Читать книгу Ignatianische Schulpastoral - Philipp Görtz - Страница 11
1.1.1.2Umbau des sozialen Beziehungsgefüges
ОглавлениеBei der Entwicklungsaufgabe Umgang mit der Sexualität wurde deutlich, welche Rollen soziale Bindungen spielen und in welchem Maß gerade Eltern als Vertrauenspersonen zu Rate gezogen werden. Diese Beziehungen stehen in dem Maße, wie Kinder zu selbstständigeren und verantwortungsbewussteren Jugendlichen werden, vor einer Reorganisation, die bewältigt und gestaltet werden muss.
Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter: „Pubertät ist, wenn Eltern kompliziert werden!“, so lautet ein verbreiteter Schülerspruch, der das auf den Kopf stellt, was Eltern gegenüber ihren Kindern im Jugendalter empfinden. Was hier umgangssprachlich als Alltagsweisheit formuliert wird, deutet an, dass es bei der Entwicklungsaufgabe des Umbaus des sozialen Beziehungsgefüges nicht um einen einseitigen Prozess geht, sondern um ko-konstruktive Interaktionen im Rahmen interner Vorgaben und kultureller Kontexte.
Das Eltern-Kind-Verhältnis hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Die traditionelle „Kommandofamilie“, in der Kinder eine Art Altersvorsorge darstellten, die Autorität allein bei den Eltern lag und der Generationenkonflikt ein schier unausweichliches Phänomen war, wandelte sich im Zuge des Autoritätsverlustes der Eltern und einer emotionalen Intimisierung zur „Verhandlungsfamilie“. Was Jugendliche wollen und dürfen, wird oft individuell und demokratisch ausgehandelt, wobei beide Seiten, Eltern und Kinder, sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit Blick auf die strukturelle Situation, auf die legalen Verantwortlichkeiten, Ressourcen, Sanktionen und Rechte bleibt in der Familie oder zwischen Generationen dennoch ein asymmetrisches Verhältnis, welches auch in Aushandlungssituationen nicht ohne Konflikte abläuft. Wichtig ist, festzuhalten, dass Jugendliche vermehrt Eigenverantwortung für den Prozess ihres Selbstständigwerdens übernehmen und dass Eltern sie dabei begleiten, fördern und unterstützen.
Die hiesige Entwicklungsaufgabe zielt auf die Individuation der Heranwachsenden, bei der wachsende Selbstständigkeit und bleibende Verbundenheit mit der eigenen Herkunft Hand in Hand gehen. Wenn Jugendliche sich von ihren Eltern emanzipieren, beginnt ein Prozess von Interessenkonflikten9: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder; Jugendliche dagegen wollen mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheiten und mehr Rechte. Ausgehandelt werden diese Konflikte in einem familiären Diskurs, der von Elternseite nicht interesselos geführt wird und der aus individuell-persönlicher Sicht zumeist die optimale Entwicklung der Kinder zum Ziel hat. Aufgabe der Heranwachsenden ist es, Strategien zu entwickeln, um eigene Vorstellungen in diesen Diskurs einzubringen, sie durchzusetzen und umzusetzen. Dies gelingt ihnen umso besser, je mehr ihre Eltern das Gefühl haben, dass sich ihr Verhalten und die Ergebnisse, die sie damit erzielen, langfristig positiv auf ihre Entwicklung auswirken. Konfliktiv ist dieses Interaktionsgeschehen meist deswegen, weil ein großer Unterschied zwischen beiden Seiten besteht: Während Eltern ihre Lebenszufriedenheit davon abhängig machen, dass sie eine positive und emotional befriedigende Beziehung zu ihrem Kind haben, ist für Heranwachsende das Leben zusammen mit ihren Eltern alles andere als die Erfüllung ihres Lebensprojektes. Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet, sie streben nach neuen Bindungen, nach Beziehungen zum anderen Geschlecht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass, wenn Kinder in die Pubertät kommen, sie und ihre Eltern die gegenseitigen Erwartungen und ihren Kommunikationsstil so reorganisieren, dass Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen gewährleistet sind. Als „normalverlaufend“ kann man eine Eltern-Kind-Beziehung in der Adoleszenz dann bezeichnen, wenn Jugendliche ihre sozialen Aktivitäten auch nach außerhalb der Familie verlagern, wenn sie Selbstständigkeit und Selbstverantwortung gerade durch Konflikte hindurch erobern, wenn sie weniger emotional in die Familie investieren und die Beziehung zu den Eltern „zurückfahren“ und wenn Eltern mit der Zeit immer weniger Einfluss auf ihre Kinder ausüben.10
