ich wartete gespannt auf das Ergebnis seiner Gedanken.
„Tja also, das ist so. Bei uns, also in unserem Haushalt, werden wir zu dritt leben“, gestand er.
Er sah mich prüfend an, als könnte ich erraten, was er mir damit sagen wollte.
„Zu dritt? Eine Frau? Hast du etwa eine neue Frau?“, fragte ich entsetzt. Also langsam war es wirklich mal genug mit unerfreulichen Nachrichten.
„Nein!“, wehrte Papa sofort ab. „Deine Großtante, Dr. Edith von Schelling, wird bei uns einziehen, quasi als Haushälterin und — na ja, wie soll ich sagen …“
„Tante Edith?“
„Ja. Erinnerst du dich an sie? Sie hat uns öfter besucht, als Mama noch lebte.“
„Natürlich, sie war damals schon eine eigenartige alte Dame“, antwortete ich impulsiv und erntete einen strengen Blick von Papa.
„So kann man das aber nicht sagen, Lara. Sie ist eine kompetente, anerkannte Wissenschaftlerin. Sie mag ihre Eigenarten haben. Aber so ist das bei den meisten Menschen, die ohne Partner und Kinder leben.“
„Ist sie nicht in den USA an einer Universität? Was macht sie denn jetzt hier? Wurde sie rausgeschmissen oder so?“, fragte ich.
„Nein, sie ist jetzt Rentnerin und arbeitet privat an ihren Forschungen über die Entstehung der Schrift. Als sie erfahren hat, dass wir nach Regensburg ziehen, hat sie angeboten, uns zu helfen.“
Nach und nach tauchten in mir Erinnerungen an die Großtante auf. Sie war eine Verwandte meiner Mutter. Als Kind kam sie mir vor wie Mary Poppins, wenn sie mit ihren zwei Koffern in unserm Flur stand und mich mit freundlichem Händeschütteln begrüßte. Sie faszinierte mich, weil sie so anders war. Sie erschien mir unnatürlich lang und hager, hatte immer ein klassisches Kostüm an, die Haare zu einem Knoten zusammengesteckt, ein Stofftaschentuch für alle Fälle in der Tasche und einen Regenschirm in der Hand. Ich freute mich jedes Mal über ihren Besuch. Meistens war das in einer Zeit, als Mama an einem neuen Roman arbeitete und tagelang nicht aus ihrem Schreibzimmer kam. Tante Edith kümmerte sich dann um mich. Sie achtete penibel auf anständiges Benehmen und steckte mich in Kleider, was ich so gar nicht mochte, bändigte meine Locken zu einer Frisur, und das alles auf eine freundliche, bestimmte Weise. Sie las mit mir viele Bücher, vor allem uralte Wälzer. Bei einer regelmäßigen Tasse heißen Kakaos am Nachmittag erklärte sie mir ihre Sicht auf die Welt. Wenn Tante Edith mich ins Bett brachte, konnte ich ihr all meine Ängste und Sorgen anvertrauen. Sie schien alles zu verstehen, was ein kleines Mädchen bewegte.
„Tante Edith“, murmelte ich vor mich hin. „Die habe ich nicht mehr gesehen seit ...“
„.. der Beerdigung deiner Mutter“, ergänzte Papa.
„Richtig. Warum hat sie uns nie in Indien besucht?“
„Für Edith war der Verlust ihrer Nichte ebenso schmerzlich wie für uns, denke ich. Sie wird auch Zeit gebraucht haben, sich diesem Unglück und damit uns beiden wieder zu stellen.“
Die Limousine glitt an einer langen Schlange von LKWs vorbei über eine Brücke und hinein in ein bewaldetes Tal. Ich sah aus dem Fenster und hing meinen Erinnerungen nach.
„Edith freut sich sehr darauf, dich wiederzusehen“, meinte Papa. „Eigentlich ist sie der Grund, warum wir mitten in Regensburg am Fischmarkt wohnen werden und nicht in Braxcity. Sie erspart dir somit die Laborstadt.“
Ich sah ihn fragend an. Konnte er nicht alles erzählen, ohne dass ich ständig nachfragen musste?
Papa reagierte sofort und erzählte weiter: „Edith hat das zur Bedingung gemacht. Sie meinte, ihr beide würdet euch in einer normalen Wohnung in der Altstadt wohler fühlen. Außerdem hasst sie BRAXWORLD und vor allem Charles Braxton.“ „Echt? Wie soll das dann gehen, du und sie in einem Haushalt?“, fragte ich lachend.
