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Dantes Vorhölle
ОглавлениеIn den frühen Jahren des 14. Jahrhunderts schrieb Dante Alighieri (1265–1321) I seine dreiteilige Göttliche Komödie – die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies. Um diese Zeit stand das Schicksal der ungetauften Kinder in der christlichen Kirche seit fast 900 Jahren fest. Zum Zeitpunkt ihres Todes, so glaubte man, gelangten sie nicht in den Himmel. Sie gelangten nicht dorthin, weil sie, in den Worten Dantes, „unbefreit noch von der Menschheit Sünde“48 gestorben waren. Außerdem würden sie niemals ins Paradies gelangen. Stattdessen würden sie auf immer am Rand der Hölle leben, „in dieses Vorhofs Mittelzustand schweben“.49
Man kann die Ansicht vertreten, dass es Dantes Verwendung des Ausdrucks „Vorhölle“ (limbus) war, um den Ort zu bezeichnen, an dem die „traurigen Schatten“ der gestorbenen Kinder lebten, die ihn im westlichen Denken populär gemacht hat. Er war nicht der Erste, der ihn verwendet hat, obwohl der Ausdruck erst kurz vor seiner Zeit geprägt worden war. Es war der dominikanische Mönch Albert der Große (ca. 1200–80), der im Jahrhundert davor als Erster den Ausdruck limbus verwendet hatte, um einen Ort zu bezeichnen, an dem zumindest ein Teil der Toten sich befand, und zwar in alle Ewigkeit: „Limbus bezeichnet den Saum eines Kleidungsstücks“, schrieb er, „und kann für den Ort verwendet werden, der sich am Rand der Hölle befindet“.50
In Dantes Aufbau der jenseitigen Welt gab es eine dreiteilige vertikale Aufteilung in das Paradies, das Fegefeuer und – jenseits des Acheron genannten Flusses – die Hölle. Im dritten Gesang der Hölle führte Vergil Dante an die Tore der Hölle, auf denen die Worte geschrieben standen: „Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet“. Nachdem er das Tor durchschritten hatte, hörte Dante ein Schluchzen, Stöhnen und wehleidiges Weinen in der Dunkelheit:
Verschied’ne Zungen, grauenvolle Sprachen, Des Schmerzens Worte, zornentbrannte Töne, Erstickt’ und laute Rufe.51
Dies waren die Stimmen derjenigen, die ihre Leben gelebt hatten, ohne sich dem Guten oder Bösen verschrieben zu haben, und folglich wurde ihnen der Eintritt in den Himmel oder die Hölle verwehrt, beziehungsweise blieb er ihnen erspart. Sie würden sich für immer im Vorhof der Hölle befinden, zusammen mit einem Chor von Engeln, die weder gegen Gott rebelliert hatten noch ihm treu gewesen waren, sondern nur für sich selbst gelebt hatten.
Vergil führte Dante dann an den Fluss Acheron, auf dessen anderer Seite die Hölle begann. Dort, am Ufer des Flusses, wartete eine Gruppe von Seelen jüngst Verstorbener darauf, über den Fluss gebracht zu werden. Ein Boot näherte sich, das von einem alten Mann mit weißem Haar gesteuert wurde. Dies war der Fährmann, der nach griechischen und römischen Quellen für die Reise über den Fluss, der die Lebenden von den Toten trennte, mit der Münze bezahlt wurde, die zu diesem Zweck in den Mund des Verstorbenen gelegt worden war. Der Bootsmann, der Dämon Charon, „mit seinen Augen wie glühende Kohlen“, fegte alle toten Seelen in das Boot und schlug mit seinem Ruder auf jeden ein, der bummelte und sich nicht beeilte. Vergil versicherte Dante, dass Charons Widerwillen, ihn über den Fluss zu bringen, für seine Zukunft Gutes verhieß. Ein plötzliches Erdbeben mit Wind und Feuer erschütterte die Erde, und Dante fiel in Ohnmacht, nur um auf der anderen Seite in der Vorhölle aufzuwachen, dem ersten von neun Kreisen der Hölle unterhalb der Erde.
Vergil und Dante, so wird uns erzählt, traten in die Dunkelheit des ersten Kreises ein. Hier war
Kein Weheklagen, sondern nur ein Seufzen,
Das jene ew’ge Luft erbeben machte
zu hören.52 Es war ein Ort melancholischen Seufzens. Dieses Seufzen entstammte dem Kummer, keinen Schmerzen, in der Menge sprachloser Kinder, Frauen und Männer.53
Keiner von diesen hatte gesündigt; einige hatten sogar Verdienste erworben. Doch keiner war getauft worden, und niemand von ihnen konnte daher in den Himmel aufgenommen werden. Vergil gehörte zu ihnen:
Und lebten sie noch vor dem Christentume,
So beteten zu Gott sie falscher Weise;
Und diesen bin ich selber beizuzählen.
