Читать книгу Die Grüne Feder - Petra Teufl - Страница 14
7.
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Die letzten Tage vor Schulbeginn vergingen dank Mike und Alice schnell. Sie zeigten mir die schönsten Badeplätze an der Donau, die beste Eisdiele in der Altstadt und führten mich durch alle guten Biergärten. Ich hatte gehofft, sie würden mir schon mal etwas über die Braxton School erzählen. Doch sie hatten nur eine Antwort auf meine Fragen: „Keine Lust! Erzähl lieber etwas über Indien.“ Juri und Paula waren bei den Ausflügen nur manchmal dabei. Allerdings brachten sie es regelmäßig fertig, mich mit ihren Andeutungen zu Vaters Arbeit so wütend zu machen, dass ich sie mehr als nur einmal zum Mond gewünscht hatte. Meinen Vater bekam ich in diesen Tagen praktisch nicht zu Gesicht. Dabei hätte ich ihn gern persönlich gefragt, was er zu Juris Überwachungstheorie oder von den Schwierigkeiten, in denen Paulas Familie steckte, zu sagen hatte. Wenn wir uns daheim über den Weg liefen, war Vater stets in Eile. „Tut mir leid, Lara“, stöhnte er. „Aber diese Verhandlungen mit der anderen Firma sind kompliziert und zeitaufwendig.“ Dann ging er schnell unter die Dusche, zog sich um, aß etwas und war schon wieder aus der Tür. Tante Edith verkroch sich in ihrem Zimmer oder war im Schloss bei der Gilde. Deshalb war ich schon beinahe erleichtert, als endlich wieder die Schule beginnen sollte.
Als es so weit war, wachte ich auf, bevor der Wecker klingelte. Ich war so aufgeregt wie an meinem allerersten Schultag überhaupt. Wie würde die Klasse sein, in die ich kam? Waren die Mädchen zickig und die Jungs kaltschnäuzig? Waren die deutschen Lehrer so streng und ungeduldig, wie ich sie aus der Grundschule in Erinnerung hatte? Hoffentlich musste ich nicht eine Klasse wiederholen, weil der Lernstoff der Internationalen Schule in Neu-Delhi nicht zu dem in der Braxton School passte. Ich wollte unbedingt mit Alice und Mike in eine Klasse gehen. Und überhaupt, was zog man hier in der Schule an, wenn es keine Schuluniform gab, wie in Indien? Ich leerte den Inhalt meines Kleiderschrankes auf mein Bett und probierte verschiedene Kombinationen. Zu langweilig, zu auffällig, zu indisch – schließlich zog ich die Klamotten an, in denen ich mich am wohlsten fühlte. Jeans und ein Shirt, darüber meine alte Jeansjacke. In meine Umhängetasche packte ich Mamas Seelenstein, ein Stiftemäppchen mit Amals Waterman und einen Schreibblock. Bücher und Hefte hatte ich ja noch nicht.
Als ich in die Küche zum Frühstück kam, sahen mich Vater und Tante Edith prüfend an.
„Was?“, fragte ich genervt.
„Hast du deine Haare gebürstet?“, fragte Tante Edith kritisch.
„Natürlich“, stöhnte ich und fuhr mir mit beiden Händen durch das Haar. „Die sehen immer so aus!“
„Entschuldige“, erwiderte Tante Edith verlegen. „Das war ziemlich unhöflich von mir.“ Sie goss mir Tee ein und legte mir einen Toast auf den Teller.
„Du siehst gut aus, Lara“, sagte Papa und lächelte mir aufmunternd zu. Ich setzte mich an den Tisch mit dem Gefühl, dass ich mir jetzt erst Recht Sorgen um mein Outfit machen sollte, wenn mein Vater meinte, ich sähe gut aus.
Vater räusperte sich, trank einen Schluck Tee und setzte sich aufrecht hin. „Ich muss dir noch etwas erklären, bevor ich dich zur Schule fahre“, sagte er und sah zu Tante Edith rüber, als wollte er um Hilfe bitten.
„Mach nur, Thomas. Das ist deine Abteilung“, winkte Tante Edith ab.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Also, sobald wir im Auto sitzen, musst du damit rechnen, dass unsere Gespräche aufgezeichnet werden. Deshalb bitte ich dich, sag nur Sachen, die auch für fremde Ohren bestimmt sein könnten. Vor allem äußere dich nicht negativ über Braxcity oder das Schulsystem und rede auf keinen Fall über Tante Edith, die Gilde oder deine Mutter.“
„Wieso werden wir abgehört? Sind wir Staatsfeinde oder Verbrecher?“, fragte ich trotzig. Diese Abhörparanoia auf nüchternen Magen war echt zu viel. Außerdem hatte ich andere und sehr reale Sorgen.
