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Über die Wankelmütigkeit des menschlichen Geistes

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Für den Allesfresser VallcorbaPlana

Natürlich hatte er als Kind Buchstaben aus der Suppe gelöffelt, aber ein aus weißem Papier ausgeschnittenes A zu verzehren, rief dann doch ein befremdliches Gefühl in ihm hervor. Er hatte das A mit einer riesengroßen Schere bedächtig und sorgfältig ausgeschnitten und sah dabei benommen, wie jenseits der Terrassenfenster der Abend hereinbrach. Es war einer jener traurigen Abende, an denen man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, und sich schließlich an den Alltagskram klammert, wie Blumen gießen, Bücher auf dem obersten Regalbrett abstauben, Fingernägel schneiden, bis man zum Schluss nur noch die Schere in der Hand hat, der es gefällt, sinnlose Formen auszuschneiden, und eine davon wird eben ein A, das er jetzt so gierig aufaß, als sei es eine feine Speise. Nachdem er das A aufgegessen hatte, schnitt er ein B aus; dann ein C und ein D und mit immer größerem Appetit verschlang er einen Buchstaben nach dem anderen. Als die Nacht schon aussah wie eine schwarze Scheibe, bildete er bereits kurze Worte – Ei, Ohr, Hut, Tee, Rom, Lohn, – die er genüsslich verspeiste. Zwei Tage später bemerkte er, da er nichts anderes mehr aß, dass die Buchstaben zu seiner Ernährung ausreichten. Er brauchte weder Obst noch Milch noch Fleisch noch Gemüse noch Fisch. Normale Lebensmittel ließen ihn kalt – jeden Tag etwas mehr – und bereits zwei Wochen später widerten sie ihn eher an. Mit der Zeit konnte er die verschiedenen Buchstaben auseinanderhalten, nicht so sehr nach dem Stoff, aus dem sie gemacht waren (der spielte keine Rolle, hatte keinerlei Einfluss auf Nährstoffgehalt oder Geschmack), sondern die verschiedenen Schrifttypen, Körper und Varianten. Er entdeckte, dass Buchstaben ohne Serifen verdauungsfördernder waren als solche mit; von denen war die Egyptien die schwerste Kost, die, vor dem Schlafengehen verzehrt, Schlaflosigkeit und schreckliche Albträume verursachte. Die Erfahrung lehrte ihn, dass die englische Schreibschrift gut gegen Verstopfung war, gegen Hepatitis gab es nichts Besseres als halbfette Helvetica und die mittlere Futura wirkte ausgezeichnet gegen Herzrasen. Zur besseren Verdauung aß er die fette Futura mit weniger als 24 Punkt (und immer gewürzt mit etwas American Typewriter). Natürlich entwickelte er bestimmte Vorlieben: die Baskerville, die Gill, die Stymie. Dagegen verabscheute er die Blippo und die Avantgarde. Die Times war ihm gleichgültig; so wie gekochter Seehecht, meinte er eines Tages, doch dann fiel ihm ein, dass er (damals, als er sich noch konventionell ernährte) manchmal sehr gerne einen guten gekochten Seehecht gegessen hatte, oder auch einfach gedünsteten. So ließ er sich Texte in Times auf unterschiedliches Papier drucken: auf blaues und grünes Martelé, auf rosa Couché, auf vergilbte Bibeln. So wurde auch die Venus Fina, die er bisher extrem langweilig gefunden hatte, (in 38 Punkt und dunkelgrüner Tinte auf türkisem Glanzpapier) zu einer seiner Lieblingsspeisen. Dann kam die Frage des Weines: Welcher Wein passte zu welchem Buchstabentyp? Das führte zu einer langen Periode mit Weinproben: die manchmal danebengingen, doch meist von Erfolg gekrönt waren. So fand er heraus, dass zur Helvetica wunderbar Burgunder, Barolo, Chianti, Cabernet, Rioja und Priorat passten. Zur Futura (sowohl zur fetten als auch zur schmalen) passte ausgezeichnet ein elsässischer Wein oder auch ein guter Moriles. Und im Allgemeinen zu allen Groteskschriften Ribeiro, Penedès, Valdepeñas, Silvaner, Riesling, Sancerre, Chablis. Zu den Schriften mit Serifen passten wunderbar Bages, die großen Bordeaux-Weine (wie der Château-Latour, Château-Margaux oder Saint-Émilion), ein paar Burgunder oder die aus Tudela und Elciego. Nach zwei Monaten stopfte er Zeitungen, Zeitschriften, Arzneimittelprospekte, Bücher, leichte Pappschachteln und kleine Leuchtschriften in immer größeren Mengen in sich hinein; und ein Abendessen war kein richtiges Abendessen, wenn nicht irgendein Band einer Enzyklopädie und irgendein Neonbuchstabe dabei waren. Er kaufte eine große Anzahl an Buchstaben-Sets. Nachts drang er in Druckereien ein und verschlang alle Drucktypen, die er finden konnte. Er schob die Zeilensetzer beiseite und fraß die Bleibarren, so wie sie aus der Maschine fielen. Er entdeckte die kulinarische Raffinesse des griechischen Alphabets (deren ersten, etwas schwülstigen Eindruck er revidieren musste), den Genuss des Kyrillischen, den exotischen Geschmack der chinesischen Zeichen, die Unterschiede zwischen dem Thailändischen und dem Kambodschanischen, das Schmalz des Arabischen. Er brauchte ABC-Fibeln wie andere die Luft zum Atmen. Das Einzige, was ihm auf dieser Welt fehlte, war Zeit. Durch die Literophagie war er zum Glück gelangt; Tag und Nacht folgte sein ganzes Leben nur einem einzigen Zweck: neue Schriftzeichen zu probieren. Reiste er, so tat er dies ausschließlich, um Varianten der gebräuchlichen Buchstabentypen kennenzulernen. Er besuchte Lettergießereien, wie andere Champagnerkellereien oder Brauereien besichtigen, und er war der glücklichste Mensch auf Erden, wenn er einen neuen, frischen, gerade vollendeten Buchstaben zwischen die Finger (und Zähne) bekam. Er suchte Grafiker auf und unterstützte sie dabei, Varianten in die bekannten Designs einzufügen. Einige hielten ihn für verrückt, doch mit der Zeit mussten auch sie eingestehen, dass sein Rat nützlich und treffsicher war, beispielsweise gab er einer leicht schlampigen Form, für die niemand eine Lösung gefunden hatte, den perfekten Schliff. Infolgedessen ließen sie ihn reden und, wenn sie nicht mehr weiterwussten, forderten sie ihn sogar an, bevor sie eine neue Form auf den Markt brachten, und baten um seine Zustimmung. Er war es, der mit einem Lächeln auf den Lippen die letzten Ratschläge gab, damit die neue Type so wurde, wie sie sein sollte, sowohl vom typografischen als auch vom kulinarischen Standpunkt aus.

Aber ach, der Wankelmut! Drei Jahre später hatte er genug von den Buchstaben. Nach ein paar weiteren Monaten überfiel ihn bei ihrem Anblick bereits ein unwiderruflicher Ekel. Doch zur gleichen Zeit zeigte er gottlob ein wachsendes Interesse an Miniaturschiffen.

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