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Check-ups beim Zahnarzt nutzlos

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Obwohl Erkrankungen der Zähne weitgehend vermeidbar wären, bestehen sie unvermindert fort. Weltweit am häufigsten und folgenreichsten sind Karies, Parodontitis und Zahnverlust. Wie kann es sein, dass diese trotz aller Früherkennungs- und Therapiemaßnahmen nicht deutlich zurückgehen? Zahnärzte tun sich mit echter Prävention schwer und setzen zu sehr auf Therapie.8 Unklar ist, woran das liegt: an den Zahnärzten selbst (Muss Prävention stärker in der Ausbildung von Ärzten beziehungsweise von zahnmedizinischen Fachangestellten verankert werden?), an der unterschiedlichen Honorierung oder auch an beratungsresistenten Patienten? Wesentliche Risikofaktoren sind auch hier wieder – wie bei den allgemeinärztlichen chronischen Erkrankungen (siehe Abbildung 10) – Ernährung (vor allem Zuckerkonsum), Alkohol- und Tabakkonsum.

Seit Pierre Fauchard 1746 festlegte9, man müsse alle sechs Monate zum Zahnarzt gehen, ist dies quasi in Stein gemeißelt und ein Eckpfeiler zahnärztlicher Praxis.10 Auch wenn die Empfehlungen bezüglich der optimalen Intervalle von Land zu Land leicht unterschiedlich sind, empfiehlt doch die Mehrzahl aller Zahnärzte daher halbjährliche Besuche zur visuellen Untersuchung und Sondierung, die von den Krankenkassen übernommen werden, um Karies zu entdecken und zu behandeln, sowie eine kostenpflichtige Zahnsteinentfernung und Zahnpolitur, um Parodontose vorzubeugen.

Erstaunlicherweise gibt es aber keinerlei wissenschaftliche Evidenz, ob diese Routine einen Patientennutzen bringt und ob nicht längere Abstände, zum Beispiel jährlich oder zweijährlich, auch genügen würden.11 Es existieren im Wesentlichen Korrelationen, dass zum Beispiel Kinder, die nur dann zum Zahnarzt gehen, wenn sie Probleme haben, mehr kariöse und gefüllte Zähne haben als Kinder, die regelmäßig zum Zahnarzt gehen, auch ohne Symptome zu haben.12 Auch werden regelmäßigen Zahnarztgängern weniger Zähne gezogen als denjenigen, die nur bei Problemen zum Zahnarzt gehen.13 Auf den ersten Blick klingt es ja auch plausibel, dass diejenigen, die schon vor dem Auftreten von Symptomen zum Routine-Check-up zum Zahnarzt gehen, weniger Zahnerkrankungen haben. Aber Vorsicht! Dies ist nur scheinbar so.

Es ist einer der größten Fehler, der immer wieder in der Medizin gemacht wird, aus zurückschauenden Korrelationen vorwärtsschauende Schlussfolgerungen über Ursachen und Wirkungen zu ziehen. Genauso wie jede andere chronische, durch ungesunden Lebensstil negativ beeinflusste oder verstärkte Erkrankung weist Mundgesundheit dasselbe soziale Gefälle auf.14 Wohlhabende und sozial Bessergestellte leiden weniger unter Zahnerkrankungen als ärmere und am stärksten benachteiligte Gruppen. Menschen in höheren sozioökonomischen Schichten melden sich auch eher bei einem Zahnarzt an und gehen, auch wenn sie keine Symptome haben, zu zahnärztlichen Check-ups.15 Somit könnte die Korrelation zwischen dem Gang zum Zahnarzt und einem niedrigeren Krankheitsrisiko einfach nur ein soziales oder Bildungsphänomen sein und eher auf generelle Unterschiede im Lebensstil und gesündere, das heißt zum Beispiel zuckerärmere Ernährung, als auf die Wirksamkeit zahnmedizinischer Check-ups zurückzuführen sein.

