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Mann = Minus 5
ОглавлениеNeben Bildung ist auch allein das Geschlecht ein Risikofaktor. Die Gesundheit und Lebenserwartung von Jungen und Männern ist wesentlich schlechter als bei Mädchen und Frauen.7 Diese geschlechtsspezifische Ungleichheit hat sich jedoch in der Gesundheitspolitik kaum niedergeschlagen und wird, auch von sogenannten Gender-Wissenschaftlern, fast als gegeben bis hin zu selbstverschuldet (riskantes Verhalten) akzeptiert. Die Global Burden of Disease Study 2010 zur globalen Krankheitslast zeigte, dass Frauen im Zeitraum von 1970 bis 2010 eine längere Lebenserwartung hatten als Männer. In diesem Zeitraum stieg die Lebenserwartung von Frauen bei der Geburt von 61,2 auf 73,3 Jahre, während die der Männer von 56,4 auf 67,5 Jahre stieg.8 Diese Zahlen zeigen, dass sich die Kluft in der Lebenserwartung zum Nachteil der Männer von 4,8 auf 5,8 Lebensjahre vergrößert hat. Osteuropa zeigt den größten Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen: 11,6 Jahre.9
Wie lässt sich diese Kluft zwischen den Geschlechtern erklären? In vielen Gesellschaften genießen Männer im Allgemeinen mehr Möglichkeiten, Privilegien und Macht als Frauen, doch diese vermeintlichen Vorteile führen nicht zu besserer Gesundheit. Als Erklärungen werden angeführt:
•Gefährlichere Berufe: ein höheres Maß an beruflicher Exposition gegenüber physischen und chemischen Gefahren. Im Jahr 2010 starben fast achtmal mehr Männer aus berufsbedingten Gründen als Frauen. In Europa ereignen sich 95 Prozent der tödlichen Unfälle und 76 Prozent der nicht tödlichen Unfälle am Arbeitsplatz bei Männern.10 In Berufen mit dem höchsten Risiko tödlicher Arbeitsunfälle – wie im Bergbau, in Landwirtschaft und Fischerei, beim Militär, bei der Brandbekämpfung und bei der Arbeit auf Baustellen – sind weit mehr Männer als Frauen beschäftigt11 mit wenig Bestreben nach der Einführung einer „Frauenquote“.
•Weniger Vorsorge/Früherkennung: Bei allen angebotenen Früherkennungsuntersuchungen wie dem allgemeinen Checkup ab 35 Jahren oder dem Hautkrebs-Screening sowie den Untersuchungen auf Darmkrebs durch eine Stuhlprobe oder eine Darmspiegelung haben die Frauen die Nase vorn. Regelmäßig zum Urologen geht nur jeder fünfte Mann ab 45 Jahren. Als Gründe geben Männer auf Platz 1 Zeitmangel an, gefolgt von Angst vor einer schlechten Diagnose und Respekt vor der Prostatauntersuchung mit dem Finger. Viele Männer betreiben eine Art Vogel-Strauß-Taktik: Kopf in den Sand stecken und nichts sehen und hören wollen. Erst wenn etwas kaputt ist, lässt man es reparieren. Also eher Reparaturmedizin als Vorsorgemedizin. Männer sterben infolgedessen häufiger und in jüngerem Alter an Herzkrankheiten. Ein Grund könnte der niedrigere Östrogenspiegel sein, aber auch schlecht behandelter Bluthochdruck oder hohe Cholesterinwerte. Zusätzlich und ganz im Unterschied zum Klischee der „Männergrippe“ suchen Männer, wenn sie krank sind, seltener einen Arzt auf; und wenn sie einen Arzt aufsuchen, berichten sie weniger häufig über die Symptome der Krankheit. Frauen nutzen häufiger als Männer Gesundheits-Check-ups; obwohl diese Ungleichheit möglicherweise durch die Verpflichtung zum Arztbesuch zur Verschreibung von Antibabypillen verursacht ist12, trifft dies aber auch für zahnärztliche Check-ups zu.13
•Ungesunde Ernährung/Alkohol: Laut der Nationalen Verzehrstudie II des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft essen Männer im Vergleich zu Frauen mehr Fleisch und Wurstwaren, Fisch, Milch(-produkte) und Käse, Süßwaren und zuckerhaltige Getränke, aber weniger Gemüse und Obst.14 Übermäßiger Alkoholkonsum kostet doppelt so viel Männern wie Frauen das Leben.15 Für viele Männer ist Alkoholkonsum mit Männlichkeitsvorstellungen verbunden.16
•Selbstmord: Männer begehen häufiger Selbstmord, obwohl Depressionen bei Frauen als häufiger angesehen werden und Frauen mehr (nicht tödliche) Selbstmordversuche unternehmen. Männer bemühen sich bei Depressionen und psychischen Erkrankungen weniger um Hilfe.
•Biologie: Der Frontallappen des Gehirns – der Teil, der das Urteilsvermögen und die Abwägung der Folgen einer Handlung steuert – entwickelt sich bei Jungen und jungen Männern langsamer als bei Frauen. Dies kann dazu beitragen, dass weit mehr Jungen und Männer bei Unfällen oder infolge von Gewalt sterben, zum Beispiel durch Trunkenheit am Steuer und Tötungsdelikte. Mangelndes Urteilsvermögen und mangelnde Abwägung der Folgen kann auch zu nachteiligen Lebensentscheidungen beitragen, wie Rauchen oder übermäßiges Trinken. Fehlende Risikokompetenz und Verdrängungsmechanismen führen dazu, einfache und offensichtliche Zusammenhänge zwischen Rauchen, übermäßigem Essen und Trinken, mangelnder Bewegung, Stress und auftretenden Krankheitssymptome beharrlich zu leugnen.
