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Die Vorhölle der Väter
ОглавлениеDante unterschied sich von seinen Zeitgenossen auf radikale Weise darin, dass er den verstorbenen Kindern und den tugendhaften Heiden denselben geografischen Ort zuwies, nämlich den ersten Kreis der Hölle. Indem er den tugendhaften Heiden auf ewig die Vorhölle zuwies, widersprach er auch der Hauptströmung der theologischen Orthodoxien, die – bis zu dieser Zeit – die tugendhaften Heiden entweder nach unten in die Hölle verwiesen oder nach oben dem Himmel anvertraut hatten. Doch Dante war mit seinen Zeitgenossen einer Meinung darin, dass die Patriarchen und Propheten des Alten Testaments – Adam, Abraham, Moses usw. – der Erlösung teilhaftig wurden und dass ihnen dies durch den Glauben an Jesus Christus gelungen war. Christus hatte das Totenreich betreten und sie von demjenigen erlöst, was um die Zeit des Thomas von Aquin als „die Vorhölle der Väter“ (limbus patrum) bekannt war.
Diese Lehre von der Höllenfahrt Jesu besagte, dass er zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung in das Reich des Todes hinabgestiegen war und dort denjenigen gepredigt hatte, die bereits gestorben waren. Anschließend führte er die Gerechten von dort in das Paradies oder den Himmel, und indem er dies tat, besiegte er den Tod und die Mächte der Hölle, die die Toten dort gefangen gehalten hatten.79 Die neutestamentlichen Schlüsseltexte waren 1 Petrus 3,19, gemäß dem Christus den Geistern im Gefängnis gepredigt hatte, und 1 Petrus 4,6, nach dem das Evangelium sogar den Toten verkündigt worden war.80
Die ausführlichste Version des Abstiegs in das Reich des Todes findet man im Evangelium von Nikodemus aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts (in seiner jüngsten Form nach dem Jahr 555). Mit Ausnahme der Evangelien des neuen Testamentes selbst war dies vielleicht die einflussreichste und maßgeblichste der frühen christlichen Schriften.81 Der zweite Teil des Evangeliums des Nikodemus, der vom Abstieg Christi in das Reich des Todes handelte, ist uns in griechischen und lateinischen Versionen erhalten geblieben, wobei die lateinischen Versionen zu den Vorlagen für die Versionen in jeder der europäischen Sprachen wurden.82
Nach der griechischen Version war vor der Ankunft Christi in der Welt des Todes Johannes der Täufer in die Unterwelt gekommen, um zu verkünden, dass auch Christus in die Totenwelt kommen würde, um allen die Erlösung anzubieten. Hierzu gehörten nicht nur die Patriarchen und Propheten, sondern auch die Heiden, die vorher Götzenbilder angebetet hatten. Die Wiederholung von Johannes des Täufers vorbereitender Mission in der Unterwelt war ein weit verbreitetes Thema des frühen christlichen Denkens. Daher erklärte Johannes
denn nur jetzt habt ihr Gelegenheit zur Buße dafür, dass ihr in der oberen eitlen Welt den Götzenbildern Verehrung erwiesen habt und dass ihr gesündigt habt. Zu anderer Zeit ist unmöglich, dass es geschieht.83
Und als Christus wenig später an den Toren der Hölle erschien, „wurden sämtliche Toten, die gefangen waren, von ihren Ketten befreit“.84 Nachdem er Adam gerettet hatte, sagte Jesus zu allen Toten:
Her zu mir alle, die ihr durch das Holz, nach dem dieser griff, sterben musstet! Denn siehe: Wieder will durch das Holz des Kreuzes euch alle ich aufrichten. Darauf ließ er sie alle hinaus.85
Die Welt des Todes, so müssen wir annehmen, wurde leer zurückgelassen.