„Ich habe dir doch erzählt“, redete Papa unbeeindruckt weiter, „dass Braxcity eine Modellstadt für eine digitale Gesellschaft ist. Jeder Mitarbeiter liefert ständig automatisch Daten an das System.“
„Ja, ich weiß. Das ist unglaublich!“
„Es ist eigentlich ganz einfach. Für die meisten ist das kein Problem. Es zahlt sich finanziell aus. Man muss sich dessen nur bewusst sein. Und das versuche ich dir klarzumachen“, erklärte Papa so selbstverständlich, als würde er mir erzählen, dass ich nur bei Grün über die Ampel gehen dürfe.
„Du kannst hier in der Wohnung über alles reden. Aber bitte überleg dir deine Worte in der Schule möglichst vorher. Du weißt, was ich mir vorgenommen habe.“
„Mamas Unfall zu untersuchen?“
„Richtig. Dafür brauche ich das Vertrauen von Charles Braxton. Wenn du das System von Braxcity in Frage stellst, dich dem System entziehst, dann habe ich nicht den Freiraum, die alten Datensätze zu durchforsten.“
„Wie jetzt? Du durchsuchst die Daten von Braxcity wegen Mamas Unfall?“, fragte ich und sah zu Tante Edith rüber. Sie zuckte nur mit den Schultern und deutete auf Papa.
„Glaubst du, dort die Antworten auf die Fragen zu dem Unfall zu finden?“
Vater schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich dachte, das wäre klar“, schnaufte er. „Ja, ich verdächtige Charles Braxton, dass er mit Sophies Unfall etwas zu tun hat.“
Der Bissen Toast blieb mir plötzlich im Hals stecken.
„Es tut mir leid, Lara“, sagte Vater leise. „Da ich weiß, dass dir auf der Braxton School einiges nicht gefallen wird, sage ich es dir jetzt. Bitte füge dich in das System ein, damit ich nicht die Möglichkeit verliere, nach Antworten zu suchen.“
Papa hatte mich noch nie darum gebeten, ein braves Mädchen zu sein. Wenn seine Spurensuche davon abhing, was sollte ich dagegen einwenden? Dennoch fiel mir wieder einmal auf, wie gut er es verstand, jemanden zu überzeugen. Vor allem mich, seine Tochter.
„Welche Informationen gibt es denn noch, die du mir genau dann mitteilst, wenn alles schon entschieden ist?“, fragte ich wütend. Mein Vater sah Tante Edith an und sie wiederum mich. „Ich glaube, das war alles“, gab Vater kleinlaut zu. „Hilfst du mir?“
„Was soll ich denn sonst tun?“, fragte ich zurück.
„Vielleicht ändert sich ja mit dem Testschreiben in einigen Wochen sowieso wieder alles“, sagte Tante Edith zu mir und drückte beschwichtigend meine Hand.
Herr Späth wartete vor dem Haus mit der Luxuslimousine auf uns. „Guten Morgen, Dr. Ritter, guten Morgen, Lara“, begrüßte er uns eine Spur zu freundlich. Das waren die letzten Worte, die während der Fahrt zur Schule gesprochen wurden. Über was hätten wir auch reden sollen, was für Mithörer geeignet gewesen wäre? Sollte ich mit meinem Vater, auf den ich wütend war, über das Wetter reden?
Herr Späth lenkte den Wagen aus der Stadt bis zu einer Art Gewerbegebiet. Das gesamte Gelände war mit einem hohen Sicherheitszaun umgeben. Ich musste sofort an ein Lager oder Gefängnis denken, kniff aber die Lippen fest zusammen, damit ich es nicht aussprach. Herr Späth bog auf die Einfahrt ein und hielt vor einer weiß-roten Schranke.
„Echt jetzt?“, platzte es aus mir heraus. „Ihr nutzt immer noch eine banale Schranke?“
„Das ist nur für die Außenstehenden“, erklärte Vater und deutete auf zwei unauffällige Säulen rechts und links von der Fahrbahn. „Technisch gesehen bräuchte es gar keine Schranke. Unbefugten würde entweder über den Bordcomputer der Saft abgedreht, oder zwanzig Meter weiter fährt eine Leiste aus der Straße, die die Reifen durchlöchert. Aber die Leute verstehen durch die Schranke besser, dass von ihnen erwartet wird, sich auszuweisen.“ Tatsächlich näherte sich ein Mann in dunkler Uniform, grüßte kurz, öffnete die Schranke und winkte uns durch. „Der gehört zu einer speziellen Sicherheitsfirma“, erklärte Vater sofort. „Die arbeiten nur für BRAXWORLD. Sie sorgen auf dem Firmengelände für Ordnung.“
Falls er das gesagt hatte, um mich zu beruhigen, dann funktionierte das gar nicht. Ich kam mir zunehmend wie eine Laborratte vor. Herr Späth gab etwas in den Autocomputer ein und lehnte sich entspannt zurück. Der Wagen fuhr langsam über eine Kreuzung in das Gelände. „Ein selbststeuerndes Auto“, erklärte Vater sofort. „Die Mitarbeiter fahren auf dem Gelände alle solche autonomen Fahrzeuge und der Verkehr wird zentral überwacht und notfalls gesteuert.“
„Eines der Zukunftsprojekte?“, fragte ich mit trockenem Mund.