Ob solchen Mangels, nicht ob andren Fehles, Sind wir verloren, und nur dadurch leidend, Dass, ohne Hoffnung, wir in Sehnsucht leben.54
Zu einem Zeitpunkt der Vergangenheit, so sagte Vergil Dante, hatte er einen Mächtigen gesehen, dessen Haupt mit Zeichen des Sieges gekrönt war. Dantes Leser wussten, dass dies Jesus Christus war, der – zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung – in die Hölle hinabgestiegen war, oder zumindest in die Vorhölle. Nach Vergil hatte er diejenigen Helden des Alten Testaments in die Seligkeit geführt, die dort eingesperrt waren – Adam, Abel und Noah, Moses und Abraham, David und Israel, sein Vater, zusammen mit vielen anderen. Bis zu diesem Zeitpunkt war „niemals vor ihnen die Seele eines Menschen errettet“55 worden. Die tugendhaften Heiden wurden jedoch nicht erlöst. Und Dante sollte schon bald einige von denen treffen, die zurückgeblieben waren, insbesondere die großen Dichter der Antike – Homer, Horaz, Ovid und Lucan.
Dante wandelte und sprach mit diesen tugendhaften Heiden, bis sie ein schönes Schloss erreichten, das von sieben Mauern umgeben war, mit einem „schönen Fluss“ als Festungsgraben. Nachdem sie durch sieben Tore geschritten waren, kamen sie zu einer grünen Wiese, auf der andere tugendhafte Heiden versammelt waren – die Philosophen Aristoteles, Sokrates und Platon, verschiedene Charaktere aus der Aeneis, der Mathematiker Euklid, der Astronom Ptolemäus; dazu auch vornehme Muslime – die Philosophen Averroes und Avicenna sowie der Sultan Saladin. Sie mochten zwar in der Hölle sein, doch diese war harmlos genug. Obwohl Dante sie in der Hölle platzierte, galt sein Mitgefühl dennoch diesen edlen Seelen, deren Unglück darin bestanden hatte, vor der Zeit Christi gelebt zu haben, und die daher dazu bestimmt waren, die Ewigkeit in hoffnungsloser Sehnsucht zu verbringen.
Unter seinen Zeitgenossen meinte man, Dante habe mit der orthodoxen katholischen Theologie der Vorhölle auf zweierlei Weise gebrochen: erstens, wie wir später noch genauer sehen werden, indem er sich nicht so sehr auf diejenigen konzentrierte, die Christus aus der Hölle erlöst hatte, als vielmehr auf diejenigen, die zurückgeblieben waren; und zweitens, indem er die Vorhölle der Säuglinge oder Kinder (limbus infantum oder puerorum) mit der Vorhölle der Heldengestalten des Alten Testaments und der Heiden der Antike (limbus patrum) gleichsetzte.
Nach der orthodoxen Position gab es zwei Vorhöllen. Nach dem franziskanischen Theologen Bonaventura (1221–74) bestand die Unterwelt aus drei Orten für die Bestrafung der Sünden nach diesem Leben. Der erste von ihnen war das Fegefeuer, das der Bestrafung lässlicher oder solcher Sünden vorbehalten war, die vergeben werden konnten. Darunter lag die Vorhölle, und darunter die Hölle für die Bestrafung von Todsünden, die die Seele in Gefahr gebracht hatten. Die Vorhölle war ihrerseits wiederum in zwei Orte unterteilt. Im unteren Teil der Vorhölle befanden sich diejenigen, die in ihrer (von Adam stammenden) Erbsünde gestorben waren, d.h. ungetaufte Kinder. Der obere Bereich der Vorhölle, der auch als Abrahams Schoß bekannt war, war für diejenigen bestimmt, die sich dort vor der Zeit Christi befanden, aber erlöst worden waren, als Christus in das Reich des Todes hinabgestiegen war, und daher war seit dieser Zeit die obere Vorhölle konsequenterweise leer gewesen.56
Die Vorstellung, dass es zwei Vorhöllen gab, wurde durch den dominikanischen Theologen Thomas von Aquin (ca. 1225–74) noch bestärkt, denn in seiner Darstellung der Unterwelt waren die beiden durch das Fegefeuer getrennt. Für Thomas hatte die Hölle vier Bereiche. Eine Hölle war der Ort der Verdammten, ein Ort, an dem den Verdammten der Anblick Gottes verweigert war und an dem sie körperliche Qualen erleiden mussten. Darüber befand sich eine andere Hölle, ein Ort der Finsternis ohne die Schau Gottes, jedoch ohne körperliche Qualen. Diese Hölle, so sagte Thomas von Aquin, werde die „Vorhölle der Kinder“ (limbus puerorum) genannt. Oberhalb der Vorhölle der Kinder befand sich ein weiterer Ort der Dunkelheit ohne die Gottesschau, in dem allerdings dennoch körperliche Schmerzen erlitten wurden (von denen jedoch eine Erlösung möglich war). Dieser Ort, sagte Thomas, werde „Fegefeuer“ (purgatorium) genannt. Schließlich gab es oberhalb des Fegefeuers noch eine weitere Hölle. Auch dies war ein Ort der Dunkelheit ohne die Schau Gottes, abermals jedoch ohne körperliche Qualen. Dies war „die Hölle der heiligen Väter“ (infernus sanctorum patrum). Dies sei derjenige Bereich der Hölle gewesen, so bemerkte er, in die Christus zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung hinabgestiegen sei. Tiefer vorgedrungen sei er nicht.57