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Die Geister der Toten
ОглавлениеNach dem fünften Buch Mose (ca. 650 v. Chr.) der heiligen Schrift der Juden, des Alten Testaments, trafen die Israeliten bei ihrem Eintritt in das Gelobte Land auf geisterbeschwörende Kulte, in denen man Weisheit von den Toten zu erlangen suchte. Zumindest einige von ihnen übernahmen solche Praktiken, denn es wurde – wie der obige Text deutlich macht – notwendig, ihnen zu verbieten, solches zu tun.
Die biblische Geschichte von der Hexe von Endor zeigt, dass sich derartige Praktiken nicht leicht unterbinden ließen. Nach dieser Geschichte ließ der König Saul nach dem Tod des Propheten Samuel alle Medien und Zauberer aus dem Land vertreiben. Er fürchtete den Vormarsch der Philister gegen ihn sehr, und er konnte den Rat Samuels nicht mehr einholen, so dass er Gott fragte, was er tun solle. Er erhielt jedoch weder durch Träume noch durch Weissagung noch von anderen Propheten eine Antwort. Und so brach Saul seinen eigenen Bann gegen die Befragung der Toten, indem er verkleidet zu einer Frau in Endor ging, die ein Medium war. Er bat sie, Samuel für ihn herbeizurufen. Als Saul sie fragte, was sie sehe, antwortete sie: „Ich sehe ein göttliches Wesen aus dem Boden aufsteigen.“ Als Saul sie bat, ihm zu beschreiben, wie es aussehe, antwortete sie: „Ich sehe einen alten Mann heraufkommen; er ist in einen Mantel eingehüllt.“ Da wusste Saul, dass es Samuel war, und er senkte sein Gesicht auf den Boden. Der Geist erzählte Saul von seinem Ungehorsam gegen Gott und dass Gott sich deshalb gegen ihn gewandt habe. Der Geist konnte auch die Zukunft voraussehen, und er sagte Saul, dass Gott Israel in die Hände der Philister geben werde. Saul und seine Söhne würden sterben: „Morgen wirst du mit deinen Söhnen bei mir sein“. Samuel war aus der Welt der Toten heraufgebracht worden, und Saul und seine Söhne würden dort mit ihm vereinigt werden (1 Sam 28,3–19).
Aus dieser Geschichte geht hervor, dass im alten Judentum die Toten, seien sie gut oder böse, an einem Ort versammelt waren. Es ist auch klar, dass Samuel, der noch immer unter den Lebenden erscheinen konnte, dort eine Form von Existenz beibehalten hat. Dieser Ort der Geister der Toten wurde „Totenreich“ genannt und befand sich unter der Erde. Die erste Erwähnung des Totenreichs findet sich im ersten Buch der Bibel, im Buch Genesis, als Jakob glaubt, dass sein Sohn Josef, der von seinen Brüdern in die Sklaverei nach Ägypten verkauft wurde, tot sei. Als seine Söhne und Töchter ihn zu trösten versuchten, wies er sie von sich und sagte: „Nein, ich werde hinabgehen in das Totenreich zu meinen Sohn, und trauern“. (Gen 37,35) Für Jakob ist Josef noch immer jemand, der sich an einem bestimmten Ort befindet und mit dem er nach seinem Tod wieder vereinigt sein wird. Doch es ist kein Ort der Freude und, unausweichlich, wie er ist, kein Ort der Sehnsucht. Es ist stattdessen ein dunkler Ort, ein Schattenreich, ein Land des Vergessens und – zumindest metaphorisch – ein Ort der Zerstörung, unter der Erde oder sogar in den unteren Bereichen der Erde. Die Toten haben lediglich eine Art „Halb-Leben“. Sie werden zu den Rephaim, den „Schatten“: „Die Toten [methim] leben nicht“, erklärt Jesaja, „Schatten [Rephaim] erstehen nicht auf – denn du hast sie bestraft und vernichtet und alle Erinnerung an sie ausgelöscht“ (Jes 26,14).