„Ja. Das läuft sehr erfolgreich. Energiesparend und kaum Unfälle“, erklärte Papa.
Der Weg zur Schule führte durch eine Geschäftsstraße mit gleichförmigen Würfelbauten und an mehrstöckigen Wohnhäusern und Reihenhäusern vorbei. Jede Häuserzeile sah zum Verwechseln gleich aus. Es gab kaum Bäume, Büsche oder Rasen. Alles war ordentlich, übersichtlich, langweilig, steril. An jeder Ecke entdeckte ich Kameras.
Weiter entfernt sah ich Hallen und Bürohäuser, in denen BRAXWORLD untergebracht sein musste. Hier konnten Menschen freiwillig leben? Ich musste an Alice, Mike und Paula denken. Wie hielten sie es hier nur aus? Eigentlich sollte Juri froh sein, dass er jetzt nicht mehr hier wohnen musste! Was mich irritierte, war nicht, dass die sogenannte Stadt der Zukunft künstlich wirkte. Damit hatte ich aufgrund der Bilder, die mir mein Vater im Flugzeug gezeigt hatte, gerechnet. Aber dass die Menschen hier genauso aussahen, sich fortbewegten und verhielten, wie in jeder normalen Stadt, überraschte mich. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Roboter mit Einkaufstaschen unterwegs gewesen wären, die Fenster putzten oder sich unterhielten. Das wäre auf jeden Fall passender gewesen.
Der Wagen hielt vor einem Gebäude, das von den Bürogebäuden nicht zu unterscheiden war. An der Eingangstür wartete ein grauhaariger Mann in kariertem Sakko und mit einem typischen Lehrerbart.
„Schulleiter Bleisteiner holt dich persönlich ab. Sehr aufmerksam!“, sagte Papa. Er beugte sich zu mir rüber und nahm meine Hand. „Wenn du da jetzt reingehst, wirst du offiziell ein Teil des Systems Braxcity.“ Er tat so, als würde er mich zum Abschied auf die Wange küssen, flüsterte mir aber zu: „Ich kenne dich, dir wird vieles daran sehr sauer aufstoßen. Bitte mach trotzdem mit. Du weißt wieso.“
Ich nickte bestätigend, obwohl einfach irgendwo mitzumachen noch nie mein Ding war. Schon allein bei dieser Flüsterunterhaltung mit meinem Vater stellten sich mir die Nackenhaare auf.
„Du machst das schon. Du bist schließlich meine Tochter und ich kenne dich besser, als du denkst“, sagte Papa, bevor Herr Späth die Autotür auf meiner Seite öffnete.
„Lara Ritter! Willkommen an der Braxton School!“, begrüßte mich Bleisteiner, als ich auf ihn zuging. Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich ergriff und es sofort bereute. Ich hatte das Gefühl, einen nassen, kalten Teigklumpen zu halten.
„Wir gehen erst mal in mein Büro, da kann ich dir das Wichtigste erklären“, sagte er in einem verbindlichen Ton.
Er führte mich durch schmucklose Gänge, von denen die Türen in Klassenräume abgingen. Dabei redete er vor sich hin: „Ich habe dich in die höchste Leistungsklasse eingeteilt, aufgrund deiner Texte und Arbeiten aus der internationalen Schule Neu-Delhi.“
„Sie haben meine Arbeiten gelesen? Ich dachte, es gäbe so etwas wie Datenschutz an Schulen“, unterbrach ich den Schulleiter überrascht.
Er drehte sich zu mir und lächelte wie ein Versicherungsvertreter. „Deine alte Schule hat uns selbstverständlich alle nötigen Informationen weitergeleitet. Das ist übrigens eine völlig gängige Praxis bei einem Schulwechsel dieser Art.“
Er stieß eine der Türen auf, betrat das dahinterliegende Sekretariat, grüßte im Vorbeigehen die Mitarbeiterinnen hinter der Theke und öffnete die Tür zu seinem Büro.