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Einige Stunden später kauerte ich neben meinem Vater in einem breiten Sitz der Businessclass einer Air-India-Maschine und starrte aus zehn Kilometer Höhe auf die kargen Berge Pakistans. Bis zur Landung in Frankfurt lagen endlos viele Stunden vor mir. Ich drehte die Lautstärke meines Handys hoch und füllte mir Ohren und Kopf mit den Bollywood-Hits meiner Lieblingsplaylist. Gedankenverloren zählte ich die weißen Schaumwolken, die sich in dem weiten Blau tummelten. Doch weder die tolle Aussicht noch die indischen Tanzrhythmen konnten mich aufheitern. Ich vermisste Aisha und Amal, meine Schulfreundinnen und einfach alles, wovon wir uns gerade mit einer Riesengeschwindigkeit entfernten. Ich wollte einfach nicht dahin, wo dieser Flieger uns absetzen würde. Das hatte ich auch meinem Vater laut und deutlich entgegengeschleudert, als er vor einigen Wochen mit diesem Brief in mein Zimmer kam. Ich wollte nicht nach Deutschland und schon gar nicht nach Regensburg. Nicht in diese Stadt, in der meine Mutter vor sieben Jahren in ihr Auto gestiegen war, um niemals bei uns zu Hause in München anzukommen.

„Ich weiß“, hatte Papa geantwortet.

„Ja und? Lässt du mich jetzt hier in Neu-Delhi bei Aisha? Fliegst du allein?“, fragte ich spitz, weil ich seine Antwort schon kannte.

„Nein.“

Stattdessen hatte er erneut mit diesem Brief vor meinem Gesicht herumgewedelt und rezitiert: „Wir bestätigen den Eingang ihres unterschriebenen Arbeitsvertrages für BRAXWORLD in der Europazentrale in Regensburg. Wir freuen uns ... bla, bla, bla ...“

„Ich habe es gelesen. Na und? Du willst einen neuen Job. Was habe ich damit zu tun?“, fauchte ich.

Klar war das eine Superchance für meinen Vater. Schließlich war er ein international bekannter Spezialist für alles, was mit Computern zu tun hatte. Und BRAXWORLD war der international erfolgreichste Computerkonzern. Er entwickelte, produzierte und verkaufte das Betriebssystem DOORS, mit dem praktisch jeder Computer auf dieser Welt betrieben wurde. Dazu bot er den meistgenutzten Internet-Browser und andere Onlinedienste an. Jeder, der sich nicht mit der Vielfalt des IT-Universums auskannte, glaubte, ohne BRAXWORLD würde sich die digitale Welt nicht drehen. Dass mein Vater für deren Europazentrale arbeiten wollte, leuchtete mir ein.

„Bitte erkläre mir, warum ich deshalb auch umziehen soll“, bohrte ich weiter.

„Weil die Stelle in Deutschland ist. Das ist zu weit weg für eine Vater-Tochter-Fernbeziehung.“

„Wieso? In den letzten Jahren warst du auch beruflich mehr unterwegs als zu Hause. Und? Bin ich deshalb verlottert? Von Deutschland aus kannst du auch alle paar Wochen kommen. Du könntest auch von Indien aus arbeiten. Bei dem ganzen elektronischen Schnickschnack, den BRAXWORLD bietet, wird das doch wohl möglich sein.“ Ich lehnte mich erschöpft in den Sessel zurück. Papa rieb sich nervös die Hände, stand auf und tigerte durch das Zimmer. Fehlten ihm die Worte oder überlegte er, ob mein Vorschlag machbar wäre? Hoffnung keimte auf. „Kannst du nicht in Paris für BRAXWORLD arbeiten“, fragte ich vorsichtig, „oder in Schottland oder Finnland, egal wo, nur nicht in Regensburg!“

Jetzt drehte sich mein Vater um und sah mich mit versteinerter Miene an. Ich hatte absolut keine Chance, das erkannte ich sofort.

„Eben weil diese Stelle in Regensburg ist, habe ich mich beworben und eben deshalb ziehen wir dorthin.“

„Papa ... “, brauste ich auf.

„Nein, Lara“, unterbrach er mich. „Jetzt hör mir mal zu.

Für uns beide wird es Zeit, diese Flucht zu beenden“, sagte er eindringlich, wobei er meine Hand in seine nahm.

„Du kannst ja beenden, was du willst“, fauchte ich und entzog ihm meine Hand. „Ich bleibe hier bei Aisha!“

Als Papa wieder durchs Zimmer wanderte, wirkte er, als trage er einen Zentnersack Orangen.

