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Die Vorhölle der Kinder

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Bis zum 13. Jahrhundert befanden sich ungetaufte verstorbene Kinder nicht an einem speziellen Ort wie der Vorhölle. Seit dem vierten Jahrhundert hatten sich christliche Denker jedoch um das Schicksal der Kinder Sorgen gemacht. Der griechische Theologe Gregor von Nyssa (ca. 330–ca. 395 n. Chr.) hatte diesem Problem als Erster ein eigenes Werk gewidmet.58 Der Sinn solch kurzer Leben besorgte ihn zutiefst: „Welche Weisheit können wir denn in Folgendem am Werke sehen?“, fragte er.

Ein menschliches Wesen betritt die Bühne des Lebens, atmet die Luft ein, beginnt den Prozess des Lebens mit einem Schmerzensschrei, zahlt den Tribut einer Träne an die Natur, schmeckt lediglich die Traurigkeiten des Lebens, bevor es irgendeine seiner Süßigkeiten sein eigen nennen konnte, bevor irgendeines seiner Gefühle irgendeine Intensität erreicht hat; noch locker in all seinen Gelenken, zart, weich, noch nicht verhärtet […] Solch ein Wesen, ohne irgendeinen Vorteil vor einem Embryo in der Gebärmutter, mit der einzigen Ausnahme, dass es die Luft erlebt hat, so kurzlebig, stirbt und vergeht wieder.59

Was solle man zu einem solchen Tod sagen, fragte er sich.

Wird eine Seele wie diese, ihren Richter zu sehen bekommen? Wird sie mit allen übrigen vor dem Gericht stehen? Wird ihr der Prozess für Taten in ihrem Leben gemacht? Wird sie die gerechte Strafe empfangen, indem sie – nach den Äußerungen des Evangeliums – im Feuer gereinigt wird, oder durch den Tau der Segnung erfrischt?60

Das Kernproblem war für Gregor die Natur des jenseitigen Lebens solch kleiner Kinder. Sie verdienten keine der Strafen, die den Sündern vorbehalten waren. Doch ebenso wenig verdienten sie die Belohnungen der Tugendhaften. Wenn die Belohnungen oder Bestrafungen nach dem Tode nach Prinzipien der Gerechtigkeit ausgeteilt wurden, „in welche Klasse soll derjenige platziert werden, der in der Kindheit gestorben ist, der in diesem Leben keinerlei Grundlage gelegt hat, gut oder böse, nach der ihm irgendeine verdiente Strafe oder Belohnung zuteilwerden könnte?“61 Gregor war sich ziemlich sicher, dass gestorbene Kinder, da sie nichts Böses getan hatten, keine Strafen üblicher Art verdient hatten. Gleichwohl konnte die Teilhabe der gestorbenen Kinder, deren Seelen „niemals den Geschmack der Tugend gekostet“ hatten, da die Belohnung der während des Lebens erworbenen Tugend angemessen war, an der ewigen Glückseligkeit nur minimal sein.62 Über den Ort ihres Aufenthalts nach dem Tode gab es keinen Hinweis. Obwohl es bei Gregor von Nyssa eine Andeutung in die Richtung gibt, dass sich ihre Glückseligkeit nach dem Tode entwickeln könnte, war ihr Zustand direkt nach dem Tod ein neutraler. Wie man all dies mit der Gerechtigkeit und Güte Gottes in Einklang bringen konnte, war eine andere Frage. Gregors Hinweis, dass Gott die Leben von Kindern in weiser Voraussicht verkürzte, da er voraussah, welche maßlosen Boshaftigkeiten sie begehen würden, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen würden, und dass er damit seine göttliche Güte demonstriere, war wahrscheinlich nicht das überzeugendste Argument – für damalige oder heutige Leser.