Pädagogisch betrachtet ist dieser Ablösungsprozess ein notwendiger Teil der Individuation von Heranwachsenden. Aufgabe der Eltern ist es, diesen als Neusynchronisierungsprozess zu erkennen und sich auf ihn einzulassen. Sie sind aufgefordert, den Weg ihrer Kinder mitzugehen, wenn diese in der Pubertät das Verhältnis von Nähe und Distanz, Autonomie und Abhängigkeit, Freiheiten und Pflichten neu ausbalancieren. Sie unterstützen ihre Kinder dabei, wenn sie (1) in der Familie bei aller Streitkultur auch für konfliktfreie Zonen sorgen, wenn sie (2) die eigene Kommunikations- und Verhandlungsfähigkeit sowie die ihrer Kinder fördern und gleichzeitig von ihrer Führungskompetenz Gebrauch machen, wenn sie (3) gemeinsam mit ihren Kindern (bildungsintensive) Freizeit gestalten, weniger sanktionierend als vielmehr argumentierend vorgehen, einen Mittelweg finden zwischen Überbehütung und Desinteresse, wenn sie (4) ihre Kinder über Zwischenstufen in die Unabhängigkeit entlassen, an der Lebenswelt ihrer Kinder interessiert sind und diese umgekehrt – zumindest partiell – auch an ihrer eigenen teilnehmen lassen und wenn sie (5) den Jugendlichen vermitteln, dass auch deren Stimme Gehör findet und von Bedeutung ist. Wenn Eltern sich dabei Mühe geben und ihnen dies ansatzweise gelingt, dürfen sie sich zusammen mit ihren Kindern noch einmal jung fühlen und die Individuation der Jugendlichen als eigene Entwicklungschance nutzen. Auf diese Weise wird Familie zu einem Ort, an dem Eltern und Kinder aneinander und miteinander lernen können, dass man für gelingende Beziehungen etwas tun und daran arbeiten muss und dass man keine Angst haben muss, alles würde zerbrechen, wenn dabei einmal etwas danebengeht.
Entwicklung von Freundschaften und Partnerbeziehungen: „Ein Freund ist ein Geschenk, das man sich selbst macht.“ Auch beim Umbau von Freundschaften in der Jugendzeit geht es um – nun allerdings symmetrische und kooperative – ko-konstruktive Prozesse. Freunde wollen gewonnen und Freundschaften müssen gepflegt werden. Freundschaften kommen nicht mehr – wie noch in der Kindheit – über Altersgleichheit oder nachbarschaftliche bzw. bekanntschaftliche Nähe zustande. Heranwachsende wählen sich ihre Freunde verstärkt anhand von vermuteten Ähnlichkeiten hinsichtlich der Interessen und Einstellungen aus. Peer-Beziehungen sind Lernfelder gegenseitiger Achtung und Normen, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, des Informationsaustausches, der Selbstinterpretation und der Identitätsfindung.
Interne Voraussetzung dafür, dass Freunde, Cliquen und Partnerschaften in der gesamten Jugendphase so wichtig werden, ist die Verschiebung der Libido; weg von den Eltern, hin zu Altersgleichen desselben Geschlechts und schließlich zu einem andersgeschlechtlichen Partner. Bestimmende Kontexte sind vor allem die Schulen und innerhalb derer die Schulklassen; diese bilden ein weites Kontaktfeld, das Jugendlichen erlaubt, sich in sozialen Beziehungen auszuprobieren – ausgedehnte Medien- und Freizeitangebote sowie die gestiegene Mobilität wirken verstärkend.
Die Entwicklungsaufgabe bezüglich des Umbaus sozialer Beziehungen im Hinblick auf Freundschaften und Partnerschaft lässt sich folgendermaßen beschreiben: Heranwachsende müssen lernen, Beziehungen zu Altersgleichen11 aufzubauen und aufrechtzuerhalten sowie diese gegebenenfalls auch wieder aufzugeben, um sich emotional wohl und nicht einsam zu fühlen. Dabei wird von ihnen gefordert, dass sie sich einüben, einander zu respektieren und die Perspektive anderer zu übernehmen, Interessen auszuhandeln und Meinungen auszutauschen. Sie müssen sich in gewissem Sinne von ihren Eltern ablösen und gleichzeitig das neu errungene Verhältnis von Eigenständigkeit und Gemeinschaftlichkeit immer wieder austarieren. In Beziehungen zu Gleichaltrigen haben sie zum Aufbau der eigenen Identität die Chance, provisorisch verschiedene Rollen auszuprobieren und sich die Fähigkeit anzueignen, soziale Beziehungen zu gestalten, in denen es um Bindung, Verantwortlichkeit, Fairness und Intimität12 geht. Diese Chancen müssen sie aktiv ergreifen und nutzen. Schließlich soll in diesem Lernfeld prosoziales Verhalten eingeübt und praktiziert werden, was sich wiederum positiv auf die Akzeptanz durch andere bzw. auf das Selbstwertgefühl auswirkt und eigenes Dominanzverhalten konstruktiv reguliert.