„Es ist auch für mich nicht einfach“, gab er zu. „Es ist aber eine Chance.“

„Eine Chance für wen, für was?“

„Eine Chance für uns beide, mit der Vergangenheit abzuschließen und letzte Fragen zu dem Unfall deiner Mutter zu klären.“

„Was denn für Fragen? Mama ist gegen einen Baum gefahren und gestorben. Aus und fertig!“

Vater drehte sich zu mir um und sah mich prüfend an. „Ja und Nein. Ja, deine Mutter fuhr gegen einen Baum und sie starb dabei. Nein, es ist nicht alles ganz aufgeklärt worden. Den Zeugenaussagen habe ich nie ganz geglaubt. Deshalb will ich genau dorthin, wo das Unglück passierte. Genau dort werde ich die Fragen klären, die mich seit sieben Jahren quälen.“ Mein Vater ist ein gut aussehender, großer Mann mit sportlicher Statur, braun gebrannt und mit entspannten Gesichtszügen. Aber so, wie er in dem Augenblick vor mir stand, gebeugt, grau im Gesicht und mit unbeweglicher Miene, hatte ich ihn nur einmal gesehen. Bei der Beerdigung meiner Mutter. Er holte tief Luft. „Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, wenn ich mir gleichzeitig Sorgen um dich machen muss“, gestand er leise. „Ich bitte dich, mach es mir nicht noch schwerer, als es sowieso schon ist.“

Das war der Moment, in dem etwas in mir einknickte. Dass Papa unsere stille Übereinkunft, nicht über Mamas Tod zu reden, brach, musste einen triftigen Grund haben. Er würde mich sonst nicht diesem stechenden Schmerz aussetzen.

„Und wenn ich Heimweh habe, darf ich dann zurück?“, fragte ich.

„Gib mir ein halbes Jahr“, bat Papa.

„Gut“, willigte ich ein. „Aber dann darf ich für mich entscheiden.“ Ich kroch aus meiner Sesselhöhle, ging auf ihn zu und wir umarmten uns so fest wie seit Jahren nicht mehr. „Danke“, hauchte Papa.

Die Stewardess war schon einige Male vorbeigekommen. Sie hatte lächelnd Getränke und Essen serviert, das Geschirr eingesammelt und Kopfhörer für den Film angeboten. Ich suchte mir gerade auf dem Display in der Lehne vor mir einen Hollywood Blockbuster aus, als Papa meinen Arm festhielt. „Wir müssen reden“, sagte er.

„Worüber denn?“, seufzte ich. Genervt sah ich zu ihm rüber. Mein Vater hatte den Laptop aufgeklappt und einen USB-Stick angesteckt. Das Logo von BRAXWORLD erschien auf dem Monitor, dann tauchte das schmale, kantige Gesicht von Charles Braxton, Gründer und Präsident des Konzerns auf. Mit wenigen Worten erklärte die Bildunterschrift, dass dieser Mann innerhalb weniger Jahre aus einem kleinen Start-up-Unternehmen im Silicon Valley in den USA ein gigantisches Imperium gemacht hatte.

Eine kurze Einführung endete mit der Vision, die Charles Braxton zu seinen Taten antrieb:

Jeder Mensch auf der Erde soll gleichberechtigt an den Möglichkeiten des Internets teilhaben! Weltweite Kommunikation und der ungehinderte Zugang zu Informationen sind die Grundlagen für dauerhaften Frieden und Freiheit.

Dieser Spruch war inzwischen so oft in Tageszeitungen, Internet und Fernsehen wiederholt worden, dass er sogar zu mir vorgedrungen war.

„Die Ziele sind doch eigentlich großartig!“, lobte mein Vater. „Dafür lohnt es sich doch zu arbeiten.“

„Bitte jetzt keinen Vortrag“, protestierte ich. Doch da hatte Papa schon das Icon angeklickt. Ein Video zeigte Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die sich mit ihren Handys per Video-Call unterhielten. Jung und Alt lachten sich von Kontinent zu Kontinent zu oder reichten sich über Staatsgrenzen hinweg die Hände.

„Ich habe verstanden, Papa“, stöhnte ich und tippte auf das Stoppzeichen des Videos. „Du wirst dort arbeiten. Von mir aus. Aber warum hat dieser Konzern seine Europazentrale ausgerechnet in Regensburg? In einer Provinzstadt am Ende der Welt?“

Papa streckte sich in seinem Sitz und holte tief Luft.

Oh je, dachte ich, jetzt kommt noch ein Vortrag. Die Stewardess verstand Papas Gymnastik als Meldung, dass er etwas bestellen wollte und eilte lächelnd auf unsere Sitzreihe zu, doch Papa winkte ab, bevor sie uns erreichte.

„Also, das ist ganz einfach“, sagte Vater in sachlichem Vortragston. „Charles Braxton hatte persönliche Gründe, Regensburg als Standort für BRAXWORLD auszuwählen. Die Ansiedlung eines IT-Giganten in einer strukturschwachen Region kann sich kein Politiker entgehen lassen. Deshalb bekam Braxton gute Bedingungen für seine Pläne. BRAXWORLD bringt Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, die ...“

„Papa!“, protestierte ich und unterbrach seinen Universitäts-Vorlesungs-Modus. Politik, besonders Wirtschaftspolitik, war nicht gerade das Thema, das mich interessierte. „Ist das jetzt so, dass nur weil dieser Braxton mit Regensburg sentimentale Erinnerungen an seine Großmutter oder seine erste Liebe verbindet, ich dahinziehen muss?“, fragte ich gereizt.

