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Die Versuche

Mir geht es von Tag zu Tag besser. Die Therapie von Dominique schlägt voll an. Ich hüpfe sogar auf einem Bein über den Vorhof. Das andere kann und darf ich noch nicht belasten, aber ich hasse diesen schrecklichen Stützstrumpf, wie das aussieht! Ich spüre ein leichtes Zucken und Kribbeln im Flügel, „ein gutes Zeichen“, meint Dominique, „der Lebensstrom kommt zurück“, bemerkt sie lächelnd. Niki hat sich als Küchen- und Siedegehilfin etabliert. Sie bringt Dominique die Zutaten ihrer Mixturen, aber meist die falschen, doch wie soll ein dummes Huhn auch was von Heilkunde verstehen? Auch mein Geist wird wieder aktiv. Mir fällt vieles auf. Mir fällt auf, dass wir hier nur Kerzenlicht benützen, und keine etwaigen Leuchtgefäße mit Zuleitung und Masten zu finden sind. Mir fällt auf, dass der Holzvorrat sehr groß ist, und jeden Tag der Herd und der Kessel erhitzt werden. Mir fällt auch auf, dass Dominique keines dieser komischen Dinger, welche sich die Menschen an die Ohren halten oder vor sich hinstellen und hineingaffen, besitzt. Mir fällt auf, das Dominique allein ist, denn seit unserer Ankunft durch das Dach habe ich noch keine andere Menschenseele zu Gesicht bekommen. „Ist sie eine Aussteigerin, oder ist sie vielleicht verbannt worden, ein Exil im Niemandsland sozusagen? Warum erzeugt sie Mixturen und für wen? Natürlich bin ich dankbar, ich bin ihr einziger Patient, und werde dies wahrscheinlich auch bleiben, bis ich ganz gesund bin. Warum pflegt sie mich eigentlich gesund? Wäre es nicht sinnvoller, von mir und Niki eine kräftige Hühnersuppe zu machen?“ Diese und ähnliche Fragen kommen mir so in den Sinn. „Was mache ich dann, wenn ich gesund bin, wo fliege ich hin, wo ist mein Zuhause? Habe ich überhaupt noch ein Zuhause? Welche Perspektiven habe ich? Alleine über ein zerstörtes Gebiet zu herrschen, na, das sind ja Aussichten.“ „Worüber denkst du nach?“, fragt plötzlich eine Stimme. Es ist Niki, wie immer ganz ungeniert. „Ich kenne dich genau, du großer Greifer heckst etwas aus.“ „Tue ich nicht!“, antworte ich. „Ich mache mir halt Sorgen, was morgen sein wird.“ „Du denkst zu viel, genieße einfach den Tag und lass es dir gut gehen. Pflegt Dominique dich nicht großartig?“ „Du hast ja Recht, aber mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, und ignorieren kann ist sie nicht, noch nicht!“

