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Wir haben ein Krankheitssystem

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Wenn wir ehrlich sind, haben wir gegenwärtig kein Gesundheitssystem, sondern ein Krankheitssystem. Der Versicherungsfall tritt in der Regel erst ein, wenn Symptome auftreten und eine Erkrankung besteht. Die Symptome werden dann behandelt, meist chronisch.

In der Regel ist es so, dass plötzlich – wie im Prolog beschrieben – ein Messwert, den der Arzt routinemäßig feststellt, nicht mehr im Normalbereich liegt, und das mehrmals. Zum Beispiel wird ein erhöhter Blutdruck gemessen oder die Cholesterinwerte sind erhöht oder der Blutzucker. Gespürt hat der Patient bisher nichts, hat sich eigentlich kerngesund gefühlt und nun das. Er würde sich ja noch immer gesund fühlen, wenn ihm der Arzt nicht sagen würde, er sei jetzt ein Patient.

Es kann aber auch sein, dass Sie aus völliger Gesundheit heraus plötzlich Symptome bei sich bemerken oder erste Beschwerden haben, zum Beispiel plötzliche Herzschmerzen bei Belastung. Oder Sie merken, Sie bekommen nicht mehr so gut Luft, zum Beispiel im Frühjahr beim Pollenflug oder in der Kälte. Oder das Joggen oder sogar das Treppensteigen gehen nicht mehr so richtig und Sie müssen immer öfter langsam machen oder eine Pause einlegen. Oder die Schulter, die Hüfte oder das Knie tun immer häufiger weh.

Und wie lautet dann die Diagnose? Meist genauso wie die Symptome: Der Blutdruck ist erhöht, also lautet die Diagnose Bluthochdruck oder – auf Latein, aber nicht genauer – primäre Hypertonie; ist das Cholesterin erhöht, lautet die Diagnose Hypercholesterinämie, was nichts anderes bedeutet, als dass das Cholesterin im Blut erhöht ist, nur auf Latein. Oder Sie kommen schnell außer Atem, weil ihr Herz schwächer ist; dann lautet die Diagnose Herzinsuffizienz, was nichts anderes bedeutet, als dass Ihr Herz nicht mehr gut funktioniert. Oder Sie bekommen sogar im Ruhezustand schlecht Luft, weil die Atemwege verengt sind; dann kann die Diagnose Asthma bronchiale lauten, was nichts anderes bedeutet, als dass die Bronchien verengt sind und Sie schlechter Luft bekommen – aber das wussten Sie ja schon.

Ich nehme gern das Auto als bildhaften Vergleich. Das liegt ein bisschen daran, dass wir Deutschen – vor allem wir Männer – uns so liebevoll um unser Auto kümmern, es öfter zur Wartung bringen und pflegen als uns selbst – aber uns so gut wie nie zum „Check-up Mann“ bringen, wie das mein Kollege Christoph Pies in seinem sehr empfehlenswerten Buch nennt. Stellen Sie sich also vor, Sie gehen mit Ihrem Auto in die Werkstatt, weil schon zum dritten Mal in den vergangenen Monaten die Scheinwerfer ausgefallen sind. Nach einer eingehenden Inspektion des Autos diagnostiziert der Werkstattmeister einen chronischen Scheinwerferdefekt. Da würden Sie doch verblüfft gucken und nachbohren, ob die Diagnose nicht ein wenig genauer gestellt werden könnte, denn dass die Scheinwerfer ständig kaputtgingen, wüssten Sie ja schon selbst. Dazu bräuchten Sie nicht in die Werkstatt zu kommen. Was Sie interessiert, ist, warum das ständig passiert, was dahintersteckt und was Sie machen können, damit das nicht mehr passiert. Die eigentliche Ursache für defekte Scheinwerfer könnte ja, wenn sie auf Dauer unentdeckt bleibt, vielleicht noch weit größere Schäden anrichten: Sie bleiben irgendwann mit dem Auto auf der Autobahn liegen, weil vielleicht die ganze Elektrik ausgefallen ist, die Lichtmaschine einen Schaden hat oder die Batterie zu alt war. Jedenfalls würden sie doch als Autobesitzer nicht lockerlassen und wenn die Werkstatt bei ihrer lapidaren Diagnose bleibt, würden Sie wohl recht bald die Werkstatt wechseln und Ihren Bekannten davon erzählen: „Also da kann man nicht mehr hingehen. Die haben keine Ahnung. Was die können, kann ich auch. Dafür braucht man keine Werkstatt.“

Tja, aber bei uns selbst, bei unserem eigenen Körper akzeptieren wir, dass wir die Ursache nicht genannt bekommen beziehungsweise das körperliche Symptom zur Krankheitsdiagnose wird. Daher kann auch nur das Symptom behandelt werden. Und da die Ursache nicht behandelt wird, treten die Symptome immer wieder auf und müssen immer wieder behandelt werden. Auf diese Weise bekommen wir eine chronische Erkrankung. Zu diesen zählen zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und chronische Lungenerkrankungen. Allein auf diese drei Krankheitsgruppen entfallen drei Viertel aller Todesfälle und rund ein Viertel aller Krankheitskosten. Hinzu kommen noch chronische Erkrankungen der Muskulatur, Knochen und Gelenke sowie der Psyche, Sehstörungen oder Hörprobleme. Und jeder zehnte Deutsche ist inzwischen Diabetiker!