Bei alledem dürfen aber nicht die risikoreichen bzw. devianten Verhaltensweisen übersehen werden. So demonstrieren Meinungsführer – besonders wenn sie unbeliebt, sozial uninteressiert und aggressiv sind – häufiger Distanz zur Schule und allgemeine Disziplinlosigkeit, sie neigen eher zum Rauchen sowie zum Alkoholkonsum und haben eine tendenziell stärker belastete Beziehung zu ihren Eltern. Ebenfalls nicht zu vernachlässigen sind Phänomene sozialen Ausschlusses vor allem im Kontext der Schule. So gelten Schüler als randständig, die in der Klasse kaum auffallen, die ohne Freunde sind und zu keiner Clique gehören.13 Ihr Verhalten ist zumeist ambivalent: Auf der einen Seite sind sie schüchterner, fühlen sie sich wenig akzeptiert und es gelingt ihnen nicht, prosozial zu agieren, auf der anderen Seite sind sie eher „brav“ und angepasst. Problematisch wird dies für die Entwicklung von Jugendlichen dann, wenn sie auch außerhalb der Schule nicht integriert sind, dies wirkt sich langfristig negativ auf das Selbstbewusstsein aus.14
Jugendliche in Beziehungsstrukturen zwischen Eltern und Freunden: Wenn Jugendliche in ihrer Entwicklung vor der Aufgabe stehen, ihre sozialen Beziehungen einerseits zu den Eltern, andererseits zu den Freunden zu reorganisieren, lässt sich dies mit Hilfe von Gegensatzpaaren beschreiben: Ablösung–Aufbau, asymmetrisch–symmetrisch, gegeben–aufgegeben. Nicht mehr haltbar ist die These, dass Peers einen vornehmlich negativen Einfluss haben und in Konkurrenz zu den Eltern treten. Es scheint vielmehr so zu sein, dass je nach Art der Erfahrungen emotionaler Einbindung, die Kinder zu Hause machen, diese sich entsprechend auf die Beziehungsgestaltung zu Gleichaltrigen auswirken. Jugendliche lassen sich vier idealtypischen Beziehungskonfigurationen zuordnen:
– Sie sind in beiden Kontexten gut integriert. Konsequenz: Selbstbewusstsein, Sozialverhalten und Leistungsbereitschaft, positive Prognose.
– Sie sind überhaupt nicht integriert. Konsequenz: Mangelnde Beziehungs- und Integrationsfähigkeit, somatische Auffälligkeiten und Schulängste.
– Freundschaften kompensieren belastete Beziehung zu den Eltern. Konsequenz: Alterstypisches Risikoverhalten, um Prestige zu gewinnen, Distanzierung gegenüber schulischen Erwartungen.
– Außerhalb des Schutzraumes der Familie gelingt nur wenig Kontaktaufnahme. Konsequenz: Schulisch und gesellschaftlich angepasst, deutlich reduziertes Selbstwertgefühl, Neigung zu Depressionen.
Abschließend seien einige pädagogische Interventionsmöglichkeiten genannt, die Jugendlichen helfen können, ihre Beziehungen positiver zu gestalten. Aggressive Heranwachsende sollen lernen, keine vorschnellen und falschen Schlüsse zu ziehen, wenn sie sich angegriffen fühlen, sondern überlegen und problematische Situationen verstehen lernen. Bei Impulsivität gehört das Time-out zu den wichtigsten Strategien, um Gefühle zunächst zurückzuhalten, sie in Ruhe zu interpretieren und dann nach geeigneten Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Soziales, verantwortungsbewusstes und vertrauenswürdiges Verhalten, das sich beziehungsfördernd auswirkt, lernen Jugendliche am besten durch gutes beispielhaftes Vorleben. Ebenso können Jugendliche lernen, wie sie sich bei Kontaktaufnahme positiv einbringen und wie sie sich in Gruppen sinnvoll bewegen und klug verhalten. Auch bei dieser Aufzählung wird deutlich, welch wichtige Rolle beim Einüben und Erproben dieser Fähigkeiten Eltern spielen, an denen Jugendliche modellhaft lernen können, und was eine Familie mit Geschwistern ausmacht, die hierbei gleichsam als „Trainingslager“ fungiert.