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Die Number Needed to Treat

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Es gibt einen Weg, um zu verstehen, wie viel die aktuelle Medizin dem einzelnen Patienten zu bieten hat. Es handelt sich um ein einfaches statistisches Konzept, das „Number Needed to Treat“ oder kurz „NNT“ genannt wird, auf Deutsch: die Patientenanzahl, die behandelt werden muss, damit ein Patient einen Vorteil hat. Die NNT misst die Wirkung eines Medikaments oder einer anderen Therapie, wie zum Beispiel einer Operation, indem sie die Anzahl der Patienten schätzt, die behandelt werden müssen, um eine positive, gewünschte Wirkung für eine einzige Person zu erzielen, zum Beispiel ein Krankheitsrisiko wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu senken beziehungsweise zu eliminieren. Das Konzept ist zwar etwas trockene Statistik, aber doch einleuchtend, denn wir wissen ja inzwischen, dass nicht allen Menschen durch ein Medikament oder eine Intervention geholfen wird – manche profitieren, manche werden geschädigt und manche bleiben unbeeinflusst.

Die NNT lässt sich aus jeder klinischen Studie mit einem Arzneimittel oder einer anderen Intervention wie einer Operation et cetera berechnen. Da die meisten Medikamente und Interventionen irgendwann einmal in einer klinischen Studie untersucht worden sind, können wir eine NNT für viele (wenn nicht sogar für die meisten) der ärztlichen Behandlungen abschätzen. Das bedeutet, dass Ärzte und ihre Patienten die Wahrscheinlichkeit, dass einem Patienten durch ein bestimmtes Medikament oder Verfahren geholfen oder Schaden zugefügt wird, leicht bestimmen können. Für jedes Ihrer Arzneimittel und die dazugehörige Anwendung können Sie die NNT recherchieren: auf der Internetseite des NNT-Teams.5 Diese seit 2010 bestehenden Gruppe von Ärzten, geleitet von dem Notfallmediziner Prof. Shahriar Zehtabchi, hat ein einzigartiges System entwickelt, um entweder Therapien (auf der Grundlage ihres patientenrelevanten Nutzens beziehungsweise Schadens) oder Diagnostik (anhand von Symptomen, Labortests oder klinischen Studien) für jedermann nachvollziehbar sehr einfach zu bewerten, wenn auch auf Englisch.

Neben der NNT lässt sich übrigens noch eine zweite, auch nicht unwichtige Zahl berechnen, nämlich die „Number Needed to Harm“ (NNH), auf Deutsch: die Zahl an Patienten, die behandelt werden muss, damit ein Patient eine relevante, schwere Nebenwirkung zeigt, für die die Behandlung verantwortlich ist. Eigentlich muss man diese Zahlen vergleichen, um eine Nutzen-Schaden-Bilanz zu erstellen.

Das NNT-Team verwendet nur die qualitativ hochwertigsten, evidenzbasierten Studien6 und akzeptiert weder Drittmittel noch Werbung. Man kann dort zum Beispiel nach den Cholesterinsenkern (Statinen) suchen und findet dann verschiedene Optionen (Tabelle 2): zur Herz-Kreislauf-Prävention mit oder ohne vorbestehendem Risiko, bei bekannter Herzkrankheit oder bei akuter Angina Pectoris beziehungsweise Herzinfarkt. Betrachten wir den häufigsten Fall: Ohne dass ein Patient schon einmal eine vorherige Herzerkrankung hatte, wird aufgrund seines allgemeinen Risikos und von erhöhten Cholesterinwerten im Blut ein Statin verschrieben, und zwar zur Prävention von schweren Herz-Kreislauf-Krankheiten, also einer Herzattacke oder eines Schlaganfalls oder sogar des Todes.

Es überrascht, dass kein einziges Leben gerettet wird und nur zwei schwere Ereignisse wie ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall verhindert werden, wofür aber insgesamt 258 Patienten behandelt werden mussten. Einschränkend muss man zu diesen Zahlen sagen, dass es umstritten ist, ob die Sterblichkeit durch Statine in dieser Gruppe von Patienten reduziert wird. Das NNT-Team glaubt nicht, dass dies so ist, ist sich aber bewusst, dass andere die vorliegenden Daten anders interpretieren.

Es fällt auf, dass der Schaden, der von Statinen verursacht werden kann, weniger publik gemacht wird als der überschaubare Nutzen. Am häufigsten tritt bei der Behandlung mit Statinen ein schwerer Muskelschmerz beziehungsweise Muskelschaden auf, eine Nebenwirkung, die sich noch relativ gut bemerken und den Statinen zuordnen lässt. Die hier aufgeführte Häufigkeit von 1:10, also zehn Prozent, ist eher eine relativ konservative Schätzung für diese Nebenwirkung.8 Diese ist aber möglicherweise der Hauptgrund, warum Patienten Statine so häufig eigenmächtig absetzen oder zumindest unregelmäßig einnehmen.9

Tab. 2: Vorteile (Number Needed to Treat, NNT) und Schäden (Number Needed to Harm, NNH) einer Therapie mit cholesterinsenkenden Statinen zur Vorbeugung von Herzkrankheiten bei Patienten ohne vorherige Herzerkrankung.7

Eine weitere, besorgniserregende Nebenwirkung ist ein durch Statine neu aufgetretener Diabetes mellitus.10 Das Risiko von 1:50 ist dabei eher konservativ geschätzt. Da zehn Prozent aller Deutschen inzwischen bereits Diabetiker sind, besteht bei diesen Patienten das Risiko, einen bestehenden Diabetes noch weiter zu verschlechtern, wodurch die Patienten unfähig werden, ihren Diabetes mithilfe von Lebensstiländerungen jemals in den Griff zu bekommen oder heilen zu können. Da solche Patienten in der Regel von Statin-Studien ausgeschlossen sind, kann man dieses Risiko nur schätzen. Auch sind die Quellen der überwiegenden Mehrheit dieser Daten industriegesponserte und -finanzierte Studien, was darauf hindeutet, dass die obigen Zahlen (1:50-Risiko) eher ein Best-Case-Szenario darstellen.

Sind Statine also eine geeignete Wahl für die Verhinderung eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls? Zumindest verdeutlicht dieses Beispiel, dass man bei dem Symptom „erhöhtes Cholesterin“ nicht unbedingt reflexhaft ein Statin einnehmen muss. Das sollte gemeinsam mit einem oder mehreren Ärzten sorgfältig überdacht werden – natürlich auch vor allem mit Blick auf individuelle Präferenzen des Patienten. Im besten Fall ist ja durchaus ein Nutzen der Statine gegeben, der mögliche Schaden wird aber leicht unterschätzt. Die Alternative einer Lebensstiländerung wie zum Beispiel einer mehr oder rein pflanzlichen Ernährung ist wesentlich wirksamer als Statin-Medikamente, um kardiovaskuläre Vorteile zu erzielen, und das, ohne potenzielle Schäden zu verursachen.

Es gibt aber einen weiteren Trick, um diesen inzwischen mehr und mehr publik gewordenen Nachteil aus dem Fokus zu nehmen und die Risikoverminderung durch ein Arzneimittel marketingtechnisch schönzurechnen. Und ich denke, dass auch so mancher Arzt darauf schon reingefallen ist. Leider müssen wir dazu noch etwas mehr in die Trickkiste der Mathematik greifen. Folgen Sie mir, es lohnt sich.

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