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Die Sterblichkeit steigt
ОглавлениеNicht nur, dass seit 2000 die Lebenserwartung stagniert, sie beginnt in einigen Industrieländern sogar zu sinken. Die USA und Großbritannien sind hierbei die unrühmlichen „Vorreiter“, aber es wird nicht lange dauern, bis diese Entwicklung auch andere europäische Länder einschließlich Deutschland treffen wird. In den USA ist die Lebenserwartung 2019 im dritten Jahr in Folge zurückgegangen.8 Diese Veränderung machte den jahrzehntelangen medizinischen Fortschritt bei der Verminderung der Sterblichkeit – auch wenn dieser im Wesentlichen auf das enge Gebiet der Hygiene bei Infektionskrankheiten, Impfungen sowie Antibiotika zurückgeht – zunichte.
Die Ursachen hierfür sind teilweise USA-spezifisch. Ein wesentlicher Grund für frühe Todesfälle dort ist nämlich die relativ einzigartige Krise durch die verantwortungslose Verschreibung stark wirksamer Schmerzmittel (die in Deutschland alle unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und wesentlich besser reguliert sind), aber auch durch chronischen Alkoholmissbrauch, Selbstmorde, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck und andere chronische Erkrankungen. Die USA leisten sich zwar das teuerste Gesundheitswesen der Welt, die Bevölkerung ist aber nicht gesünder als anderswo. Im Gegenteil, bezüglich der Lebenserwartung sind die USA im Vergleich zu anderen Industrieländern unteres Mittelmaß.
Erstmals 2013 wurde in Großbritannien bemerkt, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung zu verlangsamen begann. 2019 wurde zum ersten Mal in 100 Jahren beobachtet, dass Großbritanniens Einwohner früher zu sterben begannen. Großbritannien hat aktuell die schlechtesten Gesundheitstrends in ganz Westeuropa. Ältere Menschen, Arme und Neugeborene sind am stärksten betroffen. Männer im Alter von 65 Jahren werden mit 86,9 Jahren sterben, früher als bisher mit 87,4 Jahren; Frauen, die heute 65 Jahre alt sind, werden wahrscheinlich mit 89,2 Jahren sterben, ein Rückgang von den bisherigen 89,7 Jahren. Mit anderen Worten: Die Lebenserwartung von Menschen, die ins Rentenalter eintreten, ist um circa sechs Lebensmonate gesunken. Nun könnten Sie denken, dass die Menschen einfach den Höhepunkt ihrer Langlebigkeit erreicht haben. Man könne ja nicht erwarten, dass die Lebenserwartung ewig zunimmt. Den aktuellen Zahlen aus den USA und Großbritannien steht aber gegenüber, dass die Lebenserwartung an vielen anderen Orten der Welt, darunter zum Beispiel Hongkong, das chinesische Festland, Japan und Skandinavien, nicht sinkt und weit über dem Niveau Großbritanniens liegt.
Und Deutschland? Es gibt keinen Grund, sich als Deutscher beruhigt und stolz auf die Schulter zu klopfen. Innerhalb Europas hat Deutschland neben der Schweiz das teuerste Gesundheitswesen. Trotzdem nimmt Deutschland bei der Lebenserwartung im europaweiten Vergleich einen Platz im hinteren Drittel ein; und das gilt auch für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt.
Noch sind die Zustände in Deutschland nicht wie in den USA. Dort leben ja auch Millionen Menschen ohne Krankenversicherung und der Opiat-Skandal ist wohl einzigartig. Doch die soziale Dimension der Medizin und die Zusammenhänge von sozialem Status, Bildung und Gesundheit werden in Deutschland zu wenig beachtet. Die größte Gefahr für die Gesundheit geht schließlich von Armut und mangelnder Bildung aus, von Einsamkeit und unsicheren beruflichen Verhältnissen. Um diese wichtigen Aspekte des Wohlergehens kümmert sich die Gesundheitspolitik so gut wie nicht, auch die meisten Ärzte und Kliniken lassen die Menschen damit allein, können es qua Kompetenz auch gar nicht. Hier wären komplett andere Disziplinen gefordert: Sozialarbeiter, Psychologen, Coaches und Ernährungsberater, doch der Geldtopf für die Gesundheit scheint aufgebraucht. Aber ist es allein Geld, das den Unterschied macht …?