Читать книгу Der letzte Flug des Chyratos - R.A. Liebfahrt - Страница 4
ОглавлениеÜber den Wolken
Majestätisch breite ich meine Flügel aus und gleite hinaus aufs weite Meer. Stürmisch und wild drückt die Luft von unten. Ein guter Auftrieb, will ich meinen, und dies spürt man. Einmal schlage ich die Flügel und steige leicht nach oben. Alles Können, alles Routine, es ist einer der tausenden Starts von meinem Horst hinaus in die Weite. Hier fliege ich, hier herrsche ich. Alles unter mir ist mein Reich und ich herrsche darüber.
Ich habe alles im Griff, die Orientierung habe ich im Kopf, so schließe ich die Augen und lasse alles wie einen Film herunterlaufen. Genau unter mir befindet sich der Almsee, tief eingebettet im Gebirge der zirbischen Alpen. Ein Gipfel ragt besonders und markant hervor. Es ist der „Aquila heliaca“, der Kaiseradler, nach mir benannt. Gemeinsam herrschen wir hier und keiner hat es bisher gewagt, dies zu ändern. Ich steigere meine Flughöhe, damit ich nicht wieder bei der Spitze einhake wie neulich, wo ich nur mit Müh und Not die Stabilität des Fluges wieder herstellen konnte. Doch heute passiert mir das nicht. Leicht blinzelnd spähe ich durch meine Adleraugen, Gott sei Dank, ich bin hoch genug. Ich ziehe meine Kreise ganz alleine, und das wird auch so bleiben, denn ich bin der Letzte meiner Art. Zu lange, viel zu lange warte ich auf meine „Domina Aquila“. Sie war ausgeflogen um Nahrung zu suchen und ist nicht mehr zurückgekommen. Ich stelle mir gerade vor, wie wir früher gemeinsam geflogen sind:
Obwohl ich ein ausgezeichneter Flieger war und bin, hatte ich keine Chance gegen Femina. Geschickt stellt sie die Flügel in den Wind, ihre flauschigen kurzen Flugfedern stellen sich quer und erhöhen somit die Aerodynamik und auch die Geschwindigkeit und ohne Mühe überholt sie mich und lächelt mir mit vollem Genuss zu. Ihr beim Flug zuzusehen ist wirklich ein Genuss, es ist die Perfektion der Schöpfung und der Beherrschung des Luftraums, der gleich unter dem Himmel kommt. Stundenlang könnte ich ihr zusehen, ohne zu merken, dass ich an Höhe verliere und gegen einen Baum pralle. So ist es passiert, wenn man nicht aufpasst, und mit den Gedanken im Himmel verweilt. Ich stürze zu Boden und lande unsanft zwischen den Steinen, doch ich rolle mich ab und stehe ganz starr auf meinen Krallen. Verwirrt schaue ich um mich: was ist passiert? In diesem Moment höre ich ein Rauschen, ein Flügelschlagen und wie ein Blitz kommt sie angeflogen und landet sicher neben mir. „Ist dir was passiert?“, fragt sie erschrocken. Da beginne ich zu lachen und meine nur, dass man den Weibern nie zu lange nachschauen sollte. Dafür handle ich mir einen Pecker an meinem Adlerohr ein. „Frechdachs, du kleiner Frechdachs“, zwitschert sie zu mir und schon erhebt sie sich wieder in die Lüfte „Na warte, ich werde dich gleich einholen“, und erhebe mich ebenfalls vom Boden mit zwei Flügelschlägen. „Das schaffst du nie“, grinst sie zurück. Das werden wir ja sehen, ich habe trainiert und an meinem Luftwiderstand gearbeitet, außerdem ist meine Spannweite größer, und das verschafft mir im Gleitflug große Vorteile. Alles versuche ich um sie einzuholen. Ich gebe mir die größte Mühe, nehme meine ganzen Kräfte zusammen. Der Abstand zu ihr wird weniger, drei, vier Flügelschläge und ich habe sie eingeholt. Wie bei einem Wettrennen zischen wir hintereinander dahin. Schnabel an Schwanzfeder, und Kralle an Kopfschmuck. Jetzt, genau jetzt hole ich Femina ein, und setze zum Überholen an, doch leicht wie der Wind erhöht sie ihre Geschwindigkeit. Doch ich gebe mich nicht geschlagen, schließlich bin ich der König der Lüfte. Ich lege meine Brustfedern an, ziehe meine Füße zurück und lege die Krallen hinter die Federn, außer meiner großen Kaiserkralle, auch Kaisersporn genannt, ist nichts mehr zu sehen. Die Flügel werden als Seitenruder leicht in den Flugwind gestellt, und wirklich, es funktioniert, ich hole auf und bin noch nie so eine hohe Geschwindigkeit geflogen. „Gleich, gleich habe ich dich“, denke ich. Es geht nicht um das Überholen, sondern um das Austesten meiner Grenzen, denn schließlich sind wir aufeinander angewiesen, und es ist egal, ob ich der Kaiser und sie die Kaiserin ist, oder umgekehrt. Und da passiert es, in dieser Sekunde gehe ich an ihr vorbei. In diesem Moment leuchtet vor mir ein Blitz auf, helles, grelles Leuchten versperrt mir die Sicht. Meine Augen sind starr und sehen nichts. Es ist nicht nur grell und tut weh, auch meine Flügel sind erstarrt und rudern nicht mehr. Da ist es wieder, wie so oft zuvor. Dieses Licht und diese Energie durchdringen meinen Körper. Ich verliere an Höhe und gehe zu Boden. Kurz davor besinne ich mich, dass ich ja ein Vogel bin und Flügel besitze. Ich schlage wild um mich, und kann das Schlimmste verhindern. In diesem Moment erwache ich aus meinem Traum, und bin froh, ruhig dahinfliegen zu können. Doch es war kein Traum. So und nicht anders ist es geschehen.