„Tja, wir werden uns eben zivilisiert benehmen müssen“, antwortete Papa.
Ich ließ meinen Kopf gegen die Kopfstütze sacken und zählte die Punkte im Muster auf der Dachbespannung. Ich hatte genug Neuigkeiten gehört. Erschöpft nickte ich ein.
Ich öffnete erst wieder die Augen, als die Limousine in einer engen Straße über Kopfsteinpflaster fuhr und vor einem dreistöckigen Haus aus einem längst vergangenen Jahrhundert anhielt. Herr Späth öffnete die Autotür und half mir beim Aussteigen. Da sich meine Beine wie Pudding anfühlten, ließ ich es zu. Ich sah an der Fassade entlang nach oben. Anscheinend war nur die erste Etage renoviert worden. Hier waren moderne Fenster eingebaut, während die oberen aus alten Holzrahmen mit abblätternder Farbe und verschmierten Scheiben bestanden. Ich zeigte zum Haus. „Hinter welchen Fenstern wohnen wir?“, fragte ich.
„Natürlich im renovierten Teil des Hauses! Charles Braxton hat es extra für uns herrichten lassen“, antwortete Papa.
„Okay, dann bist du also wirklich ein ziemlich hohes Tier in dieser BRAXWORLD“, staunte ich. Dass ein Konzernchef für einen Angestellten mit Tochter und misstrauischer Großtante eine Wohnung renovieren ließ, fand ich ungewöhnlich. Papa legte seine Hand auf meinen Rücken und führte mich zur Haustür. „Ja, das bin ich“, flüsterte er mir ins Ohr.
Herr Späth gab eine Nummernfolge in eine Tastatur neben dem Klingelschild ein. Dann steckte er einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ich bemerkte eine Überwachungskamera neben der Haustür.
„Sind wir überfallgefährdet oder sind das die normalen Sicherheitsvorkehrungen für hohe Tiere?“, fragte ich und deutete auf die Kamera.
„Letzteres, denke ich mal“, erwiderte Papa.
Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, winkte Herr Späth uns in die Eingangshalle. Eine breite, geschwungene Holztreppe führte in die oberen Etagen. Als wir nach dem ersten Abschnitt um die Kurve bogen, erwartete uns Tante Edith. Ich erkannte sie sofort wieder. Als wäre sie keinen Tag älter geworden, stand sie in ihrem grauen Kostüm, Blümchenbluse und ihre langen Haare zu einem Knoten zusammengesteckt mit ausgebreiteten Armen am Treppenabsatz.
„Thomas! Lara! Endlich seid ihr da!“, rief Tante Edith. Ihre Stimme klang hell und beschwingt durch den Hausflur. Unwillkürlich musste ich lächeln. Tante Edith hatte für mich immer nach Optimismus und Zuversicht geklungen.
„Edith, ich freue mich, dich wiederzusehen!“, sagte Papa und die beiden küssten sich auf die Wangen. Dann drehte Papa sich um und deutete auf mich. „Und Lara habe ich auch dabei.“
Als Tante Edith auf mich zukam, wurde mir mulmig zumute. Ich hatte vergessen, dass sie genauso große, braune Augen hatte wie Mama. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, legte sie behutsam die Arme um mich. Ein Hauch von Veilchenduft umgab sie und sie fühlte sich weicher an, als ich in Erinnerung hatte. So lang wie früher war sie auch nicht mehr.
„Lara, meine Liebe! Du siehst Sophie so ähnlich. Genauso hübsch — der gleiche Wuschelkopf, braunen Augen. Ach, ist das schön, dich zu sehen!“, seufzte sie und musterte mich aufmerksam von allen Seiten, bevor sie mich nochmals fest an sich drückte.
Ich atmete tief durch und erwiderte ihre Herzlichkeit. Ich war erschöpft von dem Abschied, der Reise und Papas tollen Neuigkeiten und jetzt war Tante Edith da, eindeutig Mitglied der Familie meiner Mutter, und schloss mich freundlich in ihre Arme. Das war fast zu viel! Ich schluckte, um aufsteigende Tränen davon abzuhalten, loszurollen. Tante Edith schien das zu merken. Sie lotste uns freundlich in die Wohnung und verabschiedete Herrn Späth mit knappen Worten — und schon schwang die Wohnungstür zu.