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KAPITEL 2 IHR ARZNEIMITTEL WIRKT (WAHRSCHEINLICH) NICHT

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Klarer Fall: Wenn Sie ein Medikament verschrieben bekommen und es einnehmen, tun Sie das in der Hoffnung, dass es wirkt. Warum sollten Sie es sonst nehmen? Aber leider ist diese Hoffnung in viel zu vielen Fällen trügerisch. Denn jeden Tag nehmen Millionen von Menschen Medikamente ein, die ihnen nicht helfen werden.

Wie ich darauf komme? Nun, alle klinischen Studien zu den zehn in den USA im Jahr 2015 meistverkauften Medikamenten belegen, dass diese nur einem von vier oder gar nur einem von 25 Patienten, die sie einnehmen, helfen. Das heißt im Umkehrschluss: Drei von vier beziehungsweise 24 von 25 Patienten haben keinerlei Vorteil von dem Medikament!

Bei einigen Medikamenten, wie zum Beispiel den im vorigen Kapitel schon erwähnten, routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzten Cholesterinsenkern, den sogenannten Statinen, profitiert sogar nur einer von 50 Patienten.2 Es gibt überdies Medikamente, die aufgrund der Tatsache, dass die meisten Studien an weißen westlichen Patienten getestet werden, für bestimmte ethnische Gruppen schädlich sind. Ein Beispiel sind lang wirksame Arzneimittel, die die Atemwege erweitern, die bei Afroamerikanern zu lebensgefährlichen Nebenwirkungen und Todesfällen führen können.3


Abb. 3: Von den hier beispielhaft gezeigten Arzneimitteln, die 2015 den höchsten Umsatz hatten, haben nur die schwarz dargestellten Patienten einen Vorteil. Die weiß dargestellten bekommen diese Arzneimittel zwar auch nach allen Therapierichtlinien verschrieben, wir wissen aber von allen klinischen Studien, dass sie keinen Vorteil von ihnen haben werden, sondern im ungünstigen Fall sogar nur die unerwünschten Nebenwirkungen erleiden. Dies sind keine Sonderfälle, sondern es ist eher die Regel und lässt sich prinzipiell auf fast alle Arzneimittel übertragen. Es gibt gegenwärtig kaum Möglichkeiten, die beiden Patientengruppen vor Therapiebeginn zu differenzieren.1

Ein Grund für diesen Mangel an Präzision in der Arzneimitteltherapie ist wieder der Unterschied zwischen Symptom und Ursache. In den meisten Zulassungsstudien für Arzneimittel wird eine Handvoll Messungen an wenigen Tausend Patienten durchgeführt. Wichtig ist dann nicht, ob jeder Patient einen Vorteil hatte, sondern lediglich, ob bei einem Vergleich der behandelten und der unbehandelten Gruppe ein statistisch signifikanter Vorteil zu messen war. Die meisten Medikamente sind allerdings nur bei einer kleinen Fraktion der Patienten wirksam. Um diese erreichen zu können, setzen wir die andere, viel größere Fraktion unnötigerweise Nebenwirkungen aus, ohne dass ein Nutzen damit verbunden ist. Tabelle 1 zeigt als Beispiel sechs klinische Arzneimittelstudien, die als Meilensteine der Herz-Kreislauf-Medizin gelten und aufgrund deren neue Medikamente wie der Cholesterinsenker Simvastatin, das Blutdruckmittel Ramipril und – vereinfacht ausgedrückt – Blutverdünner wie Aspirin, verschiedene Thrombolytika, Abciximab und Clopidogrel in wichtige therapeutische Leitlinien aufgenommen wurden.

Es wird Sie überraschen, dass diese Arzneistoffe trotzdem, obwohl nur 1,9 bis 9 Prozent der Patienten einen Vorteil von ihrer Medikation hatten und dementsprechend 91 bis 98,1 Prozent keinen Vorteil beziehungsweise lediglich ein Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen, in alle wesentlichen Leitlinien zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgenommen wurden. Sie könnten sich sagen: Das sind doch schlechte Ergebnisse und deswegen hätten diese Arzneimittel gar nicht zugelassen werden oder auf den Markt kommen dürfen. Leider sind dies aber im Vergleich zu vielen anderen Arzneistoffen und deren Präzision sogar noch recht gute Daten! Besser geht es im Moment nicht und unbehandelt kann man diese Patienten auch nicht lassen, sonst würden wir ja noch nicht einmal die 1,9 bis 9 Prozent der Patienten schützen, bei denen das Arzneimittel helfen kann, oft lebensrettend. Das ist eben der Nachteil, wenn man Symptome behandelt (Cholesterol, Blutdruck), aber eigentlich patientenrelevantere Ziele verfolgen sollte (nämlich, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Tod zu verhindern).