Selbst wenn die präventiven Zahnarztbesuche sinnvoll wären, stellt sich immer noch die Frage, ob es der übliche sechsmonatige Abstand sein muss oder auch längere Abstände genügen würden. Die Debatte über die angemessene Intervalldauer zwischen den zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen für Patienten in der Primärversorgung wurde erstmals 1977 angestoßen.16 Entscheidend ist ja für den Zahnarzt, zu erkennen und zu intervenieren, bevor Karies unumkehrbar in das Dentin (Zahnbein) fortschreitet. Je nachdem, wie tief Karies im Zahnschmelz sitzt, dauert dies bis zu drei Jahre.17 Zusätzlich gibt es Schwankungen zwischen verschiedenen Patienten und alle Zahnärzte sind auch nicht gleich sorgfältig dabei. Aus alledem ergaben sich Optima für den Zahnarzt-Check-up, die von 13 Monaten bis zu zehn Jahren (!) reichten. Alle sechs Monate war aber in jedem Fall viel zu häufig und unnötig. Sowohl bei Kindern mit Milchzähnen als auch bei Jugendlichen mit bleibenden Zähnen scheint im Schnitt ein zahnärztlicher Check-up alle zwei Jahre optimal. Angesichts der Dauer dieser Debatte und der potenziellen Auswirkungen einer Änderung der Untersuchungsintervalle auf die Kosten und Ergebnisse in der zahnärztlichen Gesundheitsversorgung ist es schwer zu verstehen, dass es nur wenige qualitativ hochwertige und verlässliche Studien hierzu gibt. Die bisher größte multizentrische, randomisierte, kontrollierte „INTERVAL“-Studie soll hierzu etwas mehr Klarheit bringen18, ist aber noch nicht veröffentlicht.

Anders ist dies bei der zweiten zahnärztlichen Routinemaßnahme, die im Unterscheid zum Check-up in der Regel privat zu zahlen ist, der professionellen Zahnreinigung mit anschließender Politur. Fast die Hälfte der Erwachsenen zeigt Anzeichen einer Zahnfleischerkrankung (Parodontitis), die damit weltweit die häufigste chronische Erkrankung ist – mit erheblichen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Sie denken sich jetzt bestimmt, dass die professionelle Zahnreinigung selbstverständlich sinnvoll ist und bestimmt reichlich Studien existieren, die deren Vorteil oder Sinn belegen. Schließlich zahlt man ja auch dafür. Sie könnten denken: „Muss man so etwas überhaupt untersuchen? Ist das nicht offensichtlich sinnvoll? Es wird doch auch überall empfohlen.“ Zudem lassen alle, die Sie kennen, das vermutlich auch bei sich machen. Wie so oft in der Medizin lohnt es sich auch hier, Dogmen zu hinterfragen19 und nicht lockerzulassen, bis Evidenz vorgelegt wird oder nicht.

Tatsächlich fehlen zuverlässige Belege, welche der möglichen zahnärztlichen Vorsorgemaßnahmen – Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege oder professionelle Zahnreinigung und Politur – wirksam und kosteneffektiv sind.20 Dies nahm sich die „Improving the Quality of Dentistry“-Studie (IQuaD) vor21; auf Deutsch die „Verbesserung der Qualität der Zahnmedizin“-Studie. Es war eine bahnbrechende Studie und die größte, die jemals in der Zahnmedizin durchgeführt wurde. Sie war nicht zurückschauend und auf Korrelationen angewiesen (siehe oben), sondern vorausschauend und hatte zum Ziel, herauszufinden, ob zahnärztliche Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege beziehungsweise die professionelle Zahnreinigung und Politur funktionieren und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Überraschenderweise machte es jedoch nach drei Jahren keinerlei Unterschied bezüglich der Zahnfleischgesundheit, ob vorher professionelle Zahnreinigungen alle sechs oder zwölf Monate oder gar nicht durchgeführt wurden. Es gab sogar keinen Nutzen der Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege. Diese Ergebnisse wurden später nochmals bestätigt22, haben aber in deutschen Behandlungsleitlinien keinen Niederschlag gefunden.