„Nein! Du ziehst nach Regensburg, weil ich nach Antworten zu dem Unfall deiner Mutter suche. Hast du das vergessen?“

„Nein“, antwortete ich.

„BRAXWORLD bietet mir einen attraktiven Arbeitsplatz. Das ist erstmal alles.“

„Verstanden. Dann habe ich ja mit diesem Braxzeugs nichts zu tun“, stellte ich erleichtert fest.

Wieder holte Papa tief Luft. Nicht gut, dachte ich sofort. Jetzt kommt die schlechte Nachricht.

„So ganz stimmt das nicht“, gestand er und klickte einen Button auf dem Monitor an.

„Braxton bekam, was er wollte und obendrein hervorragende Bedingungen für den Aufbau seiner Modellstadt.“

„So eine Art Disney World?“, fragte ich amüsiert.

„Nein, natürlich nicht. Schau dir das erstmal an.“

Ich beobachtete mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, wie sich eine Textzeile aufbaute:

„BRAXCITY - Das Modell für die Zukunft!“

„Braxton konnte in Regensburg mit der Europazentrale auch seinen lang gehegten Traum verwirklichen“, sagte mein Vater. „Das gesamte Firmengelände von BRAXWORLD ist eine Art Versuchsstadt der digitalen Zukunft. Hier werden die Computerprogramme für den weltweiten Markt entwickelt und gleichzeitig an und mit den Bewohnern erprobt. Es wird mit Daten experimentiert, die die Bewohner durch ihr normales Leben an das System liefern. Dadurch kann das Verhalten der Menschen in einer zunehmend digitalisierten Lebens- und Arbeitswelt genauestens studiert werden. BRAXWORLD optimiert seine Angebote und …“

„Ja, ja, schon gut“, unterbrach ich Papas Werbesendung. „Das hört sich richtig gruselig an. Damit habe ich aber nichts zu tun, oder?“

„Na ja, irgendwie schon“, murmelte mein Vater, beugte sich vor, tippte auf die Tastatur und zeigte auf das Bild einer modernen Wohnsiedlung. Reihen- und Mehrfamilienhäuser in verschiedenen Formen gebaut, quadratische Geschäftsgebäude, breite Fahrbahnen, akkurat geschnittene Rasenflächen, die alle gleich aussahen, irgendwie steril, ohne ein Staubkorn auf der Straße.

„Das ist Braxcity. Fast alle Mitarbeiter von BRAXWORLD wohnen hier …“, erklärte Papa.

„Nein! Das kannst du vergessen!“, protestierte ich sofort. Vater legte beschwichtigend seine Hand auf meinen Arm. „Ich war noch nicht fertig mit meiner Erklärung. Also, mit dem Arbeitsvertrag willigt man ein, sein Leben in Braxcity digital überwachen zu lassen. Mit den Daten, die man der Zentrale liefert, werden die Computerprogramme optimiert und weiterentwickelt.“

„Ich bin keine Laborratte!“, sagte ich etwas zu laut, denn die anderen Fluggäste sahen verwundert zu uns rüber. Vater grinste, als sei ihm ein guter Witz gelungen. „Du wirst nur in Braxcity in die Schule gehen, wie alle anderen Kinder der Mitarbeiter auch. Wohnen werden wir in der Altstadt“, erklärte er.

Sollte ich jetzt weiter protestieren oder erleichtert sein? Typisch mein Vater. Die schlechte Nachricht verpackte er in das Glanzpapier der guten Nachricht und übergab mir das Paket mit einem Lächeln.

„Muss das sein? Kann ich nicht auf eine normale Schule in Regensburg gehen?“, fragte ich vorsichtig.

Mein Vater klappte den Laptop zu und sah mich ernst an.

„Nein. Mehr konnte ich bei den Verhandlungen nicht rausholen. Dass wir außerhalb des BRAXWORLD-Geländes wohnen, ist bereits ein Entgegenkommen der Firma.“

„Und wenn du woanders arbeitest? Da kannst du doch genauso nachforschen, was Mamas Unfall betrifft“, entgegnete ich, entschlossen, alles zu versuchen, um mit diesem BRAXWORLD-Zeug nichts zu tun haben zu müssen.

„Lara, du wirst sehen, dass meine Entscheidung richtig war“, entgegnete er. „Lass dich einfach erstmal auf das Neue ein. Geht das?“

Ich wälzte diese Flut an neuen Informationen in meinem Kopf hin und her. Was sollte ich jetzt noch ändern? Wir flogen tausende Meter über der Erde auf Frankfurt zu. In Indien hatte ich dem Umzug zugestimmt. Aber nur wegen Mamas Unfall und nur für ein halbes Jahr!

„Für ein halbes Jahr werde ich es wohl überleben“, sagte ich mir und tippte auf das Startsymbol des Marvel-Superheldenfilms. Maximale Ablenkung!

Die Grüne Feder

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