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1 Streben Sie nach Kritik‐ und Lernfähigkeit

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Neulich unterhielten wir uns mit einem Venture‐Capital‐Geber über die Qualitäten, nach denen er Ausschau hält, wenn er darüber nachdenkt, ein Unternehmen zu erwerben. Ich mutmaßte, dass er seinen Fokus auf Dinge wie Rentabilität und Wachstumspotenzial legen würde. Aber zu meiner Verwunderung setzte er Kritik‐ und Lernfähigkeit bei Führungskräften ganz oben auf die Liste.

Ich habe über die Jahre hunderte Führungskräfte – in Krankenhäusern, auf Baseball‐Feldern, in Behörden sowie in Hotels, Geschäften und Restaurants – kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet und gesehen, wie Kritik‐ und Lernfähigkeit in Aktion aussehen. Organisationen, die diese beiden Eigenschaften in ihren Führungskräften (genau genommen in allen Mitarbeitern) fördern und nähren, sind tendenziell stark, innovativ und rentabel.

Das sollte uns nicht überraschen. Heutzutage verlangt das Wirtschaftsumfeld von uns schnelle und unermüdliche Anpassung. Das bedeutet: Führungspersonen müssen nicht nur großartig in dem sein, was sie tun, sondern sie müssen auch großartige Lerner sein. »Sie müssen wissen, was sie nicht wissen« – und bereit sein, hart zu arbeiten, um es zu erlernen.

Kritikfähigkeit heißt, dass man weiß, was man gut kann und was nicht. Es heißt, dass man seine Schwächen nicht versteckt und seine Fehler nicht vertuscht. Man täuscht nicht vor, alles zu wissen. Es heißt, Bescheidenheit zu praktizieren und sich Lernen zu eigen zu machen. Transparenz und Verletzlichkeit machen es nicht nur Menschen leicht, Sie zu mögen und Ihnen zu vertrauen, sondern sie geben auch anderen Führungskräften und Beschäftigten das richtige Beispiel. Wenn jeder bereit ist, Risiken einzugehen, aus Fehlern zu lernen und Gelegenheiten zu ergreifen, um zu lernen und zu wachsen, gedeihen Organisationen.

Lernfähigkeit bedeutet nur, dass man offen für Feedback ist. Durch konstruktive Kritik geraten Sie nicht aus der Fassung. Vielmehr sind Sie dankbar dafür, denn Sie wollen sich verbessern und wachsen, persönlich und beruflich. Sie wollen ein besserer Chef, Ehepartner, Partner, Elternteil oder Freund sein (und Sie wissen, dass Wachstum Einfluss auf all diese Rollen hat).

Kritik‐ und Lernfähigkeit sind miteinander verbunden. Die eine führt naturgemäß zur anderen. Wenn wir wissen, was wir an uns verbessern müssen, werden wir uns eher bei anderen Hilfe suchen, die uns coachen können. Wenn wir uns diese Hilfe suchen, werden wir noch selbstkritischer. Dies ist ein Kreislauf, der auf sich selbst aufbaut. Der schwierigste Teil ist der Anfang, aber dann wird es leichter.

Wenn diese beiden Eigenschaften Teil Ihrer Unternehmenskultur werden, sind Sie auf dem Weg zu einer unaufhaltbaren Organisation. Es ist dann leichter, Beschäftigte zu fesseln und motivieren. Leistungsträger werden angezogen (und mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in Ihrem Unternehmen bleiben). Die Produktivität wird in die Höhe schnellen.

All dies kann mit einer einzigen Führungskraft beginnen. Indem Sie Ihre eigene Performance verbessern und anderen mit gutem Beispiel vorangehen, indem Sie daran arbeiten, selbstkritischer und lernfähig beziehungsweise coachable zu sein, werden Sie andere inspirieren, es Ihnen gleichzutun. Wenn Sie anderen helfen wollen, sich zu verbessern, gibt es tatsächlich keine Alternative. Mit der folgenden Geschichte möchte ich Ihnen veranschaulichen, was ich meine:

Vor vielen Jahren arbeitete ich in einem Zentrum zur Behandlung von Alkohol‐ und Drogensucht. Ich traf die Tochter einer Patientin, einer alleinerziehenden Mutter mit einem Kind, dessen Vater sich aus ihrem Leben gestohlen hatte. Diese Tochter kämpfte in vielerlei Hinsicht, sie gab sich sogar die Schuld an der Alkoholsucht ihrer Mutter. Zufällig kannte ich eine Vertrauenslehrerin an der Highschool dieser Tochter, die mir einige Monate zuvor erzählt hatte, dass sie selbst auch in einer Familie mit Alkoholproblemen aufgewachsen war. Ich dachte, diese Vertrauenslehrerin sei eine perfekte Ansprechpartnerin für die Tochter der Patientin.