Allgemein lässt sich feststellen, dass in der Theologie der griechischen oder östlichen Kirche das Schicksal der ungetauften Kinder eher unbestimmt war. Alle waren sich mit Gregor von Nyssa darin einig, dass verstorbene Kleinkinder weder eine Belohnung noch eine Strafe verdient hatten, nicht zuletzt deshalb, weil sie noch über keine moralische Identität verfügten. Dies stand im Einklang mit der allgemeinen Ansicht der griechischen Theologen bezüglich der Konsequenzen des Sündenfalls: dass er zwar Verderbnis und Sterblichkeit nach sich zog, jedoch keine menschliche Natur, die von der Sünde vollkommen zerstört war. Es ergibt daher in der griechischen Theologie keinen Sinn, dass Kinder mit der Erbsünde geboren und als Konsequenz der Sünde von Adam schuldig waren. Im Gegenteil wurden Kinder für Gregor von Nyssa in einem Zustand natürlichen Gutseins geboren.

Die Ansicht, dass Kinder ohne Sünde geboren wurden, sollte sich jedoch in der lateinischen oder westlichen Kirche im frühen fünften Jahrhundert auf bedeutsame Weise ändern. Zum damaligen Zeitpunkt wurde das Schicksal der Kinder zu einer zentralen Streitfrage in den Kontroversen der beiden Denker Pelagius (seine Wirksamkeit fällt in die Jahre ca. 390–418 n. Chr.) und Augustinus (354–430 n. Chr.). Die Frage der Erbsünde, der Sünde, die alle Menschen als Ergebnis der Sünde Adams weitergereicht bekamen, sollte auf dem Schlachtfeld der Frage des Schicksals von Kindern, die ungetauft gestorben waren, ausgefochten werden.

Pelagius befand sich in der vordersten Reihe derjenigen, die die Lehre von der Erbsünde bestritten. Um das Jahr 405 n. Chr., bevor sein Streit mit Augustinus ausbrach, schlug sich Pelagius auf die Seite derjenigen, die erklärten, es sei „ungerecht, dass eine Seele, die heute geboren wird, nicht direkt von Adam abstammt, eine so alte Sünde tragen soll, die die eines anderen ist“.63 Es könne nicht gutgeheißen werden, so fuhr er fort, dass der Gott, der den Menschen ihre eigenen Sünden vergab, ihnen die eines anderen (Adams) anrechnete. Ein Kind oder ein neugeborenes Baby, erklärte er anderswo, könne für die Sünden eines anderen nicht verantwortlich gemacht werden. Das Böse werde nicht mit uns geboren: „Alles Gute und alles Böse, aufgrund dessen wir entweder lobenswert oder schuldig sind, wird nicht mit uns geboren, sondern von uns getan. […] Und wie wir ohne Tugend gezeugt werden, so auch ohne Laster“.64 Wie es Pelagius’ Mitstreiter Caelestius (seine Wirksamkeit fällt in das 5. Jahrhundert n. Chr.) so elegant formulierte: „Kinder befinden sich zum Zeitpunkt ihrer Geburt in demselben Zustand, in dem sich Adam vor seiner Übertretung befand“.65 Sie wurden als leeres Blatt geboren, auf das böse oder gute Taten erst später geschrieben wurden. Dennoch waren Pelagius und seine Anhänger, wie Augustinus bemerkte, darin einig, dass gestorbene Kinder ohne Taufe nicht in das Königreich des Himmels eintreten konnten. Darüber hinaus wusste Pelagius, dass Kinder, ohne den Makel der Erbsünde, nicht in die Hölle kamen. Welches genau der Bestimmungsort solch unschuldiger Kinder war, wusste er allerdings nicht.66 Augustinus wusste es, wie wir noch sehen werden, und er hatte nicht den geringsten Zweifel daran.

Für Pelagius und andere stand es im Konflikt mit ihrem Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit, wenn unschuldig verstorbene Kinder nach ihrem Tod in der Hölle für Sünden büßen sollten, die sie nicht begangen hatten. Augustinus hingegen legte seinen Nachdruck nicht auf die Sünden der Kinder, sondern auf ihr Leiden in diesem Leben. Für Augustinus waren es diese Leiden nach der Geburt, die – wenn die Kinder zum Zeitpunkt der Geburt unschuldig waren – gegen die Gerechtigkeit Gottes angeführt werden konnten. „Ist euch nicht klar“, fragte er, „dass ihr Gott ungerecht macht, wenn ihr die Bestrafung seht, die kleine Kinder erfahren, sie aber dennoch weiterhin für unschuldig erklärt?“67 Für Augustinus ließ sich daher das Leiden kleiner Kinder in diesem Leben nur durch den sündhaften Zustand rechtfertigen, den sie von Adam geerbt hatten und mit dem diese Kinder geboren worden waren.