Diese Kluft zwischen Männern und Frauen bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung wird global in grotesker Weise nicht angemessen berücksichtigt. Obwohl der medizinische Bedarf ganz eindeutig aufseiten der Männergesundheit liegt, weisen Genderstudien bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung eine gewaltige Verzerrung in Richtung Women’s Health auf: Eine Onlinedatenbanksuche in der National Library of Medicine (PubMed) ergab 152.450 Studien zu Women’s Health gegenüber nur 10.391 zu Men’s Health17, das sind nur sechs Prozent. Bisher haben weltweit nur drei Länder – Australien, Brasilien und Irland – versucht, die Krankheitslast von Männern durch die Annahme nationaler, auf Männer ausgerichteter Strategien anzugehen.
Diese Vernachlässigung durch die politischen Entscheidungsträger wird durch negative Stereotypen über Männer verstärkt. Einige gehen beispielsweise davon aus, dass Männer weitgehend desinteressiert an ihrer Gesundheit seien – eine Haltung, die wiederum Männer davon abhalten kann, sich mit Gesundheitsdiensten zu befassen.18 Gesundheitsprogramme betrachten Männer häufig als Unterdrücker, als egozentrisch, desinteressiert oder gewalttätig.19 Die Berücksichtigung der Gesundheit von Männern wird besonders wichtig sein, um die „Pandemie“ nicht übertragbarer chronischer Krankheiten zu bekämpfen, von denen mehr Männer als Frauen und Männer in jüngeren Jahren betroffen sind. Und dies ist nicht nur eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Es ist auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit, denn letztlich müssen teure Krankenhausleistungen in Anspruch genommen werden.20
Öffentliche und politische Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit von Männern, also Men’s Health, sollten drei Ziele haben:21
1.Schulen, in denen Stereotypen über Männlichkeit infrage gestellt werden.
2.Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern am Arbeitsplatz.
3.Ausrichtung des Gesundheitswesens und der Gesundheitsförderung auf marginalisierte Männer, Männer aus Minderheiten, Männer in Gefängnissen und Männer, die Sex mit Männern haben – alle haben eine höhere Krankheitslast und einen häufigeren frühen Tod als andere Männer.
Interventionen in Ländern mit hohem Einkommen (zum Beispiel Australien, USA und westeuropäische Länder) umfassten im Allgemeinen die Kontaktaufnahme mit Männern in Pubs und Bars, Sportvereinen, Friseurläden, Schulen und am Arbeitsplatz mit Schwerpunkt auf Gewichtsverlust, Raucherentwöhnung und anderen Lebensstilveränderungen. Dass das funktioniert, zeigt ein Beispiel unter übergewichtigen oder fettleibigen männlichen Fußballfans schottischer Profifußballklubs.22 Auch können Männer und Frauen unterstützt werden, tradierte Geschlechterrollen umzugestalten, sodass gerechtere Beziehungen entstehen, was Sexualverhalten, Gewalt in der Partnerschaft und Verhinderung sexuell übertragbarer Krankheiten betrifft.23
Es braucht also eine globale Männergesundheits-Bewegung. Eine Google-Suche mit dem Begriff „Department – Institute – Women’s Health“ ergibt seitenweise Einträge, die gleiche Suche für „Department – Institute – Men’s Health“ ein einziges Institut und dies erfreulicherweise in Deutschland: das weltweit erste Institut für Männergesundheit24 am Universitätsklinikum Hamburg, geleitet von Dr. Frank Sommer, dem weltweit ersten Professor für Männergesundheit. Der Ansatz ist inhaltlich sehr breit und reicht von Sport-, Anti-Aging- und Lebensstilmedizin über Diabetes, Depression und Hormonmangel bis hin zu sexuellen Funktionsstörungen. Der letzte Punkt ist, soweit es die erektile Dysfunktion (also mangelnde Erektionsfähigkeit des Penis) betrifft, extrem wichtig, da er das erste Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems sein kann.25 Angesichts der dramatischen Lücke in der Männergesundheit und der sich mehrenden Belege, wie diese geschlossen werden kann, besteht der nächste Schritt darin, das Thema auf die Tagesordnung aller nationalen Regierungen und globalen Gesundheitseinrichtungen zu setzen, ohne die Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen zu beeinträchtigen. Eine neue Organisation, Global Action on Men’s Health, wurde kürzlich gegründet, um sich für nationale, regionale und globale Gesundheitspolitiken einzusetzen.26 Es ist an der Zeit, nicht nur die Vorteile solcher Maßnahmen für Männer anzuerkennen, sondern auch die potenziellen Vorteile für Frauen, Kinder und die Gesellschaft insgesamt. Die körperliche Erkrankung von Männern kann beispielsweise die psychische Gesundheit ihrer Partnerinnen beeinträchtigen. Wenn Männer krank sind, verletzt werden oder sterben, erleiden Haushalte und Partnerinnen Einkommensverluste.27 Das Schließen der Gesundheitslücke der Männer käme daher Männern, Frauen und ihren Kindern zugute.