Als ich sie anrief und danach fragte, hielt sie inne. Sie entschuldigte sich und sagte, sie könne nicht mit diesem Mädchen sprechen, weil sie (die Vertrauenslehrerin) sich noch nicht einmal mit ihren eigenen Problemen auseinandergesetzt hätte. Fast 30 Jahre hat mich diese Geschichte beschäftigt. Es ist schwierig, eine andere Person weiter zu führen als sich selbst.

Hier bekommen Sie einige Tipps, wie Sie selbstkritischer und lernfähiger werden:

Machen Sie sich klar, dass besser werden innen beginnt. Es ist nicht »sie«, es ist »Sie«. Als ich noch jünger war, lebte ich in der Welt von »wenn nur«. Wenn ich nur zu dieser Schule gegangen wäre, dieses Abiturfach gewählt hätte, in eine reiche Familie geboren worden wäre, mehr Chancen bekommen hätte, mehr wertgeschätzt worden wäre, dann wäre mein Leben jetzt besser. Das Problem lag für mich immer bei den anderen: den Eltern, Lehrern etc. Es waren immer sie schuld. Dann erlitt ich im Alter von 31 Jahren einen Nervenzusammenbruch. Ich suchte mir professionelle Hilfe und fand weitere Ressourcen, aus denen ich lernen konnte. Schon bald erkannte ich, dass das Problem nicht sie war; es waren ich und meine Erwartungen. Ich erkannte, dass ich mich quälen werde, bis es mir in meinem Inneren besser geht.

Bitten Sie um Feedback (und hören Sie wirklich zu). Sprechen Sie mit Ihrem Boss, mit anderen Führungskräften, Angestellten, Freunden und Familienangehörigen. Fragen Sie sie, wo sie Ihre Stärken und Schwächen sehen. Wie haben Sie ihrer Meinung nach kürzlich ein Projekt ausgeführt? Was hätten Sie besser machen können?

Den Boten trifft keine Schuld. Wenn Sie negatives Feedback bekommen, hören Sie zu, ohne eine Reaktion zu zeigen. Wenn Sie merken, dass Sie sich aufregen, schlagen Sie nicht um sich. Verarbeiten Sie die Information und denken Sie eine Zeit lang darüber nach, bevor Sie die Entscheidung treffen, ob sie stichhaltig ist oder nicht. Häufig werden Sie zugeben müssen, dass sie es ist. Es ist schwer, negative Wahrheiten über sich selbst zu hören, aber mit der Übung können wir offener dafür werden.

Nehmen Sie die »Geisteshaltung eines Anfängers« an. Menschen, die den »Anfängergeist« leben, arbeiten tendenziell besser in Teams als solche, die immer denken, sie seien ein Guru oder Experte. Seien Sie immer bereit und willens, sich zu beteiligen, zu dienen und Ihre besten Erkenntnisse zu teilen. Sie werden erheblich mehr lernen. Überprüfen Sie beispielsweise Ihre Haltung vor einem Meeting. Gehen Sie immer in die Gruppe mit dem Ziel, etwas zu lernen. Anstelle der Einstellung: Das betrifft mich nicht oder Das interessiert mich nicht, fragen Sie sich: Inwiefern könnte das für mich gelten? Inwiefern könnte das jetzt für mich nützlich sein – und wenn nicht jetzt, dann vielleicht später?

Führen Sie ein »Rechenschaftspflicht «‐Buch. Schreiben Sie Ihre Ziele und Pläne auf und aktualisieren Sie regelmäßig, was Sie tun, um diesen näherzukommen. Verfolgen Sie Ihren Fortschritt über einen längeren Zeitraum. Tun Sie das, was Sie sich vorgenommen haben? Wenn nicht, was könnte Sie davon abhalten? Diese Fragestellungen schriftlich zu erörtern kann zu überraschenden Erkenntnissen im Hinblick auf Ihre Stärken und Schwächen führen.