In seinem frühen Werk De libero arbitrio (Über die Freiheit des Willens) übernahm Augustinus eine Position bezüglich des Schicksals ungetaufter Kinder, die sich von derjenigen, gegen die er sich später wenden sollte, kaum unterschied. Wenn es ein Leben gibt, so schrieb er, das sich zwischen der Sünde und dem richtigen Handeln befindet, so „fürchte nicht, dass unser Richter ein Urteil verkünden kann, das in der Mitte zwischen Strafe und Belohnung liegt“.68 Später hat er jedoch, im Zusammenhang des Streits mit Pelagius über die Erbsünde, seine Position verhärtet. Es sei eine grundsätzliche Wahrheit des christlichen Glaubens, erklärte er, dass die Geborenen verdammt sind, sofern sie nicht durch die Taufe erlöst werden.69 Dies sei unabhängig vom Alter eines Menschen der Fall.

Dies war die unausweichliche Konsequenz seiner Erbsündenlehre. Vereinfacht gesagt: Die ewige Verdammnis war das einzig mögliche Schicksal der Gestorbenen, sofern sie nicht der Vergebung der Sünden teilhaftig wurden, die durch die Taufe übertragen wurde. Die Ungetauften, so schrieb er, „müssen zur Klasse derjenigen gerechnet werden, die nicht an den Sohn glauben, und daher werden sie, wenn sie dieses Leben ohne diese Gnade verlassen, […] kein Leben haben, sondern der Zorn Gottes ruht auf ihnen“.70 Kurz gesagt: Es war nur möglich auf Seiten des Teufels oder Christi zu stehen. Dennoch fand sich einiges, das dieses strengen Ergebnis abschwächte. Für Augustinus waren die Strafen der Hölle der Schwere der Schuld der Sünder angemessen. Außerdem konnte den verstorbenen Kindern nur die Erbsünde, hingegen keine persönliche Schuld zugeschrieben werden. Daher würde ihre Strafe minimal sein: „Solche Kinder, die den Leib verlassen, ohne getauft worden zu sein, werden lediglich die mildeste Form der Verdammung erfahren“.71

Augustinus’ Ansichten über das Schicksal der ungetauften Kinder sollten im Mittelalter die dominierende Auffassung sein. Papst Gregor der Große (ca. 540–604) machte sie sich beispielsweise vollständig zu eigen: „Es gibt einige, die aus dem gegenwärtigen Licht abgezogen werden“, erklärte er, „bevor sie den Zustand erreichen, in dem sie die guten oder schlechten Verdienste eines aktiven Lebens zeigen können. […] Denn selbst diejenigen erleiden eine ewige Qual, die aus eigenem Willen niemals gesündigt haben“.72 An Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109) erinnert man sich heute mehr im Zusammenhang mit seinem ontologischen Beweis der Existenz Gottes als wegen seiner Ansichten über das Schicksal ungetaufter Kinder. Dies ist vielleicht nicht verwunderlich, denn er vertrat die harte Position von Augustinus. Wie Augustinus unterschied Anselm zwischen persönlicher Sünde und natürlicher oder Erbsünde, zwischen der persönlichen Sünde, deren Adam sich schuldig gemacht hatte, und der Sünde, die – als Ergebnis dieser persönlichen Sünde – sein Wesen verdorben hatte. Diese Verderbnis war es, die natürliche oder Erbsünde, die er auf alle seine Nachkommen übertrug: „Die persönliche Sünde Adams überträgt sich auf alle, die auf natürliche Weise aus ihm hervorgehen; und in ihrem Fall ist es natürliche bzw. Erbsünde“.73 Wie Augustinus glaubte auch Anselm nicht, dass es alle Menschen verdienten, auf gleiche Weise in der Hölle Qualen zu erleiden. Die Sünden waren verschieden, und die Strafen sollten es entsprechend ebenfalls sein. Daher war die Sünde der Kinder geringer als diejenige Adams. Verdammt waren sie aber dennoch: „Wenn das, was ich als Erbsünde bezeichnet habe, eine Sünde ist, so ist es notwendig, dass jeder Mensch, der mit ihr geboren und dem sie nicht vergeben wurde, verdammt ist.“74