Tab. 1: Arzneimitteltherapien, die aufgrund einer klinischen Studie in der angegebenen Indikation als ausreichend wirksam beurteilt wurden, und, im Vergleich dazu, der Prozentsatz der Patienten, die von dieser Behandlung einen oder keinen Vorteil hatten.4

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, denn wirklich übertragbar auf Sie als Patient sind diese Erfolgsraten dann wahrscheinlich doch leider nicht. In derartigen Studien werden nämlich die teilnehmenden Patienten handverlesen, damit die Studie auch ja positiv wird; mit Ihnen haben diese Patienten möglicherweise wenig zu tun – zum Beispiel eher mittleres Alter, sonst keine weiteren Beschwerden und so weiter. Außerdem werden Patienten in Studien sehr genau daraufhin überwacht, ob sie ihre Arzneimittel auch regelmäßig und in der richtigen Menge eingenommen haben. In der Realität ist das ja leider anders. Schon mir fällt es schwer, wenn ich mal ein Antibiotikum für ein paar Tage einnehmen muss, mich jeden Morgen und Abend daran zu erinnern. Gerade ältere Patienten bekommen aber in der Realität oft vier und mehr Medikamente aufgeschrieben. Da vergisst man mal leicht eines oder die Gewissenhaftigkeit (die sogenannte Compliance) lässt nach und das Medikament wird über weite Strecken gar nicht mehr oder doppelt eingenommen.

Ein typisches Beispiel für schlechte Patienten-Compliance sind die zur Blutdrucksenkung eingesetzten Betablocker. Eine ihrer Nebenwirkungen ist, dass sie paradoxerweise die Blutgefäße an Händen, Füßen, aber bei Männern auch im Penis verengen. Eine Konsequenz sind daher Potenzprobleme, weswegen die Patienten dann gern einmal oder auch längere Zeit den Betablocker weggelassen. Kurz vor dem nächsten Arztbesuch werden sie natürlich wieder eingenommen. Der Blutdruck ist dann normal und alle sind zufrieden. Jetzt könnten Sie denken: Egal, die Chance, dass der Betablocker dem Patienten hilft, ist doch nach meinen Erläuterungen ohnehin klein. Sie ist klein, das stimmt, aber dieser Patient könnte genau der eine „Glückliche“ sein, dem der Betablocker das Leben rettet, und an all den Tagen, an denen er ihn nicht eingenommen hat, entfällt diese – wenn auch kleine – Chance, dass der Betablocker einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert (siehe die folgende Seite zur Number Needed to Treat).

Zum anderen werden in großen Studien, bei denen es, nachdem viele Millionen Euro in die Entwicklung investiert wurden, letztlich um die Zulassung geht, die Patientengruppen so zusammengestellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Effekts möglichst hoch ist. Das kann heißen, Patienten mit hohem Risiko oder schweren Symptomen auszuwählen, nicht zu alt, aber auch nicht zu jung und mit möglichst wenigen zusätzlichen Erkrankungen. Nach der Zulassung in der alltäglichen ärztlichen Praxis werden dann natürlich auch Patienten mit leichteren Symptomen oder niedrigerem Risiko, auch ältere Patienten als in der Studie und auch solche mit weiteren Erkrankungen behandelt. Dies hat dann bei solchen sogenannten „Real World“-Patienten zur Konsequenz, dass die Wirkung noch geringer beziehungsweise die Nebenwirkungen stärker sind als in der ursprünglichen Zulassungsstudie. Bei einigen Medikamenten wie Statinen, die routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzt werden, kann es dann sein, dass unter den normalen Patienten nur noch einer von 50 davon profitiert; bei Bluthochdruckmitteln nur noch einer von 100. Zur Erinnerung: Dies bedeutet für 49 beziehungsweise 99 Patienten, dass es für sie in dem Beispiel keinen Unterschied macht, ob sie ihre Arzneimittel nehmen oder nicht, sie werden keinen Vorteil haben, eher Nachteile.

Da wir gegenwärtig in der Medizin keine Möglichkeit haben, diese beiden Patientengruppen – die, die einen Vorteil haben, und die vielen anderen, die keinen Vorteil haben werden – auseinanderzuhalten und daher alle therapieren müssen, sollten Sie all diese Beispiele gegenwärtig bitte nicht (!) zum Anlass nehmen, auch nur eines Ihrer Medikamente abzusetzen. Sie wissen ja nicht, zu welcher Gruppe Sie gehören; vielleicht genau zu der, denen das Medikament das Leben rettet, das heißt zum Beispiel einen schweren Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert. Wir wissen es einfach nicht und Ihr Arzt auch nicht. Es ist also nicht ein Fehler Ihres Arztes, Ihnen dieses Medikament zu verschreiben. Es gibt gegenwärtig keine bessere Alternative. Es ist wahrscheinlich noch nicht einmal ein Fehler Ihres Arztes, Sie nicht über die mangelnde Präzision Ihres Arzneimittels und die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Sie davon profitieren werden, aufzuklären. Würde er das bei allen Patienten machen, würde wahrscheinlich bald gar kein Patient mehr seine Medikation nehmen, auch diejenigen, deren Leben er damit hätte retten können. Wenn die möglichen Nebenwirkungen also nicht allzu ernst sind, nimmt man dieses Risiko eben in Kauf. Man muss es in Kauf nehmen.

Sie könnten sich jetzt denken, dass das ja fast nach einem Skandal klingt. Habe ich mir hier als Autor ein paar extreme Arzneimittelbeispiele herausgesucht, um zu dramatisieren und meinen Punkt zu machen? Wirken viele der anderen Arzneimittel nicht doch bei den meisten Patienten? Nein, lassen Sie uns dazu noch etwas tiefer in die Zahlen eintauchen (nicht zu tief, keine Angst, ich bin kein Freund von Mathematik, aber es ist wichtig und erhellend), und zwar in den Begriff der „Number Needed to Treat“ …

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