Читать книгу Der letzte Flug des Chyratos - R.A. Liebfahrt - Страница 15

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Die erste Flugstunde

„Was bedeutet Freiheit? Bin ich wirklich frei? Habe ich noch einen freien Willen?“ Diese und ähnliche Fragen geistern mir durch den Kopf. „Werde ich manipuliert und missbraucht für eine Sache, welche ich gar nicht möchte? Benutzt mich Dominique für ihre Rache an den Menschen und an diesem System? Ist dies eigentlich mein Kampf?“ „Kannst du auch nicht schlafen?“, höre ich plötzlich Niki sprechen. „Nein, mir geht einiges durch den Kopf und viele Gedanken plagen mich“, antworte ich. „Mir auch“, spricht Niki weiter, „ich möchte dir aber danken.“ „Wofür?“, frage ich nach. „Du hast mich einfach mitgenommen und gerettet, und du stützt mich, obwohl ich sehr frech zu dir bin.“ „Ich könnte jetzt sagen, ich hatte keine andere Wahl, weil sonst keiner außer dir da war, Niki, aber letztendlich brauche ich dich, da ich niemanden mehr habe, der mich stützt. Obwohl du nur so ein kleines freches Huhn bist, hast du eine große Stärke, und das tut gut. Auch dein Humor ist nicht zu verachten, denn sonst hätten wir nichts zu lachen, und schließlich sind es auch deine Handlungen, welche zwar unvernünftig sind, aber doch zum Ziel führen, und deshalb mag und brauche ich dich.“ Es herrscht eine Stille, obwohl kein Wort fällt, sind wir verbunden. Beide verfallen wir in einen tiefen Schlaf, frei von wirren Gedanken und Belastungen.