Es ist Zeit für meine Übungen und Dominique kommt daher. Ich nicke mit dem Kopf und gebe damit meine Einverständniserklärung ab. Wir kommunizieren auf dieser Basis, und es funktioniert gut. Behutsam nimmt sie den Verband ab, rollt ihn zu einem Bündel zusammen. Dann tastet sie meinen Flügel genau ab. Wieder nimmt sie den Löffel und streicht ohne den Flügel zu berühren drüber. Bei diesem Vorgang spüre ich genau die Energie und die Nervenstränge, es zuckt und reißt. Nickend gibt mir Dominique ihre Zufriedenheit zu verstehen. Mit einer Flasche mit normalem Wasser, jedenfalls scheint es für mich so, tröpfelt sie leicht über die verletzten Stellen. Wie gut sich das anfühlt, Wärme durchströmt die Gegenden am Flügel. Jetzt nimmt sie die Flügelspitze und zieht sie ganz sachte auseinander. Ein bisschen verkrampft halte ich entgegen. „Lass locker, ganz locker“, gibt mir Dominique ein Zeichen. „Es geht, glaube es mir!“, und in diesem Moment zieht sie mit einem starken Ruck den Flügel auseinander. Ein kurzer Brenner, ein Schmerz und ausgebreitet ist die Schwinge, ohne wieder abzubrechen. Normalerweise ist das nicht meine Art, aber ich muss ihr meine Dankbarkeit zeigen. So lege ich meinen Kopf an ihre Schulter, und sie versteht. „Ist schon gut!“, meint sie, „ich habe dir doch gesagt, dass wir es hinkriegen. Weißt du“, spricht sie weiter, „ich hatte noch nie die Ehre, einen Kaiser zu pflegen, ich verneige mich vor dir, Aquila heliaca“, und sie beginnt zu lachen. Sofort ist auch Niki zur Stelle und macht einen Hofknicks: „Stets zu Diensten, Majestät.“ „Ja, ja, mach dich nur lustig über mich, aber einen Hofnarren braucht jeder Kaiser auch, und dafür bist du genau der Richtige!“ Ich packe Niki mit dem Schnabel und rolle ihn wie eine Kugel durch den Raum. Daraufhin schnappt sich Dominique den kleinen Vogel, und sagt: „Halt, dich brauche ich noch, ich habe was auszuprobieren!“, und beginnt schelmisch zu grinsen. „Nein, nein, nicht in den Suppentopf“, fängt Niki an zu schreien, als Dominique sie über ihre brodelnden Töpfe hält. „Ich bin noch zu jung zum Sterben“, gackert das arme Ding vor sich hin. „Vertrau mir, du bist einfach mein Versuchsobjekt, es passiert dir schon nichts“, redet Dominique jetzt auf Niki ein, und im gleichen Atemzug ist Niki im Topf verschwunden. Sofort zieht Dominique den Vogel wieder heraus, dies wiederholt sie dreimal, bis sie das Huhn wieder abstellt. Nach der ersten Betrachtung und dem Staunen beginne ich laut zu lachen. Vor mir steht ein kunterbuntes Huhn, das alle Farben spielt, komischerweise sind auch die Federn gewachsen und lange, und nicht mehr so zerrupft wie gerade noch vorhin. Es sieht fast aus wie der Federnschmuck bei einem Indianerhäuptling. Laut erschallt mein Gelächter, was man aus einem Huhn alles machen kann. „Das finde ich nicht lustig“, gackert die Henne grantig. „Was hast du mit mir angestellt?“, blickt Niki Dominique empört an, welche nur darauf meint: „So habe ich mir dich immer schon vorgestellt, schließlich muss auch ein Huhn zu meinem Outfit passen! Vielleicht muss ich noch an den Konturen arbeiten, aber gar nicht schlecht für den Anfang“, bemerkt Dominique zufrieden. „So kann ich mich nirgends mehr sehen lassen, was werden die anderen Hühner sagen? Ich grabe mich am besten gleich selber ein.“ „Wer soll dich schon sehen? Es gibt keine anderen Hühner mehr, und mir gefällst du so!“, bemerke ich, um Niki ein wenig zu beruhigen. Doch sie senkt den Kopf, „Was, es gibt keine anderen Hühner mehr?“, sinniert sie vor sich hin. „Ich hatte das fast vergessen, und du bist der letzte Adler!“ In diesem Augenblick fällt mir Femina wieder ein. „Warum haben wir heuer nicht gebrütet, warum hat Femina kein Ei mehr gelegt? Ich würde alles dafür geben, ein kleines, fresslustiges Adlerküken zu füttern.“ Vielleicht waren es die Strahlen, welche uns unfruchtbar gemacht haben. Vielleicht waren wir einfach nur zu unterernährt und zu schwach um zu brüten! „Wem soll ich alle meine Künste beibringen?“ Aus und Schluss, es wird alles vergehen, am liebsten würde ich mir den Flügel selber brechen. „Schau mich an!“, höre ich plötzlich jemanden sagen. Ich schließe meine Augen und sehe Femina, wie sie mir entgegen fliegt und lacht. „Vertraue dir und der Welt, du darfst nicht aufgeben, du musst sie suchen, die Quelle, die Quelle, von der alles Unheil ausgeht, du hast die Kraft und die Stärke sie zu vernichten!“ Vor mir baut sich ein unendlicher Kosmos auf, eine unendliche Weite breitet sich aus, ein himmlisches Blau in allen Variationen erfüllt mein Herz. In meinen Gedanken schwebe ich in diesem Blau, und es kann nichts Schöneres geben als hier zu fliegen. Es ist die Fülle, das Universum in Ekstase. Nichts und niemand kann dies stören, ich gleite weiter und weiter. Ein Rauschen beendet die Idylle, ein Ding mit Flügeln und Körper kommt auf mich zu. Es ist kein Lebewesen, sondern ein Metallgerüst ganz nach Konstruktion auf Menschenart. Was will es hier, und warum stört es meinen Himmel?

„Das Essen ist fertig!“, höre ich auf einmal Dominique rufen, und bin wieder zurück in dieser Welt. Gefesselt noch von meinem Traum, würge ich die Fleischhappen hinunter, und weiß nichts über die Bedeutung dieser Bilder. „Du willst mir etwas sagen“, schaut mich Dominique an. Sie kennt mich wirklich gut inzwischen, ihr kann ich nichts mehr verheimlichen. Sie streicht mir über die Federn, und meint nur: „Wir müssen an unserer Verständigung arbeiten, und ich weiß auch schon wie. Wir werden uns prächtig verstehen!“, und zupft mich dabei an den Schwanzfedern.

Der letzte Flug des Chyratos

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