Es gab allerdings andere, die versuchten, die scheinbare Härte der Position des Augustinus abzumildern. Peter Abelard (1079–1142) glaubte zum Beispiel, dass die Gerechtigkeit Gottes, die darin zum Ausdruck kam, dass ungetaufte Kinder zum Höllenfeuer verdammt waren, zwar nicht geleugnet werden könne, dass sie jedoch durch die göttliche Güte ausgeglichen werden müsse. Daher differenzierte er Augustinus’ „mildeste aller Verurteilungen“, indem er die Bestrafung der Seele von derjenigen des Körpers unterschied und den gestorbenen Kindern nur die erste zuschrieb. Was diejenigen betraf, die lediglich mit der Erbsünde und keiner zusätzlichen persönlichen Schuld beladen waren, so erklärte er: „Ich glaube nicht, dass diese Bestrafung etwas anderes als das Erleiden der Finsternis ist, d.h. die fehlende Schau der göttlichen Majestät, ohne irgendeine Hoffnung darauf, sie noch zu erlangen“.75 Kurz gesagt: Diejenigen, die ungetauft gestorben waren, erlitten die psychologische Bestrafung des Verlusts der beseligenden Gottesschau, jedoch keine körperlichen Qualen. Dies war eine Unterscheidung, die Thomas von Aquin später in den Begriffen poena damni (Schmerz des Verlustes) im Unterschied zur poena sensus (körperlicher Schmerz) formalisierten sollte.

Diese Ansicht, dass verstorbene Kinder lediglich den Verlust der visio beatifica und keine körperlichen Qualen erlitten, wurde von Bonaventura vertreten. Ungetaufte Kinder, so glaubte er, existierten irgendwo zwischen den Seligen und denjenigen, die in den ewigen Feuern der Hölle gemartert wurden. Mit den Seligen teilten sie das Fehlen sämtlicher äußerer oder körperlicher Schmerzen. Mit den Verdammten teilten sie jedoch den Verlust der Gottesschau in der Finsternis, „und daher sind sie sowohl glücklich als auch traurig“.76 Wie diejenigen in der Vorhölle von Dante, so war auch ihre Trübsal tief, denn sie wussten genau, was sie verloren hatten.

Diesbezüglich stimmte Thomas von Aquin Bonaventura zu, dass diejenigen, die ungetauft gestorben waren, keine körperlichen Qualen erlitten, sondern lediglich den Verlust der Gottesschau. Doch war er anderer Meinung, wenn es um das Wesen ihres Schicksals ging. Wie tief, so fragte er sich, empfanden sie den Schmerz dieses Verlustes? Ursprünglich glaubte Thomas, sie seien nicht unglücklich. Denn obwohl sie wussten, was sie verloren hatten, trauerten sie nicht um etwas, von dem sie wussten, dass es jenseits dessen lag, was sie erreichen konnten. Kein weiser Mann, so schrieb er, „trauert darüber, dass er nicht wie ein Vogel fliegen kann oder dass er kein König oder Herrscher ist, weil ihm diese Dinge nicht zustehen“.77 In seinem späten Werk De malo (Über das Böse) korrigierte Thomas von Aquin seine Position ein wenig. Er bestritt nun, dass die Kinder von ihrem Verlust etwas wüssten, denn das übernatürliche Wissen von der beseligenden Gottesschau sei eine Folge des Glaubens, den sie, da sie nicht getauft waren, nicht hatten. Kurz gesagt bedauerten sie nicht nur nicht den Verlust desjenigen, von dem sie nichts wissen konnten,78 sondern sie erlebten darüber hinaus, so fuhr er fort, eine Art allgemeinen Glücks, weil sie auf natürliche Weise wussten, dass Seelen für das Glück bestimmt waren.

Jenseits

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