Es war nicht nur ein Ort, an den alle unausweichlich gelangen würden, sondern auch ein Ort, an den Gott seine Feinde als eine Strafe schickte, wenn auch nicht zur Strafe, und wenn sie sich gegen ihn auflehnten, gelangten sie eher früher als später dort hin. So verkündet beispielsweise Moses während der vielen Jahre, in denen die Israeliten in der Wüste umherwanderten, dass nur Nachkommen von Aaron Priester sein würden. Als Korah, Dathan und Abiram sich dagegen auflehnten, forderte Moses sie auf, sich mit ihren Frauen und Kindern vor ihre Zelte zu stellen, und alle anderen, sich von ihnen fortzubegeben. Dann stellte Moses seine Autorität unter Beweis:
Die Erde zerriss unter ihnen und tat ihren Mund auf und verschlang sie mit ihren Häusern, mit allen Menschen, die bei Korah waren, und mit aller ihrer Habe; und sie fuhren hinunter lebendig in die Hölle mit allem, was sie hatten, und die Erde deckte sie zu, und sie kamen um aus der Gemeinde. (Num 16,31–33)
Zweihundertfünfzig ihrer Anhänger wurden durch ein von Gott geschicktes Feuer ebenfalls lebendig verbrannt, „dass nicht jemand Fremdes sich herzu mache, der nicht ist des Samens Aarons, zu opfern Räucherwerk vor dem Herrn, auf dass es ihm nicht gehe wie Korah und seiner Rotte“ (Num 17, 5). Darüber hinaus hatte Gott Gewalt über diejenigen im Totenreich. Denn wie er Menschen in das Totenreich schicken konnte, so konnte er sie auch von dort wieder zurückbringen: „Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus“ (1 Sam 2,6).
Das Totenreich war jedoch mehr als nur ein geografischer Ort. Die Anspielungen des Alten Testaments auf das Totenreich legen auch die Vorstellung von einem Wesen der Unterwelt nahe, einem Wesen, das nackt vor Gott steht und Hände, eine Gebärmutter, einen Schlund und einen Mund hat, um die Toten zu verschlingen – „eine unersättliche Gottheit, die in der Unterwelt residiert, die nach Menschenleben schmachtet, doch gleichzeitig verhandlungsbereit und darauf erpicht ist, ein Lösegeld für die Befreiung der Toten zu erhalten“.1 Das Totenreich verweist daher sowohl auf einen Ort als auch auf eine Person.
Die gleiche Zweideutigkeit begegnet uns im klassischen Griechenland in der Bedeutung des Ausdrucks „Hades“ für die Geografie der Unterwelt. Dort war Hades (Haides, Aides, Aidoneus, Pluto) der König der Unterwelt und der Gott des Todes und der Toten. Er war der Sohn von Kronos und Rhea und der Bruder von Zeus und Poseidon. Nachdem die drei Brüder die Titanen besiegt und im Tartarus gefangen genommen hatten, zogen sie Lose für die Aufteilung des Kosmos. Die Ilias von Homer (ca. 8. Jahrhundert v. Chr.) berichtet:
Denn wir sind drei Brüder, die Kronos zeugte mit Rheia:
Zeus, ich selbst, und Aïs, der Unterirdischen König.
Dreifach geteilt ward alles, und jeder gewann von der Herrschaft:
Mich nun traf’s, beständig das graue Meer zu bewohnen,
Als wir gelost; den Aïdes traf das nächtliche Dunkel;
Zeus dann traf der Himmel umher in Äther und Wolken;
Aber die Erd’ ist allen gemein, und der hohe Olympos.2
Hades wurde mit Persephone, der Tochter von Demeter, verheiratet. Die beiden regierten in einem unterirdischen Palast, durch dessen Eingang – die Tore der Unterwelt – alle Menschen gehen mussten und niemals wiederkehrten.