Weil diese Daten die gesamte bisherige zahnärztliche Routinepraxis fundamental infrage stellten, wurde die noch größere INTERVAL-Studie initiiert, die nun über vier statt drei Jahre angelegt ist.23 Warten wir es ab … Bis dahin gehe ich persönlich noch alle zwölf Monate zum zahnärztlichen Check-up. Bezüglich professioneller Zahnreinigungen und Politur werde ich mich allerdings erst einmal zurückhalten.

Was aber könnte nun echte zahnärztliche Prävention darstellen, wenn der regelmäßige Besuch nur bedingt Sinn macht und Zahnsteinentfernung und Polieren zumindest über drei Jahre gesehen keinen? Zudem sind all diese Maßnahmen keine echte Prävention, sondern – wie schon in der allgemeinärztlichen Routine – lediglich Früherkennung und Behandlung einer der chronischen Erkrankungen Karies und Parodontitis.

Wollten wir echte Prävention, müssten wir ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Bekämpfung der Hauptursache Zucker, der globalen Zuckerindustrie und deren ausgefeilten Unternehmensstrategien zur Förderung des Zuckerkonsums.24 Als die Zuckerindustrie die Rolle von Zucker bei Zahnkaries angesichts der wissenschaftlichen Beweise nicht mehr leugnen konnte (wir fühlen uns an die Tabakindustrie erinnert), entwickelte sie eine nahezu globale Strategie. Um zu vermeiden, dass der Konsum von Zucker eingeschränkt würde, sollte die Aufmerksamkeit auf Interventionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gelenkt werden. Zu den Taktiken gehörte in Zusammenarbeit mit verbündeten Lebensmittelindustrien die Finanzierung von Forschungsarbeiten mit fragwürdigem Potenzial, zum Beispiel über Enzyme zum Abbau von Zahnbelag und ein eher als grotesk einzustufendes Projekt, einen Impfstoff gegen Karies zu entwickeln. Daneben etablierte die Zuckerindustrie in vielen Ländern intensive Beziehungen zu zahnärztlichen Berufsverbänden und den Mitgliedern zahnärztlicher Expertengremien.

In Deutschland beeinflusst die Zuckerindustrie zahnmedizinische Forschung und Mundgesundheitspolitik zum Beispiel über die „Wirtschaftliche Vereinigung Zucker e.V.“ (WVZ), die zentrale Lobbyorganisation der Zuckerindustrie in Deutschland.25 Unter dem Deckmantel einer unabhängigen wissenschaftlichen Aufklärungskampagne betreibt die Zuckerlobby zum Beispiel den Tarnverein „Informationskreis Mundhygiene und Ernährungsverhalten“ (IME).26 Nach dem Motto, Zucker sei keinesfalls Hauptverursacher von Karies, man müsse sich nur gut die Zähne putzen, bietet der IME Aktionsspiele für Kindergärten an.27 In der „Schmeckt richtig“-Broschüre des WVZ, einem Weißbuch für Zucker, wird behauptet, man könne Zucker unbedenklich essen, entscheidend sei nur die Energiebilanz.28

Wollen wir also echte zahngesundheitliche Prävention, ist es daher dringend notwendig, den Einfluss der Zuckerindustrie auf Forschung, Politik und Praxis einzudämmen, zum Beispiel durch klare und transparente Richtlinien. Die Zuckerindustrie zu beraten oder von ihr Geld zu empfangen muss eine Mitgliedschaft in zahnärztlichen Leitlinien-Kommissionen streng ausschließen. Bis das Realität wird, können Sie und Ihre Familie aber schon einmal anfangen, weniger Zucker zu essen. Damit tun Sie nicht nur Ihren Zähnen Gutes …

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