Diejenigen, die Christus in das Paradies führte, wurden dem Erzengel Michael übergeben. Dort trafen sie auf Henoch und Elias, die beiden einzigen Helden des Alten Testamentes, die nie gestorben sind, sowie auf den reumütigen Dieb, der mit Jesus gekreuzigt worden war (und im Evangelium von Nikodemus erstmals den Namen Dismas erhielt). Nach dem Lukasevangelium war ihm von Jesus versprochen worden: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Dismas berichtet, dass Michael, als er im Himmel ankam, zu ihm sagte: „Warte ein Weilchen! Denn da kommt auch der Urvater des Menschengeschlechts Adam mit den Gerechten, damit auch sie hier eintreten“.86
Die beiden lateinischen Versionen (Lateinisch A und Lateinisch B) erzählten allerdings eine andere Geschichte darüber, wen Christus errettete, als er in das Reich des Todes hinabstieg. Im Gegensatz zur griechischen Version enthalten sie keine Erwähnung der Predigt Johannes des Täufers an die Götzendiener in der Hölle. Insgesamt scheinen die lateinischen Versionen Christi Angebot der Erlösung auf die Heiligen zu beschränken, insbesondere auf die Propheten und Patriarchen, und (in der lateinischen Version B) auf Eva. In der lateinischen Version A ist das Schicksal der Zurückgebliebenen sowie dasjenige Satans unklar. Im Unterschied dazu ist in der lateinischen Version B ihr Schicksal sicherer. In der lateinischen A-Version lässt Jesus Satan, und vermutlich auch die Toten, die nicht in das Paradies aufgenommen werden, auf ewig im Reich des Todes zurück. In der lateinischen B-Version kommt es zu einer signifikanten Veränderung. Dort wird Satan nicht für alle Ewigkeit im Reich des Todes gelassen, sondern in die Feuer der Hölle (Tartarus) geworfen:
Und siehe, der Herr Jesus Christus kommt in der Herrlichkeit des Lichts, in Sanftmut, groß und doch demütig, eine Kette in seinen Händen tragend, mit der der Hals Satans gebunden war und zudem seine Hände hinter seinem Rücken, und er wirft ihn herab in den Tartarus und setzt seinen heiligen Fuß auf seine Kehle und spricht: Durch alle Jahrhunderte hast du viel Böses getan und hast zu keiner Zeit Ruhe gegeben. Heute werfe ich dich in das ewige Feuer.87
Satan wurde in die Hölle gesperrt.88 Außerdem nahm Christus nur einige von denen im Totenreich mit sich in das Paradies. Die Restlichen „wurden in den Tartarus hinabgestoßen“.89 Für das Evangelium von Nikodemus wurde – ob Christus nun alle mit sich ins Paradies nahm (wie in der griechischen Version) oder nur einige (wie in der lateinischen B-Version) – das Totenreich, also der Ort, an den alle Gestorbenen seit der Zeit Adams nach ihrem Tode gelangt waren, zwischen Christi Tod und Auferstehung im wahrsten Sinne des Wortes leer gemacht.
Die Frage der Erlösung der Gerechten des Alten Testamentes war seit der Mitte des zweiten Jahrhundert n. Chr. von entscheidender Bedeutung gewesen. Denn es war zu dieser Zeit, dass Marcion (gest. ca. um 160 n. Chr.) einen strengen Unterschied zwischen dem neutestamentlichen Gott der Liebe und Güte und dem alttestamentlichen Gott des Gesetzes und des Bösen machte. Dies hatte zur Folge, dass die Gerechten des Alten Testaments nicht als heldenhafte Vorläufer Christi, sondern als Übeltäter gesehen wurden. Daher waren es nicht sie, die gerettet wurden, als Christus in das Reich des Todes hinabstieg. Stattdessen glaubte Marcion, zumindest nach seinem orthodoxen Gegenspieler Irenäus (ca. 130–200 n. Chr.), dass es Kain, die Sodomiten, die Ägypter „und all die Völker, die im Sumpf jeglicher Bosheit wandelten“, waren, die „durch den Herrn gerettet wurden, indem er in das Reich des Todes hinabgestiegen war“.90 Die Gerechten des Alten Testamentes – Abel, Henoch, Noah, Abraham und die anderen Erzväter und Propheten – seien „in der Hölle geblieben“.91
Im Gegensatz dazu vertrat Irenäus die Auffassung, dass es zwischen dem Gott des Alten und Neuen Testaments keinerlei Bruch gab und dass die Gerechten des Alten Testaments Vorläufer Christi waren. Daher konnte es für all jene gerechten Männer des Alten Testaments, die auf Christus hofften, obwohl sie Sünder waren, eine Erlösung geben:
Deswegen sei der Herr in die Unterwelt hinabgestiegen und habe jenen seine Ankunft verkündet, indem es Nachlassung der Sünden für die gab, die an ihn glaubten. Es glaubten aber an ihn alle, die auf ihn hofften, d.h. die seine Ankunft vorher verkündigten und seinen Anordnungen Folge leisteten, die Gerechten, die Patriarchen und Propheten. Ihnen erließ er ähnlich wie uns ihre Sünden.92
Wenn das Schicksal der Gerechten des Alten Testaments gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vor Christus eine brennende Frage war, so galt dies ebenfalls für das Schicksal der tugendhaften Heiden, als das Christentum begann, sich mit der griechischen Philosophie intellektuell auseinanderzusetzen. Nirgendwo gab es eine intensivere Auseinandersetzung zwischen Theologie und Philosophie als in Alexandria zur Zeit von Clemens (ca. 150–ca. 215 n. Chr.). Nach Clemens war die Philosophie den Griechen gegeben, ebenso wie das Gesetz den Juden, um sie auf den Empfang des Evangeliums von Christus vorzubereiten. Daher war es nur gerecht, dass denjenigen im Totenreich, sowohl Juden als auch Heiden, die Gelegenheit zur Erlösung gegeben werden sollte. Denn ein gerechter Mann, so erklärte Clemens, „unterscheidet sich nicht, hinsichtlich der Gerechtigkeit, von einem anderen gerechten Mann, sei dieser ein Mann des Gesetzes oder ein Grieche“.93 Dies bedeutete nicht, dass alle errettet werden würden, aber es bedeutete sehr wohl, dass allen die Möglichkeit zu glauben gegeben werden würde.