Wie im Falle des Totenreichs des Alten Testaments war Hades auch der Name des Ortes, an dem der Gott Hades regierte. Wie das Totenreich war es ein dunkler, verhasster Ort, an den alle – mit ein paar heroischen Ausnahmen – gelangen müssen. Wie es Walter Burkert so eloquent zum Ausdruck gebracht hat:
Wenn die Erde während der Schlacht der Götter erbebt, springt Hades von seinem Thron und brüllt vor Schrecken, aus Angst davor, die Erde könne aufbrechen und sein Reich dem Licht ausgesetzt werden, abscheulich, zerfallend und eine Gräuel der Götter – so als würde ein Stein umgedreht, der den Blick auf Verwesung und ein Gewimmel von Maden freigibt.3
In der Ilias hatte der trojanische Held Hektor Patroklos, den vielgeliebten Freund von Achilles, erschlagen. Da Achilles den Leichnam von Patroklos nicht weggeben kann, verzögert er in seiner Trauer seine Verbrennung. Als Achilles Schlaf überkommt, kommt der Geist oder die psyche (ψῡχή) von Patroklos, das geisterhafte Bild von Patroklos, das seinen Tod überlebte, im Traum zu ihm:
Schläfst du, meiner so ganz uneingedenk, o Achilleus?
Nicht des Lebenden zwar vergaßest du, aber des Toten!
Auf, begrabe mich schnell, dass Aïdes’ Tor ich durchwandle!
Fern mich scheuchen die Seelen hinweg, die Gebilde der Toten,
Und nicht über den Strom vergönnen sie mich zu gesellen;
Sondern ich irr’ unstet um Aïdes mächtige Tore.
Und nun gib mir die Hand; ich jammere! Nimmer hinfort ja
Kehr’ ich aus Aïdes Burg, nachdem ihr der Glut mich gewähret!
Ach nie werden wir lebend, von unseren Freunden gesondert,
Sitzen, und Rat aussinnen: denn mich verschlang das Verhängnis
Jetzt in den Schlund, das verhasste, das schon dem Gebor’nen bestimmt ward;
Und dir selbst ist geordnet, o göttergleicher Achilleus,
Unter der Mauer zu sterben der wohlentsprossenen Troer.
[…] Lege nicht mein Gebein von deinem getrennt, o Achilleus;
Sondern […] unser Gebein umschließ’ ein gleiches Behältnis […]4
Achilles bat Patroklos, näher an ihn heranzutreten, so dass sie sich ein letztes Mal umarmen könnten. Als er so redete, „da streckt’ er verlangend die Händ’ aus; aber umsonst: denn die Seele, wie dampfender Rauch, in die Erde sank sie hinab hellschwirrend“5. Auf solche Weise wurden mächtige Krieger in der undurchsichtigen Dunkelheit des Hades zu schwer fassbaren Schatten, Fledermäusen gleich, die umherflattern, „wenn eine des angeklammerten Schwarmes nieder vom Felsen sinkt, und drauf aneinander sich hangen“.
Dies war auch die Dunkelheit, die Odysseus vorfand, als er sich in der Odyssee in die Unterwelt begibt, an den Ort, wo die vier Flüsse der Unterwelt – Styx, Cocytus, Pyriphlegethon und Acheron – sich treffen. In diesem Fall war es ein weit entfernter Ort im Westen, wo „schreckliche Nacht umhüllt die elenden Menschen“.6 Doch er war auch vertikal „unter der Erde stehend“7 und die Toten schienen von unten heraufzukommen:
[…] und aus dem Erebos kamen
Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten.
Jüngling’ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise,
Und aufblühende Mädchen, im jungen Grame verloren.
Viele kamen auch, von ehernen Lanzen verwundet,
Kriegerschlagene Männer, mit blutbesudelter Rüstung.