Das waren Zeiten, und eine Träne rinnt mir über die Wange, so wird es nie mehr sein. Viel zu lange ist sie verschwunden, und sie wird nie mehr zurückkehren. Was mir bleibt, sind die Erinnerungen und die Erlebnisse, das gemeinsame Jagen und das majestätische Herrschen hier in unserem Reich. Lange wird es sowieso nicht mehr dauern, dann ist auch dieses Reich Vergangenheit, denn wenn ich nicht bald etwas zu fressen bekomme, sterbe ich an Hunger, und ich bin der Letzte meiner Art. Vorbei ist die Zeit der Üppigkeit, wo ich aus dem Vollem geschöpft habe, ein Reich der Fülle und Nachhaltigkeit, alles vorbei. Vielleicht ist dies mein letzter Flug, wer weiß, und er wird lange dauern, denn hier ist nichts mehr zu holen, alles kahl und abgestorben, alle anderen Tiere sind entweder verendet oder haben das Reich verlassen, auf der Suche nach Nahrung. Oft habe ich mich gefragt, was wohl schuld an diesem Sterben ist. Das Klima kann es nicht sein, denn mir war schon lange nicht mehr kalt. Es ist alles grün und wächst auch gut. Es wachsen sogar Bäume in großer Seehöhe, wo früher keine Bäume standen. Zugegeben, obwohl die Sonne scheint, ist die Sicht meist trüb und diesig, schon lange habe ich keinen klaren Ausblick mehr von meinem Horst gehabt. Die Luft ist so aufgeladen und fühlt sich beim Fliegen spießig und voller Widerstand an. Komisch schauen die großen Schüsseln und Kugeln aus, welche die Menschen überall aufgestellt haben, sogar auf meinem Gipfel steht so eine Anlage. Zum Himmel ausgerichtet, so als steht sie auf Empfang. Zu nahe darf man den Dingern sowieso nicht kommen. Jedes Mal, wenn ich das Energiefeld streife, erhalte ich einen elektrischen Schlag, welcher sich sehr unangenehm anfühlt. Am Boden dieser Stätten herrscht das Grauen, alles ist abgestorben, verdorrte Kadaver liegen angehäuft dort, wahrscheinlich von den abgestürzten Vögeln und Tieren, welche dem Ding zu nahe gekommen sind. Von oben aus sehe ich die dürren Kreise, welche jetzt auch die Landschaft zieren. Menschen sind nicht zu finden. Sie haben sich in die großen Städte zurückgezogen und laufen maskiert mit ihren Empfangsgeräten umher. Ist mir eh lieber so. Ich mag die Menschen nicht, sie nehmen sich alles, was sie brauchen, und haben mich früher in meiner Welt gestört. Doch jetzt sind die Menschen weg, die Tiere weg und auch meine Femina ist weg. So ungestört war ich noch nie, aber auch nie so alleine. Laut ertönt mein Adlerruf: „Grrr … grrr … grrr.“ Sanft lande ich in meinem Horst. Es ist so einsam und verlassen hier. Was soll ich nur tun? Majestätisch blicke ich zum Himmel, der letzte Kaiser ohne Herrschaft. Ich schließe meine Augen und blicke in ein Nichts. Mit einem Mal erscheint ein tiefes Blau, und ich höre ein Rufen aus der Ferne, es klingt fast wie Feminas Ruf, der verzweifelt versucht gehört zu werden. Er hört sich fast an wie: „Gib nicht auf, gib dich nicht auf!“ Weit draußen sehe ich den Schatten eines Vogels, nein, eines Adlers empor steigen, immer wieder ruft er: „Gib nicht auf, vertraue deinem Gefühl, gib nicht auf!“ Laut schreie ich zurück: „Ich habe Angst, ich traue mich nicht, ich werde abstürzen!“ Ganz deutlich höre ich jetzt die Stimme, welche lachend klingt: „Was, der Kaiser hat Angst?“ Und wie antworte ich darauf? „Ich habe Angst vor dem Sterben, denn eine andere Perspektive sehe ich nicht!“ In diesem Moment zischt eine Sturmbö vorbei, und auf dieser reitet eine große Gestalt in Form eines Adlers, welcher laut kreischt und ruft: „Du wirst leben, du wirst alles wieder zum Leben erwecken, verlass deinen Horst und flieg hinein ins Leben!“ So wie sie gekommen war, verschwand die Sturmbö auch wieder, alles ist wieder ruhig. Ich öffne meine Augen, starr blicke ich hinaus auf dieses Land, und weiß, was ich tun werde. Ich breite meine Flügel aus und hebe ab, umkreise noch einmal meinen Horst und kehre ihm den Rücken zu. In Gedanken weiß ich, dass er jetzt ausgedient hat. Geradewegs nach Süden nehme ich den Kurs auf, und rufe dabei laut: „Femina, wo bist du?“