Читать книгу Jenseits - Philip C. Almond - Страница 13
Das noch nicht ganz wiedergewonnene Paradies
ОглавлениеWar es auch unter den frühen christlichen Denkern allgemein akzeptiert, dass das Paradies der Bestimmungsort der Geretteten unmittelbar nach ihrem Tode sei, so war dies nicht die umfassende Sichtweise des Neuen Testaments. Im Gegenteil: Im Neuen Testament war, wie im Alten, das Totenreich der Bestimmungsort der Toten. Das griechische Wort „Hades“ kommt im Neuen Testament zehnmal vor, je zweimal in den Evangelien von Matthäus und Lukas, zweimal in der Apostelgeschichte und viermal im Buch der Offenbarung.41 In den meisten dieser Fälle schließt sich die Verwendung im Neuen Testament an die im Alten Testament an, in dem die Unterwelt als ein Schattenreich beschrieben wird, in dem es weder Schmerz noch Freude gibt und in das alle Menschen direkt nach ihrem Tod hinabsteigen. Doch es gibt mehrere Ausnahmen hiervon. Die erste findet sich in der Geschichte vom reichen Mann und Lazarus (Lk 16,19–31). In ihr ist das Totenreich (wie wir im zweiten Kapitel noch weiter sehen werden) immerhin ein Ort, an dem die Bösen bestraft werden (sowie ein Ort, an dem es zumindest möglich ist, dass die Guten belohnt werden). Die zweite Ausnahme finden wir im Matthäusevangelium (11,23) sowie an einer Parallelstelle des Lukasevangeliums (10,13). Hier wird aus dem Kontext klar, dass das Totenreich ein dem Himmel (ούρανος) entgegengesetzter Ort ist, an den die reuelosen Menschen von Kapernaum am Tag des Jüngsten Gerichts geschickt werden. An einer dritten Stelle bedeutet es nicht mehr als den Tod oder das Grab (1 Kor 15,55).
Dass es im Neuen Testament keine einheitliche Beschreibung des Totenreichs gibt, hat nur wenigen frühen Übersetzern des griechischen Neuen Testaments Sorgen bereitet. Die meisten von ihnen setzten das „Totenreich [Hades]“ mit der „Hölle“ gleich und hielten es somit für einen Ort der Bestrafung (was es im Neuen Testament, mit einer Ausnahme, nicht ist). So glichen sie den zeitweiligen Aufenthaltsort unmittelbar nach dem Tod dem Ort der ewigen Bestimmung einiger Menschen nach dem Jüngsten Gericht an (was uns im Neuen Testament abermals so nicht begegnet). So verwendet zum Beispiel Jerome in seiner lateinischen Übersetzung der Bibel, der Vulgata (ca. 400 n. Chr.), zur Übersetzung von Hades das lateinische Wort für Hölle (infernus und Variationen).42 Martin Luther verwendet in seiner deutschen Übersetzung des Neuen Testaments (1522) im Allgemeinen das deutsche Wort „Hölle“. Die um die Mitte des 16. Jahrhunderts verfasste protestantische Genfer Bibel und die englische King-James-Bibel von 1611 entschieden sich auf ähnliche Weise für „hell [Hölle]“. Luther verwendete „Hölle“ zur Übersetzung des griechischen Wortes γέεννα (Gehenna). Ähnlich übersetzten die Genfer Bibel und die King-James-Bibel „Gehenna“ als „Hölle“ oder „Höllenfeuer“. Es wurde, kurz gesagt, in diesen wichtigen Übersetzungen kein Unterschied zwischen Hades und Gehenna gemacht. Es ist daher wenig verwunderlich, dass es in den Theorien über das Leben nach dem Tod, die sich auf diese Übersetzungen stützten, drunter und drüber gehen konnte. Was die Dinge darüberhinaus noch komplizierter machte, war die Tatsache, dass Jeromes Vulgata das Wort „Gehenna“ beibehielt und damit einen Unterschied zwischen Gehenna und Hades machte. In dem er dies tat, übernahm Jerome eine Unterscheidung, die – wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden – Origines (ca. 185–ca. 254) eingeführt hatte. Der Grund hierfür war, dass Jerome akzeptierte, dass das Totenreich die Gerechten und die Sünder aufnehmen konnte und damit von dem Ort (Gehenna) unterschieden war, an dem sich nur die Sünder befanden.43 So befanden sich zum Beispiel sowohl der reiche Mann als auch Lazarus im Totenreich. Nach Origenes stiegen diejenigen, die nicht bekehrt wurden, als Christus in das Reich des Todes hinabstieg, um denen zu predigen, die sich dort befanden, zur Strafe noch tiefer in die Gehenna hinab. Für Origenes waren demnach Hades und Gehenna zwei Orte, die existierten und an denen sich schon vor dem Tag des Jüngsten Gerichts Verstorbene befanden. Obwohl sich Origenes auf einen Unterschied zwischen Hades und Gehenna bezog, der im Neuen Testament bereits vorhanden war, wird die Unterscheidung dort im Allgemeinen anders vorgenommen. Dort wurden sie in erster Linie als Orte unterschieden, die vor und nach der Zeit des Jüngsten Gerichts bevölkert wurden.
Das griechische Wort für „Gehenna“ (γέεννα) war ursprünglich der Name für ein Tal außerhalb von Jerusalem, das Tal von Hinnom (in der Sprache Jesu – Aramäisch – „Gehenna“, auf Hebräisch „Ge Hinnom“). Dieses Tal war ein Ort heidnischer Rituale, bei denen den kanaanitischen Göttern Moloch und Baal Kinder als Feueropfer dargebracht wurden. In späteren Teilen des alten Testaments wurde es im Allgemeinen ein Ort, an dem alle Sünder am Jüngsten Tag schließlich ihre Strafe empfangen würden (Jer 7,32). Später wurde es von dieser Assoziation mit einem bestimmten Ort befreit und als der allgemeinere unterirdische Bereich bezeichnet, in den die Sünder gelangen würden. Das vierte Buch Esra (ca. 100 n. Chr.) sagt uns, dass am Tag des Jüngsten Gerichts „das Feuer von [Gehenna] enthüllt und dem Paradies der Freude gegenüber liegen soll“.44
Es ist dieses Verständnis von Gehenna – als Ort der Bestrafung nach dem Jüngsten Gericht –, welches bei der Verwendung dieses Ausdrucks im Neuen Testament im Vordergrund steht. Er kommt zwölfmal darin vor: sieben Mal im Matthäusevangelium, dreimal im Markusevangelium und je einmal im Lukasevangelium und im Jakobusbrief.45 Mit zwei Ausnahmen bei Lukas und Jakobus, bedeutet das Wort den Bestimmungsort der Verdammten nach dem Jüngsten Gericht. So verkündet Jesus zum Beispiel: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele [ψῡχήν] verderben kann in der Hölle [ενγεέννη]“. (Mt 10,28)
Die wichtige Ausnahme ist Lukas 12,4–5. Der Autor dieses Evangeliums formuliert Matthäus 10,28 so um, dass der Ausspruch Jesu sich nicht mehr auf ein abschließendes Urteil über den Leib und die Seele bezog, sondern ein unmittelbar auf den Tod folgendes Gericht über die Seele allein: „Fürchtet euch nicht vor denen die den Leib töten, und darnach nichts mehr tun können. […] Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat, zu werfen in die Hölle.