Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 19

Vertrauliches

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Ich war schon immer ein Flattergeist, damit das von Anfang an klargestellt ist. Ob von Natur aus oder durch die Umstände, wie man in solchen Fällen sagt, weiß ich nicht. Schon als Kind habe ich oft die Schule gewechselt (das besagt allerdings nicht viel, wenn man genauer darüber nachdenkt, denn meine Unbeständigkeit könnte sowohl auf diesem Tatbestand beruhen als auch genauso gut vom Gegenteil herrühren: Infolge einer genetischen Unbeständigkeit wechselte ich als Kind häufig die Schule; egal, so wichtig ist das auch nicht). Mein Vater war auch so, ich meine, wie ich; meine Mutter hingegen war beständig und saß fest auf ihrem Posten: Ihr ganzes Leben war der Hausarbeit gewidmet. Das ist das Schicksal der Frau, sagte sie, und zog dabei so viel Luft in sich hinein, dass man das Gefühl hatte, als würde das Zimmer ganz leer werden und gleich ihr Busen platzen. Heute würde sie wahrscheinlich anders reden, denn die Zeiten haben sich geändert, und sie war das lebende Beispiel für eine vollkommene Anpassung an ihre Umwelt. Bevor ich zur Kommunion ging, vertrieb ich mir sehr gerne die Zeit mit Bockspringen und Dame, ich machte tagelang nichts anderes. Aber dann setzte die Langeweile ein, und ich entwickelte eine Begeisterung für Schach und spielte auf der Straße Fußball mit Kronenkorken, doch auch diese beiden Spiele interessierten mich bald nicht mehr. (Ich weiß nicht, wer gesagt hat, ein Spiel, bei dem sich beide Spieler über die Regeln einig sind, sei unnütz und langweilig, denn das einzig Spannende entstehe daraus, sich über nichts einig zu sein, nicht einmal über die Spielregeln). Ich studierte Maschinenbau, doch schaffte ich, wie vorauszusehen, nicht einmal zwei Semester, da ich zwischenzeitlich in einer Rockband spielte und darüber das Ingenieurwesen in all seinen Varianten vergaß. Im ersten Monat lief alles gut. Im zweiten wurde ich gefeuert, weil ich so oft zu spät kam. Glücklicherweise hatte ich schon stundenweise eine Arbeit in einer Knopffabrik gefunden. Nach der Probezeit wurde ich allerdings nicht übernommen, weil ich meinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich freiwillig zu melden. Im Grunde genommen gefiel mir der militärische Geist nicht schlecht: Ich hatte viele Filme zu dem Thema gesehen und fand das Militär eigentlich ziemlich gut. Wie fast alle wurde ich nach Zaragoza geschickt. Ich werde Ihnen jetzt aber keine Rekrutenabenteuer erzählen, das wäre geschmacklos. Ich werde Ihnen nur mitteilen, dass ich ein stotterndes Mädchen kennenlernte, das sich anfassen ließ. Als sie bemerkte, dass sie schwanger war, trieb ich mich, Gott sei Dank, bereits in Holland herum und spielte in einer Jazzband. (Da dort alle ständig besoffen waren, spielte es kaum eine Rolle, ob man rechtzeitig oder zu spät kam.) Man muss dazu sagen, musikalisch war es eigentlich auch egal, ob man da war oder nicht. Das ging so einen Sommer lang, bis sie mich verhafteten und in den Knast steckten (nicht weil ich Free Jazz spielte, sondern weil man bei mir ein Päckchen Shit, ein Sortiment Acids und ein bisschen Heroin fand, womit ich mir ein Zubrot hatte verdienen wollen, ein schlechter Rat von Lou Reed, so ist das eben). Ein Jahr später setzten sie mich an der Grenze ab (es war ein Tag, an dem der Himmel bewölkt war und ein Wind blies, der die Fahnenmasten bog und das feuchte Grün der flämischen Wiesen silbern schimmern ließ). Langsam fuhr ich mit dem Zug nach Hause, erstens weil ich keinen Pfennig mehr besaß und zweitens weil ich vermutete, dass die Geschichte mit der Aragonesin inzwischen vergessen war. Gott sei gedankt, dem war auch so. Mit der Hilfe eines Onkels aus Sabadell bekam ich einen Arbeitslosenausweis. Ich pries mich glücklich: Arbeitslosengeld zu bekommen und nicht malochen gehen zu müssen. Doch eines Tages lernte ich einen Typen von ich weiß nicht welcher sozialistischen Partei kennen. Er machte mich verbal so lange fertig, bis ich meine kontemplative Haltung dem Leben gegenüber bereute. Da ich Reue zeigte, bot er mir einen Job in einer Werbeagentur an, mit der er irgendetwas zu tun hatte. Die Arbeit war furchtbar: Textredaktion für neurotische Kunden, die nicht im Mindesten wussten, was sie wollten, und die beim ersten Problem von ihrer Anzeige Abstand nahmen. Die Krise, sagten sie, und ich weiß nicht, von welcher Krise sie sprachen (seit meiner Geburt spricht immer irgendjemand in meinem Umkreis von Krise). Eines Morgens aber erwischte man uns dabei, die Chefsekretärin und mich, wie wir unsere gesunden sexuellen Triebe befriedigten, etwas, was zwar schlimm war, aber nicht so eine große Bedeutung gehabt hätte, wenn nicht der Herr Chef persönlich (zusammen mit allen Mitgliedern des ehrenwerten Verwaltungsrates) die