Clemens war sich nicht sicher, ob das Angebot der Erlösung, das Christus machte, als er in das Reich des Todes hinabstieg, allen Heiden gemacht wurde oder nur denjenigen, die gerecht waren. Und er war sich ebenfalls nicht sicher, ob Christus in das Reich des Todes hinabgestiegen war, um allen zu predigen, die sich dort befanden, oder nur den Juden. Sollte Christus nur zu den Juden gepredigt haben, dann, so glaubte Clemens, seien die Apostel – hier auf Erden wie dort –, nachdem sie gestorben waren, ebenfalls in das Reich des Tod hinabgestiegen, um denjenigen das Evangelium zu predigen, die dort geblieben und bereit waren, bekehrt zu werden. War der Herr hingegen in das Reich des Todes hinabgestiegen, um allen das Evangelium zu predigen,
dann werden alle, die glauben, gerettet werden, auch wenn sie zu den Heiden gehören, wenn sie dort ihr Bekenntnis ablegen; denn Gottes Strafen sind errettend und disziplinieren und wählen die Reue des Sünders statt seines Todes.
Er legte sogar nahe, dass die Seelen dort, „obwohl durch Leidenschaften geschwächt, wenn sie von ihren Leibern befreit sind, umso deutlicherer Erkenntnis fähig sind, da sie nicht länger durch das schwache Fleisch verdunkelt werden“.94 In beiden Fällen wurde sowohl Juden wie Heiden die Möglichkeit der Erlösung angeboten.
Origenes (ca. 185–ca. 254 n. Chr.), der Clemens’ Nachfolger als Leiter der christlichen katechetischen Schule von Alexandria war, stimmte seiner Sicht von Christi Abstieg in das Reich des Todes zu. Spät im zweiten Jahrhundert hatte der heidnische Philosoph Celsus die Tradition von Christi Abstieg in das Reich des Todes angegriffen: „Ihr [Christen] werdet doch wohl von ihm [Christus] nicht sagen wollen, dass er in die Unterwelt hinabstieg, um bei den dort Weilenden Glauben zu finden, nachdem er die Bewohner dieser Erde nicht zum Glauben gebracht hatte.“95 Origenes war ein Christ, der genau dies sagen wollte. Er wies nicht nur die Behauptung zurück, dass die Mission Christi auf Erden fehlgeschlagen war, sondern er verteidigte darüber hinaus, dass Christus in das Reich des Todes hinabgestiegen war:
Als er dann eine des Körpers ledige Seele geworden war, verweilte er bei den der Körper ledigen Seelen und bekehrte auch von ihnen diejenigen zum Glauben an ihn, welche willig waren oder welche er als hierfür empfänglich ansah, aus Gründen, die er selbst kannte.96
Origenes behauptete nicht, dass alle errettet werden würden. Tatsächlich impliziert die obige Textstelle, dass einige zurückblieben, die nicht dazu bereit waren. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sie in der Welt des Todes bleiben würden, denn auch Origenes machte einen klaren Unterschied zwischen Hades und Gehenna, diesem finsteren Ort des ewigen und unauslöschlichen Feuers.97 Daher mochten diejenigen, die nicht bereit waren, sich zu bekehren, zur Strafe in die Gehenna (die Hölle) hinabgeführt worden sein, wobei der Hades ebenfalls für immer leer war. Was wir schlussfolgern können ist, dass es unter den Bekehrten sowohl Heiden als auch Juden gab.