“ Dies ist die allererste Verwendung des Ausdrucks „Gehenna“ für den Bestimmungsort der Verstorbenen unmittelbar nach dem Tod. Es ist eine Verwendung, die auch später im rabbinischen Judentum vorkommen wird. Die Verwendung von „Gehenna“ entspricht der Geschichte vom reichen Mann und Lazarus im selben Evangelium, in dem Hades ebenfalls der unmittelbare Bestimmungsort der Toten ist. Kurz gesagt, in diesem Evangelium haben „Hades“ und „Gehenna“ dieselbe Bedeutung. Dieser Unterschied im Verständnis von „Hades“ und „Gehenna“ in den Evangelien von Matthäus und Lukas spiegelt auch das unterschiedliche Verständnis wider, das sie über den Bestimmungsort der Toten im Allgemeinen haben. Das Matthäusevangelium legt die Vorstellung nahe, dass es in dem unmittelbar auf den Tod folgenden Zustand weder Freude noch Schmerz gibt. Stattdessen warten die Toten auf das Jüngste Gericht, an dem Belohnungen und Strafen ausgeteilt werden. Die Sünder werden dann ihre Strafen in der Gehenna empfangen. Im Gegensatz dazu finden wir im Evangelium von Lukas eine unmittelbare Bestrafung der Sünder im Hades oder der Gehenna, unmittelbare Belohnungen für die Gerechten in Abrahams Schoß, mit einem endgültigen Urteil nur für die Gerechten und keinem endgültigen Gericht für die Sünder, das sich an ihre Verbannung in die Gehenna anschließen würde.46
Der klassische Ausdruck „Tartarus“ wird im Neuen Testament nur ein einziges Mal erwähnt: „Denn Gott hat die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle [tartarosas, ταρταρώσας] verstoßen und übergeben, dass sie zum Gericht behalten werden“ (2 Petr 2,4). Hier deckt sich die Verwendung von „Tartarus“ zur Bezeichnung eines Ortes der Strafe unmittelbar nach dem Tod mit dem klassischen griechischen Verständnis des Ausdrucks. Die Vulgata von Jerome behielt den Ausdruck „Tartarus“ bei. Doch die Versionen Luthers und der Genfer sowie der King-James-Bibel verwendeten den Ausdruck „Hölle“, womit sie erneut einen klassischen Ort der Bestrafung unmittelbar nach dem Tod mit dem Ort gleichsetzten, an den die Sünder erst nach dem Jüngsten Gericht geschickt würden.
Das Gesagte reicht aus, um zu zeigen, dass das Verständnis des Bestimmungsortes der Toten im Neuen Testament kompliziert ist. Ich habe mich bemüht, etwas so einheitlich wie möglich darzustellen, das alles andere, nur nicht kohärent ist. Von entscheidender Bedeutung ist, wie wir gesehen haben, dass sich dieser schwankende Gebrauch in den Texten des Neuen Testaments in den Übersetzungen in verschiedene Sprachen widerspiegelt, in Übersetzungen, die häufig ihrerseits die verschiedenen theologischen Positionen widerspiegelten, mit denen sich die Übersetzer an ihre Aufgabe machten. Was aus der vorangegangenen Diskussion jedoch klar geworden ist, ist das Folgende: dass die Linien zwischen den Bestimmungsorten der Toten unmittelbar nach dem Tod und ihrem Schicksal nach dem Jüngsten Gericht nicht nur in den ursprünglichen Texten des Neuen Testaments verschwommen waren, sondern durch die verschiedenen Übersetzungen dieser Texte noch undeutlicher geworden sind. Die Diskussion veranschaulicht auch die zentrale Frage der komplexen Beziehungen, die zwischen dem angeblichen Bestimmungsort der Toten unmittelbar nach dem Tod und ihrem Schicksal am Ende der Geschichte bestehen. Diese Beziehungen hingen – wie wir im dritten Kapitel noch sehen werden – wesentlich vom Verständnis der Natur des menschlichen Individuums ab, genauer gesagt von der Materie (sozusagen) der Körper und Seelen. Bevor wir jedoch die Frage nach der Beziehung zwischen Körpern und Seelen untersuchen, gilt es, noch auf eine weitere Reihe komplexer Fragen bezüglich des Schicksals der Toten, oder zumindest einiger von ihnen, einzugehen, die mit der allgemeinen Geografie der Unterwelt in Beziehung stehen, insbesondere mit der Stellung der Vorhölle (limbus) innerhalb der Unterwelt.