Entdeckung gemacht hätte, in dem Moment, als sie zur vorbereitenden Sitzung für die Jahreshauptversammlung den Raum betraten. Man muss dazu sagen, dass die Sekretärin und ich mitten auf dem langen, lackierten und leicht ovalen Tisch des Sitzungssaales bumsten (man verzeihe mir diesen unanständigen Ausdruck), um uns herum eine Riege von ehemaligen Generaldirektoren des Unternehmens (glücklicherweise allesamt längst verschieden), die uns durch eine ölige Patina hindurch aus prunkvollen Goldrahmen zuschauten. Man entließ uns. Auf der Straße und ratlos, was tun, fühlte ich mich dazu verpflichtet, sie zum Frühstück einzuladen. Sie heulte so furchtbar, dass die Leute um uns herum mich wohl für wer weiß welchen hinterhältigen Kindsmörder hielten und mir böse Blicke zuwarfen. Meine Stelle . . ., schluchzte sie und fing erneut an zu heulen. Geschickt entschuldigte ich mich zum WC. Ich flüchtete durch das Fensterchen, wie ich es in einer italienisch-amerikanischen Koproduktion gesehen hatte, ich kann mich nicht erinnern, ob in Farbe oder in Schwarz-Weiß. Sieh an, sagte ich zu mir, ein trauriges Ende einer zu leidenschaftlichen Liebe. Und ich sage Liebe, denn ich liebte dieses Mädchen wirklich. Ich verliebte mich erst wieder einen Monat später, als ich bereits in einem Zirkus als Jongleur arbeitete (ich hatte die Arbeit über den bereits erwähnten Onkel aus Sabadell bekommen, Textilfabrikant und in seiner Freizeit Akupunkteur). Nun ja, ich verliebte mich in eine Tigerdompteuse (die einzige in ganz Europa, stand auf dem Werbeplakat). Sie war groß und blond und blauäugig und hatte einen germanischen Akzent. (In Wirklichkeit war sie eine Frau aus Narbonne, falscher als ein falscher Fuffziger.) Sie hieß Louise, aber man nannte sie Ulrike, weil das nordisch und kühn klang. Ich verfolgte sie wie ein Wahnsinniger, schickte ihr Rosen, Nelken und Pralinen, spionierte durch ihr erleuchtetes Fenster, wenn sie sich auszog, bevor sie zu Bett ging (und manchmal konnte ich ihre Umrisse erahnen, die sanfte Bewegung ihrer Brüste, den Samt zwischen ihren Schenkeln). Eines Abends entschloss ich mich schließlich (der Zirkus hatte seine Zelte außerhalb von Elx aufgeschlagen: eine heiße Landschaft, hinter den Bergketten orangefarbenes Grau, der Mond wie eine Silbermünze), ihr meine ganze Liebe zu erklären. Klopf, klopf, klopf, nachdem ich die Stufen des Wagens hinaufgestiegen war, pochte ich an die Tür. Drinnen war es dunkel, niemand antwortete. Ich suchte sie auf dem ganzen Lagerplatz. Endlich fand ich sie in dem Tigerkäfig, wo sie es mit einem der Tiere trieb. Vor der Käfigtür hockend (hinter mir ihre Lustschreie und das orgastische Brüllen des Tigers), entschied ich, dass Jonglieren doch nicht meine Zukunft war. Am nächsten Morgen war ich bereits weit weg, verschwitzt und erschöpft, unter einer sengenden Sonne mit brennenden Füßen und einem dummen Blumenstrauß in der Hand, den ich auf der Stelle fallen ließ. Danach arbeitete ich als Kellner und Nachrichtensprecher, als Nachtwächter und technischer Zeichner, als Florist, als Maître in einem drittklassigen Restaurant, als Fischer an der isländischen Küste und als Hausverwalter. Jetzt geht mir erst auf, dass alles, was ich Ihnen bisher erzählt habe, nichts mit dem zu tun hat, was mir später passiert ist. Aber vielleicht mit dem, was ich jetzt erlebe. Ich weiß nicht. Abgesehen von einem Flattergeist war ich immer auch ein Zauderer. Eigentlich wollte ich Ihnen erzählen, dass ich eines Tages während eines Urlaubs in Cadaqués gestorben bin. Ich hatte mir den Tod wie einen schmerzhaften Traum vorgestellt, ich würde das Bewusstsein verlieren und zu einem kalten Nichts werden. Nun, und da ist mein Problem: Ich habe keinerlei Veränderung gemerkt: Ich wärme mir weiter meinen Schädel, und auch wenn ich nicht Hungers sterben kann, so habe ich doch derart Lust zu essen, dass ich nicht darauf verzichten kann und mir nichts anderes übrig bleibt als wie zuvor zu arbeiten oder eigentlich noch mehr. Sprechen wir nicht von den Verdauungsvorgängen. Was für einen Unterschied gibt es also zwischen Leben und Tod? Ich habe mir den ganzen Bergman reingezogen (allein Das siebente Siegel habe ich sieben Mal gesehen) und den ganzen Espriu gelesen. Nicht ein Wort habe ich verstanden. Ich habe mich für ihre Filme und Bücher interessiert, weil es heißt, sie sprächen über den Tod. Früher machte ich mir Sorgen; jetzt nicht mehr: Neulich habe ich einen kennengelernt, der ist schon zwei Mal gestorben. Wir sind sehr gute Freunde geworden, und am Wochenende fahren wir nach Sitges zum Flirten. Wir überlegen, ob wir eine Metzgerei aufmachen. Mir würde allerdings ein Käseladen im französischen Stil besser gefallen, auch wenn ich ihn sicher bald satt hätte. In der Zwischenzeit schreibe ich, wie ihr seht: Erzählungen.

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