Jetzt könnten Sie sich sagen, dass Ihr Blutdruckmittel Ihren Blutdruck doch senkt, falls Sie es regelmäßig einnehmen – das tut übrigens nur ein Fünftel aller Blutdruckpatienten. Aber was genau passiert da, wenn Sie es einnehmen? Ihr Blutdruckmittel kann im Wesentlichen auf zwei Arten wirken. Es kann dazu führen, dass sich Ihre Blutgefäße erweitern, wodurch – Überraschung, Überraschung! – Ihr Blutdruck sinkt, ähnlich, wie in einem Gartenschlauch der Druck sinkt, wenn der Durchmesser des Schlauchs größer wird. Eine andere Art von Blutdruckmitteln führt dazu, dass Ihr Herz langsamer schlägt. So wird weniger Blut in die Blutgefäße gepumpt und auch so sinkt der Blutdruck – in etwa so, als würde man den Hahn, an dem der Gartenschlauch angeschlossen ist, etwas zudrehen.

Warum reicht das aber nicht aus? Bleiben wir beim Beispiel des Gartenschlauchs außen am Haus. Der Gartenschlauch selbst wird nicht das Problem sein. Vielleicht ist aber zum Beispiel die Wasserpumpe in Ihrem Haus defekt und dadurch der Druck im ganzen Haus viel zu hoch. Doch diese mögliche Ursache kennen Sie nicht und so wird am Gartenschlauch das Symptom behandelt, bis irgendwann eine Wasserleitung im Haus platzt, das Haus überflutet ist und ein riesiger, vielleicht irreparabler Wasserschaden entstanden ist.

Genauso bei Ihrem Blutdruck. Warum bei Ihnen der Blutdruck gestiegen ist und ob Ihr Blutdruckanstieg die gleiche Ursache hat wie bei anderen Patienten, bleibt in den meisten Fällen im Unklaren; bei hohem Blutdruck gilt das für 95 Prozent aller Patienten. Als Bluthochdruckpatient kommen Sie ab sofort regelmäßig in die Arztpraxis, bekommen Ihr Rezept, irgendwann sehen Sie schon gar nicht mehr den Arzt, sondern rufen nur noch die Sprechstundenhilfe an, dass Sie wieder ein neues Rezept brauchen, und so weiter … Trotzdem alles gut? Nein. Ob es Alternativen zu Arzneimitteln gab und ob Sie von diesen Blutdruckmitteln wirklich einen Vorteil haben werden, wird für Sie unbeantwortet bleiben, bis das Gleiche wie mit der Hauswasserleitung passiert. Es kommt zu einem schweren Schaden. Im Fall von Bluthochdruck können dies zum Beispiel ein plötzlicher Herztod oder eine Hirnblutung sein. Nur die wenigsten dieser Komplikationen werden durch Blutdrucksenker verhindert. Dazu kommen wir aber noch später.

Genauso ist es beim Cholesterin. Ihr entsprechender Wert im Blut sinkt, weil Sie einen der sogenannten Cholesterinsenker einnehmen. Sie wirken vor allem in der Leber und führen dazu, dass Cholesterin aus dem Blut transportiert wird. Der Cholesterinwert im Blut sinkt. Alles gut? Nein. Warum er gestiegen war, ob es Alternativen zur Arzneimittelbehandlung gab und ob Sie von diesen Cholesterinsenkern wirklich einen Vorteil haben werden, wird zeitlebens für Sie unbeantwortet bleiben, bis Sie, wie bei den Blutdrucksenkern im obigen Beispiel, doch irgendwann einen Herzinfarkt oder Schlaganfall haben – denn nur die wenigsten der Herzinfarkte und Schlaganfälle werden durch Cholesterinsenker verhindert.

Und genauso lässt sich dies für Herzschwäche und Asthma weiterführen. Bei Herzschwäche oder Herzinsuffizienz sind etwa die Hälfte aller Formen noch nicht einmal symptomatisch behandelbar und jeder zehnte Patient stirbt innerhalb von zwei Jahren. Das ist eine schlechtere Prognose als bei vielen Krebserkrankungen.

Als Asthmatiker nehmen Sie Arzneimittel ein, die entweder die Atemwege (wieder ähnlich wie bei dem Gartenschlauch-Beispiel und Bluthochdruck) erweitern, oder solche, die antientzündlich wirken. Warum aber Ihre Atemwege sich verengt haben oder warum sie entzündet waren, bleibt in den meisten Fällen unbeantwortet. Die Symptome sind beseitigt; mehr ist nicht möglich. Beim Asthmatiker lässt sich immerhin sagen, dass die Lebenserwartung bei angemessener Behandlung derjenigen eines Gesunden entspricht und auch die Lebensqualität muss keineswegs eingeschränkt sein. Dennoch: Die Ursache bleibt unerkannt und unbehandelt.

Medizin und unser Gesundheitssystem sind also im Wesentlichen auf Krankheit ausgerichtet, kennen die Ursachen der Erkrankungen nicht und behandeln Patienten symptomatisch, um so zu versuchen, ernstere Konsequenzen zu verhindern – und das chronisch, da eine Heilung auf die Weise nicht erzielbar ist. So werden bereits zehn Prozent aller 18- bis 29-Jährigen als chronisch krank eingestuft; ab 30 schon jeder Fünfte; ab 60 über ein Drittel und ab 70 jeder Zweite. Dass Krankheiten mit dem Alter zunehmen, mag noch zu erwarten sein – doch warum sind so viele Erkrankungen chronisch?

Geheilt statt behandelt

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