„Aufstehen!“, höre ich auf einmal jemanden rufen. Es ist Dominique, welche mich und Niki aus dem Schlaf reißt. „Es ist schon halber Vormittag und ihr pennt immer noch, ihr Faulpelze“, legt Dominique nach. „So gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen“, berichte ich Niki. „Ich auch nicht“, antwortet sie mir. „Los, nehmt schnell euer Frühstück ein, denn heut ist der Tag der Entscheidung, und den sollten wir nutzen“, fordert Dominique uns auf, unser Tempo zu beschleunigen. Schnell essen wir ein paar Happen und gehen dann vor die Hütte. Es ist heute ein wunderschöner Tag. Die Sonne scheint strahlend vom Himmel, und dieser zeigt sich in einem Blau, das mit nichts vergleichbar wäre. Dominique war sehr aktiv und hat alles hergerichtet. Auf zwei Tischen stehen Schüsseln, Kessel sowie Schalen und Teller, alle gefüllt mit Zutaten und sonstigen Gebräuen. Ich ahne schon Schlimmes, lasse mir aber nichts anmerken. „So, Frederik“, beginnt Dominique zu sprechen, „heute ist der entscheidende Tag, es ist dein erster Flugtag nach langer Pause.“ Sie kommt zu mir und nimmt mir den Verband ab, welcher den lahmen Flügel stützt, und enthüllt ihn langsam. Schmerzen habe ich keine, dafür habe ich auch kein Gefühl in dieser Schwinge. „Muss das schon sein?“, frage ich sie. „Frederik, es ist Zeit, und du brauchst keine Angst zu haben, vertrau mir einfach.“ „Ich habe aber Angst, ich habe große Angst vor dem nächsten Absturz. In mir sind noch immer die Bilder vom letzten Flug und meiner Hilflosigkeit“, entgegne ich ihr. „Ich bin einfach noch nicht so weit“, spreche ich weiter. „Doch, du bist so weit, du wirst die Angst und die Erdanziehung überwinden, dann bist du richtig frei, frei wie ein Kaiseradler.“ Dieser Gedanke ermutigt mich, trotzdem sage ich: „Kannst du dein Experiment nicht vorher mit Niki ausprobieren, so wie immer? Es schadet nicht, wenn auch sie fliegen kann.“ „Du Feigling“, höre ich Niki spotten, „immer die Kleinen zuerst hinlassen, das könnte dir so passen. Zeig und sag es ihm, Dominique, er ist der König der Lüfte und ich nur die Begleiteskorte“, spricht Niki Dominique an. „Schon gut“, rede ich dazwischen, „ich stelle mich der Herausforderung und sollte ich wieder abstürzen, dann bläst dich Dominique einfach zu einem Ballon auf und lässt dich steigen, ein gefiederter Aufklärungsballon fällt ja eh niemandem auf“, spaße ich zurück. „Ich werde dir gleich die Schwingen stutzen, du einflügelige Concorde.“ „Aufhören“, mischt sich Dominique ein, „für euer Geplänkel haben wir nicht die Zeit. Bist du bereit, Frederik?“, spricht sie mich an. „Ei, Ei, Frau Konstrukteur“, antworte ich Dominique, „es kann losgehen.“ Daraufhin zieht Dominique meine Flügel ganz sachte und langsam auseinander. Meine Spannweite ist so groß, dass auch Niki auf der einen Seite helfen muss. „Spürst du etwas?“, fragt Dominique nach. „Nein, ich spüre nichts, rein gar nichts“, antworte ich ein wenig enttäuscht. „Das ist gut, dann werden wir es zum Fließen bringen“, beginnt Dominique ihre Behandlung, oder soll ich besser sagen ihr Ritual, oder noch besser die Operation beginnt? Mit dem verkehrten Silberlöffel streift sie über meine Flügel, Bahn für Bahn, Nervenstrang für Nervenstrang, Feder für Feder. „Deine Adern sind jetzt frei“, sagt sie zu mir, „wir müssen sie nur mehr mit Energie füllen.“ Sie geht zum rechten Kessel, rührt kräftig um, schöpft die Brühe in eine Schale, streut verschiedene Kräuter und Essenzen darüber, spricht, betet oder beschwört diesen Trank mit Zauberformeln, reißt mir den Schnabel auf und leert mir die ganz Schale voll hinunter. Ich gurgle und schlucke, und weiß nicht, wie mir geschieht. Ein Blitz durchzuckt meinen Kopf, ich sehe Sterne vor mir leuchten und blinken, ein Wirbelwind dreht meine Gedanken und Gefühle wie eine Spirale nach oben, da blitzt es nochmals und ein heller Strahl kommt mir entgegen und durchflutet mich mit Kraft und Energie. Ohne zu fragen beginnen meine Flügel zu schwingen, und mit einem Satz erhebe ich mich direkt in die Lüfte. Gerade nach oben führt der Weg und es geht gar nicht schwer. „Du musst sie kontrollieren!“, ruft mir Dominique nach. Doch unaufhörlich schiebt mich mein Raketenantrieb weiter und meine Flügel funktionieren ganz automatisch, wie ein Turboantrieb. Die Geschwindigkeit steigt und steigt. Dominique und Niki sind fast schon nicht mehr zu sehen, ich kann nur mehr Umrisse erkennen. Komisch, ich verspüre keine Angst und keinen Druck, und eine Stimme in mir sagt, ich will dies einfach auskosten. So steige ich höher und höher, über die Wolken und darüber hinaus, und weil ich nicht stoppen will, durchbreche ich die Erdaußenhülle und will es einfach wissen, es gibt kein Zurück mehr, jetzt nicht mehr, und niemand kann mich aufhalten. Immer weiter schiebt mich mein Antrieb, mein Federkleid schützt mich vor dem Verglühen, wie ein Panzer hält es alles ab, was mir schaden könnte. Ich vernehme ein lautes „Plopp“, gleite weiter, und merke, wie ich jetzt schwebe, meine Flügel legen sich an, denn ich brauche sie nicht mehr. Schwerelos gleite ich weiter und es fühlt sich so unglaublich schön an, eine innere Freude durchzieht mich und meinen Körper, „so also fühlt sich Freiheit an“, sinniere ich vor mich hin und weiß, ich habe Raum und Zeit durchbrochen und befinde mich im himmlischen Universum. Dieses Gefühl möchte ich nicht mehr verlieren und fliege weiter, immer weiter in meiner freien Welt. Ich weiß nicht, wie lange ich schon so unterwegs bin, vielleicht nur ein paar Minuten, oder sind es doch Lichtjahre? Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal, unendlich ist mein Glück und unendlich mein Weg. In diesem Delirium trifft mich ein greller Strahl, und dringt tief in mein Denken ein. Ich höre wieder diese innere Stimme, welche sagt: „Du musst deine Mission erfüllen, du musst sie retten, du musst zurück!“ „Ich weiß“, spreche ich vor mich hin, „aber lass mich noch ein wenig baden in dieser himmlischen Fülle.“

Nach einer Weile habe ich das Gefühl, ganz aufgeladen zu sein, ganz langsam versuche ich meine Flügel zu bewegen, und tatsächlich, sie bewegen sich und gehorchen mir. Es ist Zeit für die Umkehr, doch ich komme wieder, denn meine Mission hat erst begonnen. Nach der ersten Orientierung sehe ich die Erde unter mir. Ich nehme Anflug, zuerst kerzengerade nach oben, kurz eine Wende und dann geht es schnurstracks direkt auf diesen blauen Ball zu. Ich kenne mich gar nicht wieder, ohne Angst und ohne nachzudenken steuere ich auf die Erde zu, lege die Schwingen an, wie ein Torpedogeschoss durchdringe ich die Erdkruste. Sofort merke ich einen Widerstand und gleich darauf den freien Fall. Ich werde schneller und schneller, falle wie ein toter Vogel vom Himmel, besinne mich Gott sei Dank rechtzeitig darauf, dass ich gebrauchsbereite Flügel besitze, breite sie auseinander, sofort wird die Geschwindigkeit reduziert. Leicht und elegant befinde ich mich jetzt im Landeanflug und nach kurzer Gegensteuerung setze ich sanft auf der Erde, direkt vor der Hütte auf. „Atterissage suplime (elegante Landung)“, ruft Dominique erfreut zu mir herüber. „Ich würde eher sagen Raketon on Karambolage (abgestürzte Rakete)“, lacht Niki, kommt zu mir gehüpft und flüstert mir ins Ohr: „Du bist der größter Adler!“

Der letzte Flug des Chyratos

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