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Rauch
ОглавлениеFür die Dinosaurierin
Meine Nachmittage verbringe ich gerne in Kneipen, eingehüllt in Rauchwolken und vor mir auf dem lackierten Holztischchen ein Glas Gin. Ich trinke zu viel, ich weiß, daher kommt auch der kleine Bauchansatz, der einer meiner Bräute kritisches Vergnügen bereitet, einer dieser Einmaldie-Woche-Lieben, du rufst an, ja?, ein kalter Kuss auf den Mund. Ich sitze gerne in einer ruhigen Ecke oder am Tresen und lese, lese viel und alles (Zeitungen, Zeitschriften, Romane) und mache Notizen: Auf einer Papierserviette fange ich an zu schreiben und schreibe, bis sie voll ist, dann nehme ich noch eine und noch eine und noch eine, alle sind ganz dicht beschrieben, Zeile für Zeile voll mit Buchstaben, bis schließlich eine Viertelstunde später der Serviettenspender leer ist. Dann reiße ich Seiten aus meinem Terminkalender, und wenn keine Blätter mehr da sind, höre ich auf zu schreiben und betrachte die um mich herumhockenden Leute, die Decke, die dunkel verkleideten Wände (die Pubs, die nichts von einem Pub haben, sind fürs Lesen am ruhigsten) und denke an andere Zeiten und überlege, was ich abends machen soll. Die Servietten und Kalenderseiten werfe ich normalerweise gleich auf der Straße weg, in irgendeinen Papierkorb. Häufig (vor allem in der letzten Zeit) weiß ich nicht, was ich abends machen soll, irgendwie ist alles nervig, ich wälze mich im Bett herum, das inzwischen schon ganz zerknittert ist. Nachts sehe ich die Dinge ganz finster und monströs (wie vermutlich jedermann), ich muss aufstehen, das Licht anknipsen und eine Platte von Maria del Mar Bonet auflegen (denn die Frau finde ich ziemlich klasse), dann warte ich, bis der Tag anbricht, und die Farbe der Gebäude von Schwarz nach Grau wechselt. Habt ihr das noch nie gemacht, auf den Sonnenaufgang gewartet und dabei beobachtet, was im Gebäude gegenüber passiert? Es gibt Leute, die früh aufstehen, und Leute, die immerzu schlafen, in Wohnungen, die unbewohnt aussehen, weil sich darin nie jemand bewegt, und andere, die die Fenster sperrangelweit aufmachen und in deren möbliertem Dunkel man eine Frau mit Kopftuch Staub wischen sieht. Doch dann ist der Morgen bereits sehr weit fortgeschritten. Bis dahin habe ich schon beobachtet, wie die Frühaufsteher das Treppenhaus durch eine Tür verlassen, die beim Öffnen zu lächeln scheint. Einige steigen ins Auto und fliehen (ich stelle mir vor ins Büro oder in die Fabrik). Im Sommer, wenn die Sonne hoch genug steht, lege ich mich auf die Fliesen und sonne mich. Im Winter gehe ich hinein und mache mir einen heißen Kaffee. Abgetaucht in eine laue Welt, der triefigen Träume überdrüssig, betrachte ich die Geräusche der Stadt. Wenn ich die Erkennungsmelodie der Presseschau höre, ziehe ich mich an, gehe auf die Straße hinunter, esse in der Bar an der Ecke zu Mittag und nehme die U-Bahn in die Stadt. Dort beginne ich mit meinem gemächlichen Rundgang. Ich kaufe Zeitungen und stöbere in Buchhandlungen. Wenn es dann ungefähr so spät ist wie jetzt (so halb neun), fühle ich mich stark genug, um im Berimbau am Passeig de Born einen Caipirinha zu trinken und mich zwischen die Leute im Màgic zu mengen, die in ihrer Jugendlichkeit ganz zerbrechlich wirken und neben denen ich mir sehr alt vorkomme. In meiner Vorstellung tadeln sie meine Gegenwart: Was willst du denn hier mit deinen vierundzwanzig Jahren? Und ich weiß nicht, ob ich den Kopf senken soll und um Verzeihung bitten, denn die Generationen fliegen nur so dahin und, ehe du dich versiehst, hast du die kurzen Hosen des träumerischen Jungen gegen Falten um gleichgültige Augen eingetauscht. Ach, das Alter. Ich würde gern diese halb fertigen jugendlichen, schlanken Körper umarmen, lecken. Und tue ich es nicht, so liegt das an einer Art abgrundtiefer Scham (so tief wie die Abgründe der Tiefsee). Sie (die Jugendlichen) bewegen ihre Füße im Takt des Blues, denn derzeit wird Blues im Màgic gespielt. Und Blues ist wie die Erinnerung an Städte, die man nie betreten hat, an frühe rauchige Morgenstunden in Vorstadtfabriken, an geräuschlose Knüppel auf Gummiköpfen, wie der Lichtschein auf den Helmen der Polizisten, die kurz davor sind loszuschlagen. Das (einschließlich des dezibelbedingten Platzens des Trommelfells) sind normalerweise meine Empfindungen im Màgic. Ich sage »normalerweise«, denn eines Nachts war es anders: Ein junger Mann kam auf mich zu (nicht älter als achtzehn, er hatte den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen, eine Zigarette im Mund, ein blauweiß gestreiftes T-Shirt an, kurze blonde Haare und eine überdimensionierte dunkle Brille) und nachdem er sich, ohne zu fragen, an meinen Tisch gesetzt hatte, wandte er sich in einem sanften, honigsüßen Ton an mich:
»Du kommst häufig ins Màgic?«
»Jeden Abend.«
»Ich habe dich noch nie gesehen: vielleicht weil ich heute das erste Mal hier bin.«
Und er brach in ein so blödes Lachen aus, dass die Gläser auf den Tischen, die Flaschen auf den Regalen, die Brillen der Kurzsichtigen zu Bruch gingen und die Musiker aufhörten zu spielen und ihn überrascht und wortlos anstarrten, wie alle anderen Leute auch. Dann kam er wieder zu sich, hörte auf zu lachen, machte seinen Mund zu (er hatte Zähne so breit wie ein Pferd) und schaute sich nach allen Seiten um, sein Blick (durch die dunklen Brillengläser hindurch) brachte das letzte Flüstern zum Schweigen. Er schnalzte mit dem Finger, und wie Automaten fingen die Musiker wieder an zu spielen. Er trank einen kleinen Schluck Cognac aus einem Longdrink-Glas und machte sich die Finger an einem kunterbunten Tuch sauber, das ihm um den Hals hing. Die Leute beobachteten ihn aus den Augenwinkeln, und die Musiker haderten mit der Melodie. »Weißt du?«, erklärte er mir in einem vertraulichen Ton (dieser Ton passt überhaupt nicht zu ihm, dachte ich bei mir). »Ich war nie ein virtuoser oder friedfertiger Mann: Ich ziehe sofort das Messer. Und zwanzig Sekunden später hat das Blut den Boden überschwemmt, und selbst nachdem die Fliesen ausgetauscht sind, wird er nie wieder vergessen, rot zu sein; da ich zu alt bin, um mich noch zu ändern, wäre es angebracht, wenn du nun zu den Musikern gehst und ihnen aufträgst, Fascinació zu spielen, einen Song, den ich supertoll finde.« Der Gitarrist unterbrach den Blues, als er mich auf sich zukommen sah. Ich flüsterte ihm den Auftrag ins Ohr und kehrte zu meinem Stuhl neben ihm zurück. Fascinació erklang, und ich glaube, die Musiker hatten in ihrem Leben noch nie so gut gespielt. Der im gestreiften T-Shirt mit dem blöden Lachen bekam sofort feuchte Augen, und eiergroße Tränen tropften auf den Fußboden, wenn er sie nicht zuvor mit seinem Tuch abtupfte. Kurz darauf wirkten die Musiker erschöpft, das Halstuch war nass wie ein Scheuerlappen. »Es reicht«, sagte er, »ihr könnt aufhören.« Die Musiker brachen auf der Stelle ab, er erhob sich von seinem Stuhl und entfernte sich über die Treppen hinauf. Wir blieben alleine und schweigend zurück, verloren wie nie zuvor. Kein Mensch traute sich, auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen, und alle flohen mehr oder weniger schnell in ihre gewöhnlichen Behausungen. Am nächsten Tag, während des Frühstücks am späten Vormittag, sahen wir sein Foto in der Zeitung mit einer traurigen Schlagzeile: »Gefasst! Er versuchte, eine Ladung rosaroter Schmetterlinge über die Grenze zu bringen.« Es war ein sehr schlechtes Foto von ihm, er sah grau und flach aus, ohne bestimmbares Alter. Ich warf die Zeitung auf den Boden und früher als sonst startete ich zu meiner Runde. Ich treibe gerne auf Meeren aus kaltem Öl: mich an Gesten, Personen und Dinge erinnernd, die Körper der Jugendlichen betrachtend, wenn sie ihren Fuß im Takt bewegen. Vielleicht schließe ich mich eines Tages in ein Zimmer ein und betrachte die Welt durch das schmutzige Fensterloch mit einem Transistorradio am Ohr. Dann muss ich mir die ganzen verlorenen Jahre zurückholen und mir die Gegenwart erfinden. Im Augenblick kann ich noch nicht den Geruch zukünftiger Ereignisse behalten, denn es ist schwierig zu behalten, was noch kommen soll. Oder umgekehrt. Genug. (Angetörnt und schwerfällig stehe ich um diese Uhrzeit gewöhnlich auf, da ich sichtlich nicht mehr weiß, worüber ich mit mir rede, zahle meine Rechnung, öffne die Tür und verlasse die Bar. Was es darüber hinaus geben soll, weiß ich nicht.)