Dicht umdrängten sie alle von allen Seiten die Grube
Mit grauenvollem Geschrei; und bleiches Entsetzen ergriff mich.8
Dort begegnete Odysseus seiner Mutter, Antikleia, die in seiner Abwesenheit gestorben war. Als Odysseus sie zu umarmen versuchte, entschwand sie seinem Zugriff wie ein Schatten oder ein Traum. „Dies ist das Los der Menschen, wann sie gestorben“, sagt seine Mutter ihm, „denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden […] Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe“.9 Ähnlich wie das Schicksal von Dantes tugendhaften Heiden war es ein Leben nach dem Tod, das ebenso sinnlos wie eine Bestrafung war. Als also Odysseus versuchte, Achilles zu trösten, indem er ihm nahelegte, dass er zumindest über die Toten regiere, antwortete Achilles:
Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus.
Lieber möcht’ ich fürwahr dem unbegüterten Meier,
Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,
Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.10
Dennoch findet man im Jenseits Homers, obwohl ein schattenhaftes Halbleben das Schicksal der meisten war, Hinweise auf Bestrafungen für diejenigen, die sich aus den gewöhnlichen Toten hervorhoben. Diese befanden sich am wahrscheinlichsten im düsteren Tartarus, dem Ort der Titanen, „wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde: den die eiserne Pforte verschließt und die eherne Schwelle, so weit unter dem Aïs [Hades], wie über der Erd’ ist der Himmel!“11 Odysseus sah Tityos, der versucht hatte, Leto zu vergewaltigen, auf dem Boden liegend, zwei Geier über sich, die seine Leber herausrissen und ihre Schnäbel in seine Eingeweide schlugen. Er sah dort auch Tantalos, der in einem Becken mit Wasser stand, das ihm bis zum Mund reichte. Wenn er sich zum Wasser hinabbeugte, trocknete es aus. Sooft er sich nach den Früchten ausstreckte, die über ihm hingen, würde der Wind die Äste aus seiner Reichweite wehen. Und Odysseus sah auch Sisyphos in seiner Qual, der von Zeus für seinen Hochmut bestraft worden war, dazu verurteilt, für alle Ewigkeit einen Felsbrocken den Berg hinaufzurollen,
doch glaubt’ er ihn jetzt auf den Gipfel zu drehn: da mit einem Mal stürzte die Last um; hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor. Und von vorn arbeitet’ er, angestemmt, dass der Angstschweiß seinen Gliedern entfloss, und Staub sein Antlitz umwölkte.12
Auf die meisten wartete im Hades ein schattenhaftes Halbleben. Für die größten Feinde der Götter gab es die Qualen des Tartarus. Wenige Auserwählte mussten den Tod jedoch nicht erleiden. Stattdessen wurden sie in die elysischen Gefilde entrückt, in denen das Leben „für die Menschen am leichtesten“ war: „Dort ist kein Schnee, kein Winterorkan, kein gießender Regen; ewig wehen die Gesäusel des leiseatmenden Westes, welche der Ozean sendet, die Menschen sanft zu kühlen“.13 Nach Hesiod, einem Zeitgenossen von Homer, war der Bestimmungsort der wenigen Auserwählten die Inseln der Seligen „nah des Ozeanos Wirbeln, den tiefen“ an den Enden der Erde. Sie werden von den in Troja oder Theben gefallenen Helden bewohnt. Sie leben dort sorgenfrei, ein „glücklich Heroengeschlecht; es beschenkt sie mit Früchten wie Honig dreimal reifend im Jahr das nahrungspendende Erdreich“.14
Im dritten Jahrhundert vor Christus wurde die hebräische Bibel (das Alte Testament) für die Griechisch sprechenden Juden in Ägypten ins Griechische übersetzt. Es war diese Version des Textes, die als Septuaginta bekannt war, von der die Griechisch sprechenden Autoren des Neuen Testaments Gebrauch machten. Daher ist es, wenn man die oben angeführten Analogien zwischen dem griechischen Hades und dem jüdischen Totenreich oder dem Scheol zu Grunde legt, wenig überraschend, dass das Wort Hades (ᾅδης) in der Septuaginta für das Totenreich verwendet wurde und so in das Griechisch des Neuen Testaments überging.