Ergreifen Sie jede Gelegenheit, um sich weiterzuentwickeln. Während die meisten Unternehmer großartig in der Kern‐»Fähigkeit« sind, auf denen ihr Unternehmen basiert – Kochen, Buchhaltung, Rechtsprechung –, so beherrschen sie doch üblicherweise die Fertigkeiten nicht, die notwendig sind, um ein Unternehmen zu lenken. Sie müssen die Grundlagen erlernen wie Einstellen, Kündigen, neue Einnahmequellen schaffen etc. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die erfolgreichsten Kleinunternehmer diejenigen sind, die selbstkritisch genug sind zu erkennen, was sie nicht wissen, und sich Ressourcen zunutze machen, die ihnen helfen können.

Stellen Sie Menschen ein, die smart er sind als Sie. Stellen Sie sicher, dass sie willens sind, Sie herauszufordern (und dass Sie offen für Herausforderungen sind). Sich mit einem Pack von »Jasagern« zu umgeben, wird Ihnen nicht helfen zu wachsen.

Besorgen Sie sich einen Mentor, seien Sie ein Mentor (oder beides). Jim Clifton, der Vorstand und CEO von Gallup und Autor von Der Kampf um die Arbeitsplätze von morgen, schreibt über die Notwendigkeit von – wie er sie nennt – »Super‐Mentoren«. Er sagt, Super‐Mentoren sind diejenigen, die Innovatoren und Unternehmern Feuer unterm Hintern machen und Kleinunternehmen betreuen und beraten. Er nennt sie »die Helden, die Amerika in diesen Zeiten braucht«.

Es stimmt: Mentoring ist mächtig. Ob Sie einen Mentor haben oder jemand anderen betreuen, diese Beziehung kann auf beiden Seiten enormes Wachstum entfachen. Großartige Mentoren wissen, dass sie keine fertigen Produkte sind, und lernen häufig genauso viel von ihrem Schützling wie der Schützling von ihnen.

Haben Sie keine Angst, Ihre Meinung zu ändern. Wir neigen dazu, zu denken, dass starke Führungspersonen ihre Entscheidungen schnell, entschlossen und unbeirrt treffen. Zumeist werden sie dafür gelobt, konsequent zu sein, und ihre Überzeugtheit vermittelt ihrem Team ein Gefühl von Sicherheit und Bestärkung. Andererseits werden Führungskräfte, die ihre Meinung ändern oder sich eine neue Sichtweise zu eigen machen, als »Wendehälse« betrachtet und als wankelmütig verspottet oder ihre Äußerungen als Wischiwaschi bezeichnet.

Die Wahrheit ist aber, dass Führungskräfte, die für das Lernen neuer Informationen und das entsprechende Anpassen ihrer Sichtweise offen sind, letztendlich erfolgreicher sind. Ihre Meinung zu ändern ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen dafür, dass sie in der Lage sind, in Echtzeit zu lernen und zu wachsen. Legen Sie sich niemals zu stark auf Ihren ersten Entschluss fest. Haben Sie stattdessen den Mut, einzugestehen, dass Sie möglicherweise falsch gelegen haben, und die Flexibilität, den Kurs zu korrigieren, wenn neue Informationen eingehen. Gute Führungskräfte wissen, dass neue Informationen, die ihrem aktuellen Standpunkt entgegenstehen, keine Bedrohung darstellen, sondern einen Vermögenswert, den man sich zunutze machen muss, um den Plan zu stärken.

Beim Lernen gibt es keine Ziellinie. Es gibt immer etwas zu lernen. Ich denke, ich ging irgendwann davon aus, dass ich eines Tages genug wissen würde. Aber das stimmt einfach nicht. Es gibt immer noch mehr zu lernen und Lehrer präsentieren sich auf viele unterschiedliche Arten und Weisen. Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer. Gelehrig bleiben ist der Schlüssel.

Selbstkritisch und lernfähig zu werden bedeutet nicht, dass man nach Perfektion strebt. Niemand von uns wird je perfekt sein. Es bedeutet, die schlimmsten Schwächen auszumachen, die uns bremsen, und aufrichtig daran zu arbeiten, sie auszumerzen. Es bedeutet, zu wissen, welche Aufgaben man delegieren sollte und wann man den Rat von Experten einholen sollte. Es bedeutet, jeden Tag deutlicher zu erkennen, was man alles nicht weiß.

Wir sind auf einer Reise, die wir nie beenden werden. Unsere Hauptaufgabe als Führungskraft besteht darin, sicherzustellen, dass wir uns auf diesem Weg immer in die richtige Richtung bewegen.

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