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KAPITEL 4 CHRONISCH KRANK HEISST SYSTEMVERSAGEN

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Betreiben wir ein bisschen Ursachenforschung, woher die vielen chronischen Krankheiten kommen und warum uns durch sie – neben all den anderen Problemen, Risiken und Beeinträchtigungen, die damit verbunden sind –, wie bereits jetzt in den USA und Großbritannien zu beobachten, auch in Deutschland eine Verkürzung der Lebenserwartung droht.

80 Prozent der Kosten aller chronischen Erkrankungen werden durch eine relativ überschaubare Gruppe von 15 Symptomen und Beschwerden verursacht:1

1.Depression

2.Rückenschmerzen

3.Arthritis

4.Übergewicht bis Fettleibigkeit

5.Diabetes

6.Erhöhtes Cholesterol

7.Bluthochdruck

8.Koronare Herzkrankheit oder Erkrankung der Herzkranzgefäße, Angina Pectoris

9.Herzinsuffizienz, Herzschwäche

10.Allergien

11.Asthma

12.Sinusitis, Nasennebenhöhlenentzündung

13.Chronisch verengende Lungenerkrankung (COPD)

14.Nierenerkrankungen

15.Krebs

Sie stellen das „täglich Brot“ eines jeden Hausarztes dar. Wie schon gesagt: Da wir die genauen molekularen Ursachen nicht kennen, das heißt, weil wir nicht wissen, welche Moleküle, Hormone und Signalwege genau fehlreguliert sind, können wir mit Arzneimitteln nur an den Symptomen herumdoktern. Wir hoffen, damit zum Beispiel bei Diabetes, erhöhtem Cholesterol, Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit oder Herzschwäche die lebensbedrohlichen Langzeitkonsequenzen Herzinfarkt und Schlaganfall zu verhindern.

Wir wissen aber auch, dass diese Erkrankungen nicht ausschließlich genetisch bedingt, also fast schicksalhaft sind. Alle werden durch weitere beeinflussbare oder sogenannte Lebensstilfaktoren beeinflusst oder eventuell erst getriggert. Verschiedene Menschen tragen also unterschiedliche, wahrscheinlich genetisch oder epigenetisch (dazu später mehr) definierte Risiken in sich, deren Ausbruch sie beeinflussen können.

Es kann natürlich sein, dass Sie so günstige Gene in sich tragen, dass Sie auch beim schlechtesten Lebensstil 100 Jahre alt werden. Und solche Beispiele kennen wir. Helmut Schmidt zum Beispiel rauchte nicht nur Zigaretten, sondern sogar inzwischen verbotene Mentholzigaretten. Er ist mir zumindest nicht als sonderlich sportlich in Erinnerung, wurde aber fast 100 Jahre alt. Sehr alt zu werden ist daher nicht zwingend die Folge einer gesunden Lebensweise. Weder ernähren sich hochbetagte Menschen gesünder noch treiben sie mehr Sport. Auch Nikotin oder Alkohol genießen sie genauso häufig. Dennoch sind solche Lebensgewohnheiten für die meisten von uns keine gute Wahl.

Das Problem ist im Moment: Wir kennen die „Langlebig-trotzungesundem-Lebensstil-Gene“ leider noch nicht. Es ist wie bei der Wirksamkeit der Arzneimittel. Wir haben im Moment keine Chance, den Menschen herauszufiltern, dem wir sagen können: „Sie können (fast) machen, was Sie wollen, Sie werden auch so 100 Jahre alt.“

Das Gleiche gilt aber auch umgekehrt. Es gibt auch die Hochrisikomenschen, die man von Jugend an monitoren und coachen und auf deren Lebensstil man streng achten müsste, damit sie eine normale Lebenserwartung genießen können. Ein Hinweis können im Moment ernste Erkrankungen aus der obigen 15er-Gruppe bei Eltern oder Geschwistern sein. Solche Angaben werden auch benutzt, um Risiken für zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen abzuschätzen, aber dies sind, wenn man ehrlich ist, gegenwärtig alles sehr vage und sehr unpräzise individuelle Voraussagen.

Unbestritten ist jedoch, dass acht Risiken beziehungsweise Formen von Fehlverhalten als wesentliche Auslöser chronischer Erkrankungen gelten.2 Würden alle diese Risiken vermieden, könnten 80 Prozent der Kosten im Gesundheitssystem für chronische Erkrankungen eingespart werden. Von diesen acht sind sieben selbst zu beeinflussende Fehlverhalten (siehe Abbildung 8):

1.Unzureichender Schlaf

2.Zu viel Stress beziehungsweise mangelnde Fähigkeit, Stress zu vermeiden oder damit umzugehen

3.Zu wenig körperliche Fitness

(Ausdauer, Muskulatur und Beweglichkeit)

4.Ungesunde Ernährung (zu viel Kalorien, zu wenig pflanzliche Nahrung, zu viel rotes Fleisch, zu viel Zucker)

5.Übermäßiger Alkoholkonsum

6.Rauchen

7.Nichtnutzung medizinischer Angebote und Vorsorgeeinrichtungen

Lediglich das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein medizinischer Angebote und Vorsorgeeinrichtungen steht außerhalb dessen, was Sie persönlich beeinflussen können. In einigen Ländern können zwei weitere Faktoren hinzukommen, nämlich mangelnde medizinische Versorgung (das sollte in Europa nirgends der Fall sein), aber auch mangelnde Vorsorge und Früherkennung oder mangelnde Nutzung solcher Angebote. Letzteres betrifft in Industrieländern, auch in Deutschland, vor allem Männer, die Vorsorgemuffel sind und derartige Screenings unterproportional nutzen.3

Durch präventive Lebensstilveränderungen, das heißt die Vermeidung der sechs beeinflussbaren Fehlverhalten plus die Wahrnehmung von Vorsorgeangeboten, kann das Ausbrechen der 15 genannten chronischen Erkrankungen verhindert oder zumindest die Stärke der Ausbildung von Symptomen oder ihr Schweregrad beziehungsweise der gesamte Verlauf gemildert werden.4

Abb. 8: 80 Prozent der Kosten der wichtigsten 15 chronischen Erkrankungen weltweit lassen sich durch Vermeiden von sieben Fehlverhalten (oben und rechts) und das Vorhandensein und die Nutzung medizinischer Angebote und Vorsorgemöglichkeiten (unten links) verhindern.

Im Umkehrschluss ist das Vorkommen dieser durch Lebensstil beeinflussbaren chronischen Erkrankungen somit ein wichtiges Maß für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung und spiegelt das Vorhandensein und die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen wider. Konsequent umgesetzt lässt sich so mit relativ wenig finanziellem Aufwand ein großer Zugewinn an Lebenserwartung und Lebensqualität erzielen.

Spät dran zu sein mit einer Lebensstiländerung, nämlich erst bei der Diagnose einer Erkrankung oder erst dann, wenn Symptome aufgetreten sind – so wie es bei vielen wohl ist (Mein Blutdruck ist hoch, ich müsste …; Ich muss dringend abnehmen …; Meine Bronchitis wird langsam chronisch, ich muss mit dem Rauchen aufhören …) –, bedeutet auch, dass zu diesem Zeitpunkt echte Prävention nicht mehr möglich ist. Sinnvoll sind die Lebensstilveränderungen aber dann meist immer noch. Besser spät als nie.

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