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Alle sind zufrieden

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Die Ursachen hierfür sind vielfältig und obwohl sich alle Beteiligten im System, wie Ärzte, Krankenkassen, Patienten, Arzneimittelhersteller und so weiter, mit dieser Situation irgendwie eingerichtet haben, auch finanziell, würde ich keinem unterstellen, sie täten dies aus kommerziellem Interesse. Wir können es gegenwärtig in der Medizin einfach nicht besser.

Nicht nur bei meinem Lieblingsbeispiel (weil es so häufig und grotesk ist) Bluthochdruck, bei fast allen, insbesondere chronischen Erkrankungen ist die Ursache unklar. Mit Ursache ist der genaue molekulare Mechanismus gemeint, der die Symptome verursacht. Mit molekularem Mechanismus meint man das genaue Wissen, welche Moleküle, Botenstoffe, Hormone oder Signalwege in unserem Körper verändert sind, sodass die Symptome entstehen, aber auch die langfristigen ernsten Konsequenzen, wie zum Beispiel ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob ich auf Symptome oder Ursachen schaue. Behandele ich lediglich Symptome und nicht die Ursachen, werden die Symptome immer wieder auftreten und müssen immer wieder behandelt werden. Nur wenn ich die Ursache gefunden habe, besteht eine prinzipielle Hoffnung auf Heilung. Da dies aber bei den meisten Krankheiten nicht der Fall ist, wird man als Patient eben als chronisch krank definiert, die Symptome treten immer wieder auf und müssen ständig unterdrückt werden.

Zumeist geschieht die Symptombehandlung mit Arzneimitteln. Circa 70 Prozent aller ärztlichen Maßnahmen beinhalten die Verschreibung eines Arzneimittels. Was jeweils Stand der Wissenschaft ist oder innerhalb eines Landes oder Gesundheitssystems als solcher angesehen wird, wird in sogenannten Behandlungsleitlinien festgehalten. Im Idealfall basieren diese auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen, oftmals aber auch nur auf Expertenmeinungen. Wie diese durchaus fundamental divergieren können, haben wir in der Corona-Pandemie erlebt.

Wichtig für das System ist, dass leitliniengerechte Behandlung von den Krankenkassen erstattet wird. So sind alle zufrieden: Sie als Patient denken – zumindest bis Sie den ersten Teil meines Buches zu Ende gelesen haben –, Sie seien gut behandelt. Sie sind halt Chroniker. Der Arzt hat mit Ihnen einen regelmäßig erscheinenden Patienten, der jedes Quartal seine Versichertenkarte einlesen lässt, da Sie ja ein neues Rezept brauchen – offiziell natürlich nur nach einem mit der Krankenkasse abrechenbaren persönlichen Gespräch mit dem behandelnden Arzt und nicht etwa nur mit der Sprechstundenhilfe vorne am Empfang. Auch die Apotheke ist zufrieden: ein Rezept und vielleicht noch ein Zusatzverkauf jedes Quartal (ein Anreiz, kritisch zu beraten, besteht ja nicht, da Apotheker nicht ihre Arzneimittelberatung, sondern ausschließlich ihre Kosten nach abgegebenen Arzneimitteln erstattet bekommen). Die Pharmaindustrie ist auch zufrieden und das Krankenhaus auch, da die Symptome gelegentlich ernster werden und ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist.


Abb. 2: Die Entstehung einer chronischen Erkrankung. Unten die Zeitachse, links die Verschlimmerung der Symptome oder Krankheit. Lange Zeit passiert nichts; Sie wissen gar nicht, dass eine Krankheit in Ihnen brodelt. Deren Ursachen sind auch unklar. Dann treten plötzlich Symptome auf, die einer Behandlung bedürfen. Die Ursache ist aber noch immer unklar. Also können nur Ihre Symptome immer wieder durch regelmäßige Einnahme von Tabletten behoben werden. Die eigentliche Ursache der Erkrankung brodelt aber weiter in Ihnen und ob Sie irgendwann dadurch eine schwere Komplikation erleiden oder früher sterben werden, bleibt zeitlebens ungewiss.

Alles läuft Hand in Hand. Nicht perfekt, aber alle Beteiligten haben sich irgendwie eingerichtet. Doch wo ist der Haken in diesem Krankheitssystem? Er liegt darin, dass der Ausgang, was die für den Patienten relevanten Konsequenzen betrifft, komplett ungewiss ist. Denn die Behandlung der Symptome ist oft nicht das, was den Patienten wirklich interessiert, sondern es sind die Langzeitkonsequenzen: Blutdruck tut nicht weh, sondern der damit assoziierte plötzliche Herztod oder die Hirnblutung; auch der erhöhte Cholesterinwert im Blut tut nicht weh, sondern der damit assoziierte Herzinfarkt oder der Schlaganfall; nicht die gelegentliche Atemnot, sondern das tödliche Herzversagen; auch die erhöhten Zuckerspiegel machen dem Diabetiker lange Zeit nichts aus, wichtiger ist die Frage, ob er vor Nierenversagen, Nervenschäden und Erblindung geschützt ist. All dies kann dem Patienten kein Arzt versprechen. Der Ausgang ist und bleibt ungewiss. Aber bitte nächstes Quartal wiederkommen wegen des Rezepts. Können Sie denn wenigstens davon ausgehen, dass Sie zumindest einen kleinen Vorteil von dem Arzneimittel haben, das Sie einnehmen? Nein, im Gegenteil. Sie können davon ausgehen, dass Sie keinen Vorteil davon haben werden …

Geheilt statt behandelt

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